10 Jahre Volksentscheid Tempelhofer Feld: Simulierte Beteiligung
Vor zehn Jahren wurde per Volksentscheid entschieden, dass das Tempelhofer Feld nicht angetastet werden darf. CDU und SPD wollen das nicht hinnehmen.

„Ganz besonders ist am Feld, dass dort alle Gesellschaftsschichten zusammenkommen können – und das bis jetzt immer friedlich“, sagt Anita Möller von der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“. Mehr noch, so Möller weiter: Das Feld sei auch ein Ort mit „großer Bedeutung für das Stadtklima“. Eine einzigartige Freifläche, die „einen wichtigen Beitrag für die Stadtnatur und die Erholung aller Besucher:innen“ leistet.
Nicht zuletzt Anita Möller und ihren Mitstreiter:innen ist es dabei zu verdanken, dass es ebendiese einzigartige Fläche überhaupt noch gibt. Es war ihre Initiative, die vor zehn Jahren, am 25. Mai 2014, dafür gesorgt hatte, dass die Berliner:innen bei einem Volksentscheid darüber abstimmen konnten, was mit dem Areal des ehemaligen Flughafen Tempelhofs geschehen soll.
Und das Ergebnis war eindeutig: Fast 750.000 von mehr als 1,1 Millionen Wähler:innen sprachen sich für den von der Initiative vorgesehenen Schutz des Feldes und gegen jegliche Bebauungsfantasien aus – eine deutliche Abstimmungsmehrheit von fast 65 Prozent.
„Behutsame Randbebauung“
Tatsächlich waren die Nachnutzungsideen der damaligen Landesregierungen bereits weit gediehen. 2017 sollte auf dem Feld die Internationale Gartenbauausstellung stattfinden, 2020 dann die Internationale Bauausstellung. Eine Randbebauung mit rund 5.000 Wohnungen stand ohnehin auf der Agenda. Bis per Volksentscheid alle Pläne gekippt wurden.
Genau ein Jahrzehnt später heizt der aktuelle schwarz-rote Senat die Debatte um das Tempelhofer Feld erneut an. Mit einem internationalen städtebaulichen Wettbewerb sollen perspektivisch die „Möglichkeiten einer behutsamen Randbebauung“ ausgelotet werden. So steht es im Koalitionsvertrag.
„Ich kann den Berlinerinnen und Berlinern nicht erklären, dass ich Innenhöfe bebauen muss, aber eine Riesenfläche frei halte“, hat der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) die Linie schon mal festgezurrt.
Zuvor wollen CDU und SPD aber reden. Oder besser: reden lassen. In drei sogenannten Dialogwerkstätten sollen zufällig ausgeloste Menschen aus ganz Berlin an einen Tisch gebracht werden. Sie sollen diskutieren, Fachleute anhören, Ideen erarbeiten und diese am Ende an der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen überreichen.
Dialogprozess statt Volksentscheid
Das Beteiligungsformat unterscheidet sich deutlich von direktdemokratischen Verfahren wie einem Volksentscheid, bei dem nicht debattiert und abgewogen, sondern mit einem klaren Ja oder Nein abgestimmt wird.
Anfang 2022 tagte mit dem Berliner Klimabürger:innenrat ein ähnliches Forum. 100 Personen erarbeiteten damals 47 Empfehlungen für künftige Klimapolitik. Wie nun beim Tempelhofer Feld wurden auch die Klimabürger:innen per Losverfahren ausgewählt, um allen Berliner:innen die gleichen Chancen auf eine Teilnahme einzuräumen.
Vor Kurzem haben 20.000 ebenfalls zufällig geloste Berliner:innen Einladungen erhalten, sich am Dialogprozess zum Feld zu beteiligen. Aus den Rückmeldungen werden dann wiederum bis zu 275 ausgelost, wobei auf Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Migrationshintergrund und Wohnort geachtet werden soll, damit die Teilnehmenden möglichst die gesamte Stadtgesellschaft widerspiegeln.
