10 Jahre „Istanbul-Konvention“: Deutschland weiter mangelhaft
Seit 2011 gibt es die Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Hierzulande ist sie längst nicht umgesetzt.
Ende April wird die Polizei in eine Wohnung in Hamburg-Horn gerufen, dort finden sie eine durch Messerstiche im Hals getötete 40-jährige Frau. Dringend tatverdächtig ist ihr Ehemann, er wurde in Polizeigewahrsam genommen, die Mordkommission ermittelt. Es ist eine von vielen Frauen in Deutschland, die dieses Jahr mutmaßlich Opfer eines Femizids geworden ist. Also getötet wurde, weil sie eine Frau ist – oder, besser gesagt: getötet wurde, weil der Täter frauenfeindlich ist.
Laut Bundeskriminalamt wird allein jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet. 117 weibliche Opfer von tödlicher Partnerschaftsgewalt nennt das BKA für 2019 – mehr als dreimal so viele wie männliche Opfer. Hinzu kommen Tötungsdelikte, bei denen die Täter nicht aus dem Nahverhältnis stammen. Verlässliche Zahlen zu Opfern aus sexistischen Tatmotiven gibt es nicht, was auch daran liegt, dass Femizide kein eigener Straftatbestand in Deutschland sind.
Femizide folgen meistens auf eine längere Eskalation von Gewalt. In den meisten Fällen ist es zuvor zu häuslicher oder sexualisierter Gewalt gekommen. Und die nimmt in Deutschland zu. Laut aktueller Recherchen der Welt am Sonntag sind im vergangenen Jahr 158.477 Opfer von häuslicher Gewalt durch den (Ex)-Partner polizeilich erfasst worden, gut zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Das entspricht einem Anstieg von 6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch das Dunkelfeld bei häuslicher und sexualisierter Gewalt ist enorm – die Fälle bleiben höchstwahrscheinlich größtenteils unsichtbar.
Dass Frauen in Deutschland nicht mehr gefährlich leben, das sollte die sogenannte Istanbul-Konvention erreichen. Ein völkerrechtlicher Vertrag, der vor genau zehn Jahren, am 11. Mai 2011, ausgearbeitet wurde. Ein Meilenstein im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, der vier Dinge garantieren soll: besseren Schutz, Prävention, Bekämpfung und Verurteilung von Gewalt gegen Frauen und andere Menschen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind. 46 Staaten haben die Konvention bislang unterzeichnet, in 34 Ländern wurde sie ratifiziert.
Erdoğan: schlimm – Deutschland: lange nicht gut
Als die Türkei im März dieses Jahres aus der Konvention ausstieg, war das Entsetzen auch hierzulande groß. Politiker:innen empörten sich. Erdoğans Dekret, aus der Konvention auszusteigen, ist ein misogyner und menschenfeindlicher Akt. Das klar zu benennen ist wichtig, sich mit Frauen und Queers in der Türkei solidarisch zu zeigen ein Muss. Ebenso wie mit denen in Polen, wo die Konvention von vielen Seiten angegriffen wird. Denn ein Aus für die Istanbul-Konvention bedeutet konkret eine größere Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Frauen und anderen Menschen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind.
Doch dabei darf der Blick ins eigene Land nicht vergessen werden. Deutschland hat zwar die Istanbul-Konvention 2017 ratifiziert, im Februar 2018 ist sie gesetzlich in Kraft getreten. Doch umgesetzt ist sie auch jetzt, drei Jahre später, noch nicht vollständig.
Die Bundesregierung sieht das zwar anders – im September 2020 veröffentlichte sie einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, die Konvention sei in Deutschland gesetzlich umgesetzt. Aber das zivilgesellschaftliche Bündnis „Istanbul-Konvention“, das aus gut 20 Organisationen besteht, entgegnet, dass die bisherigen Schutzvorkehrungen noch lange nicht ausreichen. Besonders für geflüchtete, wohnungslose und behinderte Frauen sowie LGBTIQ sei der Zugang zu Prävention, Schutz, Beratung und Recht noch mangelhaft.
In Deutschland fehlt beispielsweise noch immer eine Koordinierungsstelle, wie sie der Vertrag vorschreibt. Ebenso fehlen Tausende Frauenhausplätze, wirksamere Maßnahmen gegen digitale Gewalt, sensiblere Ermittlungsmethoden bei geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Forschung und belastbare Daten zu Gewalt gegen Frauen, Kinder und Queers.
Es spitzt sich zu
Wie schwerwiegend die fehlende Umsetzung der Konvention ist, hat in den vergangenen Monaten die Covidpandemie gezeigt, in der die Situation von Frauen und LGBTIQ sich noch einmal verschlechtert hat. Nicht nur finanziell und psychisch, auch hinsichtlich Gewalt hat sich die Lage deutlich zugespitzt, das lassen Berichte von Frauenhäusern, Notruftelefonen und Untersuchungsstellen erahnen, wie auch die um 6 Prozent gestiegene Zahl von angezeigten Fällen häuslicher Gewalt.
Gerade jetzt also müsste dies höchste Priorität haben. Im Jahr der Bundestagswahl sollten Politiker:innen zeigen, dass das Bekämpfen von Gewalt gegen Frauen nicht nur eine Floskel ist. Dazu gehört die Umsetzung der notwendigsten Maßnahmen, die aus der Konvention hervorgehen. Doch wer ausreichenden Schutz vor Gewalt gewährleisten möchte, muss darüber hinausgehen. Es geht grundsätzlich um eine Politik, die Frauen und Queers schützt und von der übrigens auch hetero cis Männer profitieren würden.
Feminist:innen fordern seit Langem, dass mit gesetzlichen Änderungen ein gesellschaftliches Umdenken einhergehen muss. Ein Abbau von Stereotypen und patriarchalen Denkmustern, denen folgend viele Männer Frauen als ihr Eigentum ansehen. Das passiert nicht von alleine. Bei jeder politischen Entscheidung muss der Schutz von Frauen und Queers mitgedacht werden. Auch bei Themen, bei denen der geschlechtsspezifische Aspekt nicht auf den ersten Blick sichtbar wird.
Wohin, wenn sie ihn verlassen will?
Nur ein Beispiel: Das eigene Zuhause ist für Frauen noch immer der gefährlichste Ort, da die Täter meist aus dem Nahbereich stammen, also (Ex-)Partner, Väter oder andere Verwandte sind. Grundlegend für ein gewaltfreies Leben ist damit also ein sicheres eigenes Zuhause.
„Wenn dein Mann dich schlägt, dann verlass ihn doch einfach“ ist ein Argument, das einem in dieser Problematik immer wieder unterkommt. Doch neben dem emotionalen Aspekt vergessen hier diese Menschen vor allem den finanziellen. Damit eine Frau ihren gewalttätigen Mann verlassen kann, braucht sie das nötige Kapital.
Ökonomische Unabhängigkeit muss also hergestellt werden, bevor es überhaupt zu Gewalt kommt, dafür sind bessere Sozialhilfen nötig, Rentenpolitik gegen Altersarmut und Quoten am Arbeitsmarkt. Was patriarchale Rollen hingegen zementiert, muss weg, etwa das Ehegattensplitting. Und schließlich, aber nicht abschließend: Wohnraumpolitik ist grundlegend. Wer sich keinen eigenen leisten kann, bleibt in der Gewaltspirale gefangen – ein sicheres eigenes Zuhause hingegen ist eines der wirksamsten Mittel, um Frauen zu schützen. Die Forderung nach einem bundesweiten Mietendeckel ist also im Kern auch eine feministische.
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