Der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ stößt das komplette Vorhaben bitter auf. Sprecherin Anita Möller sagt: „Die Pläne des Senats sind vorgeschoben, unehrlich und demokratiegefährdend.“ Dies umso mehr, als die Frage, ob das Feld bebaut werden soll oder nicht, gar nicht auf der Tagesordnung der Dialogwerkstätten steht.
Anita Möller, „100 Prozent Tempelhofer Feld“
Wie der Regierende Kai Wegner hatte auch Bausenator Christian Gaebler (SPD) von Beginn an deutlich gemacht, dass er wenig davon hält, das Tempelhofer Feld so zu belassen, wie es momentan ist. „Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Dialogwerkstatt treffen keine Entscheidung darüber, ob das Tempelhofer Feld an den Rändern bebaut wird oder nicht“, stellte er Ende April dann auch noch einmal klar.
Das alles widerspreche den Berliner Leitlinien für Bürger:innenbeteiligung, ärgert sich Hendrikje Klein. Sie ist Sprecherin für Bürger:innenbeteiligung der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Für Klein steht fest: „Dadurch, dass die Diskussion auf einen Aspekt, nämlich das Wie einer Randbebauung begrenzt wird, werden die Leitlinien ad absurdum geführt.“
Bebauung des Feldes nicht notwendig
Aber braucht es nicht dringend neuen Wohnraum in Berlin? Dauerhafter Zuzug, ungebremster Mietenanstieg: Das Argument des schwarz-roten Senats, mehr Wohnraum würde die Mieten senken, scheint auf den ersten Blick schlüssig. Allerdings brauche es dafür überhaupt nicht die Flächen auf dem Tempelhofer Feld, heißt es von Kritiker:innen.
CDU und SPD nehmen die Wohnungsnot zum Anlass, den Bürger:innenwillen von 2014 zu ignorieren, sagt auch Linken-Politikerin Klein. „Der Eindruck, der erweckt wird, dass die Bebauung des Tempelhofer Feldes die Wohnungsnot löst, ist die totale Irreführung.“ Klein plädiert stattdessen für einen echten Mieter:innenschutz, eine Deckelung der Mieten und dafür, den erfolgreichen Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ endlich umzusetzen.
Um herauszufinden, wie hoch der Bedarf an Wohnungen in der Hauptstadt künftig sein wird und wo neue Wohnungen gebaut werden können, genügt eigentlich ein Blick in den Entwurf des Stadtentwicklungsplans Wohnen 2040. Dort werden Flächen für fast 250.000 Wohnungen ausgewiesen.
Das sind fast 30.000 mehr als die 222.000 Wohnungen, deren Bau laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bis 2040 nötig wären. Das Tempelhofer Feld ist nicht darunter. Der Bedarf könnte also auch ohne eine Randbebauung des Feldes gedeckt werden.
Bedrohung von Stadtnatur und Freizeitangeboten
Sollten sich trotzdem irgendwann Baukräne am Rand des Felds drehen, wäre dabei nicht nur ein besonderer Ort Stadtnatur bedroht, sondern auch das vielfältige Sport-, Kultur- und Freizeitangebot, das hier über die Jahre entstanden ist.
Anita Möller von „100 Prozent Tempelhofer Feld“ betont, es gebe über 25 verschiedene Projekte, die durch Bürger:innenbeteiligung gewachsen seien. Diese sollen ausgebaut werden, auch wenn nach dem Willen der Initiative dafür keine festen Gebäude errichtet werden dürfen.
Klar ist: Wie das Tempelhofer Feld in den kommenden Jahren weiterentwickelt wird, ist offen. Es wird von den Teilnehmenden des Dialogprozesses, aber auch vom Engagement der restlichen Stadtgesellschaft abhängen. Hendrikje Klein stellt sich das Feld in zehn Jahren als eine „weiterhin weltweit einzigartige Grünfläche“ vor, offen für alle Berliner:innen, für Sport und Freizeit – und mit dem einmaligen Blick über das Wiesenmeer.
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