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Wohnungsnot und Sozialpolitik„Das ist absoluter sozialer Sprengstoff“

Die Wohnungsnot ist das drängendste Problem Berlins, sagt Caritas-Chefin Ulrike Kostka. Von der Politik fordert sie mehr präventive Sozialpolitik.

Nothilfe gegen das Erfrieren: Kältehilfe-Einrichtung der Caritas Foto: Britta Pedersen/dpa

Interview von

Susanne Memarnia

taz: Frau Kostka, zu Beginn der Kältehilfe hatten die Wohlfahrtsverbände eine bessere Finanzierung von Präventionsangeboten gegen Wohnungslosigkeit gefordert. Ist der Senat dem nachgekommen?

Ulrike Kostka: Von besserer Finanzausstattung war gar keine Rede, es ging beim neuen Doppelhaushalt vor allem darum, überhaupt die Angebote zu erhalten. Das war ein ziemlicher Kampf – aber insgesamt ist es uns ganz gut gelungen. Was uns Sorge macht, ist, dass die Bezirke teilweise weniger Mittel zur Verfügung haben und es daher gerade bei kleineren Projekten zu Einschränkungen kommen wird. Zum Teil haben Projekte, die bezirklich finanziert sind, auch noch keine Zuwendungsbescheide fürs nächste Jahr. Das verunsichert natürlich.

Bild: Maurice Weiss
Im Interview: Ulrike Kostka

ist 54 Jahre alt. Seit 2012 leitet sie den Caritasverband für das Erzbistum Berlin als Direktorin und seit 2018 als Vorstandsvorsitzende. Sie vertritt 13.000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und 5.000 Ehrenamtliche, die unter dem Dach der Caritas in Berlin, Brandenburg und Vorpommern arbeiten.

taz: Die Caritas betreibt ja Beratungsstellen der ambulanten Wohnungslosenhilfe und der allgemeinen Sozialberatung. Wer kommt da so hin?

Kostka: Mittlerweile wirklich Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Denn es ist nicht immer nur eine Frage von Einkommen, sondern es geht um die Verfügbarkeit von Wohnraum überhaupt. Es kommen Menschen aus der Mittelschicht, weil sie vor einer Eigenbedarfskündigung stehen und keine Wohnung finden. Es kommen alte Menschen, die mit ihrer Rente Mieterhöhungen nicht mehr tragen können. Es kommen alleinerziehende Mütter, Familien. Teilweise haben die Menschen auch Probleme, die sich häufen, von Schulden bis Suchtproblematik.

taz: Man merkt die Wohnungsnot und steigende Mieten direkt in der Beratungsarbeit?

Kostka: Das merkt man total und beides sind absolute Hauptthemen in allen Beratungsstellen. In unserer Ehe- und Familienberatung hören wir zum Beispiel, dass Paare, die sich trennen wollen, das nicht können, weil sie keine zweite Wohnung finden. Bei sehr zerstrittenen Paaren kann das eine hohe Belastung sein. Gleichzeitig freuen wir uns auch, dass wir immer wieder Erfolg haben, Menschen in Wohnungen zu vermitteln.

taz: Wie das? Es gibt doch fast keine.

Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum muss an erster Stelle einer neuen Koalition nach den Wahlen im September stehen

Kostka: Es ist auch eine Frage von Kontakten. Wir sind gut vernetzt, arbeiten eng mit Wohnungsbaugesellschaften zusammen. Manche Hilfesuchenden können wir ins geschützte Marktsegment vermitteln, andere befähigen wir, Wohnungen zu suchen, indem wir helfen, dass sie wirklich alle nötigen Papiere für ihre Bewerbungen zusammenhaben. So können wir über 80 Prozent der Menschen, die kommen, unterstützen, eine Wohnung zu finden. Wahr ist aber auch: Jede Wohnung ist Goldstaub. Und deswegen ist das Allerwichtigste, dass die Wohnungen nicht verloren gehen – also die Prävention von Wohnraumverlust. Wenn eine Wohnung erst mal verloren ist, wird sie meistens teurer vermietet oder ist ganz weg vom Markt.

taz: Vor ein paar Monaten wurde bekannt, dass unter den rund 54.000 staatlich untergebrachten Menschen in Berlin 30 Prozent Kinder und Jugendliche sind. Hat Sie das überrascht?

Kostka: Nein. Ich habe schon vor etwa zehn Jahren bei einer Kältehilfe-Pressekonferenz davon gesprochen, dass auch Kinder und Jugendliche von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Das war damals ein absoluter Aufreger und wurde vehement abgelehnt. Aber es ist leider so. Wenn Familien wohnungslos werden, dann werden auch Kinder wohnungslos. Und in den Unterkünften der Stadt ist die Situation für Kinder absolut ungut, vor allem in den angemieteten Hostels und Pensionen, in denen es keine soziale Betreuung gibt. Solche Verhältnisse verringern natürlich die Startchancen der Kinder.

taz: Reagiert die Politik angemessen auf das Problem?

Kostka: Das Land hat teilweise reagiert. Es gibt inzwischen Unterkünfte speziell für Familien mit Kindern, es gibt auch Housing First für Frauen mit Kindern.

taz: Schön und gut, aber das sind kleine Projekte. Und wir reden von 15.000 Kindern und Jugendlichen.

Kostka: Ja, dazu zählen ja auch jene, die noch in Flüchtlingsheimen leben, obwohl sie längst ausziehen dürften, weil die Eltern einfach keine Wohnung finden. Das wird eben immer schwieriger. Die Sozialverwaltung geht davon aus, dass die Zahl der Wohnungslosen bis 2035 auf bis zu 90.000 steigen wird. Das ist absoluter sozialer Sprengstoff. Darum muss die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum an erster Stelle einer neuen Koalition nach den Wahlen im September stehen.

taz: Es gibt die Befürchtung, dass durch die neue Grundsicherung mit den schärferen Sanktionsregeln Verarmung und sogar Wohnungslosigkeit zunehmen werden. Teilen Sie das?

Kostka: Wir finden Sanktionierung schwierig. Einerseits ist es ein Problem, wenn Menschen ihre Termine nicht wahrnehmen. Es gibt immer ein Stück Eigenverantwortung, das leugnen wir nicht als Caritas, das entspricht unserem christlichen Menschenbild. Andererseits kann es gute Gründe geben für versäumte Termine – die Frage ist also, wie trifft man mit Sanktionen die richtigen. Letztlich muss es darum gehen, die Menschen in die Beratung zu bringen, die auch wirklich helfen muss, um in Jobs zu kommen. Auch ist der Fokus auf Sanktionen und das Thema Totalverweigerer falsch – das ist eine relativ kleine Gruppe.

taz: Und wenn 100 Prozent gekürzt wird, was sollen die Leute essen? Zumal ja in Berlin viele vom Regelsatz einen Teil der Miete zahlen, weil die Wohnung so teuer ist, dass das Jobcenter sie nicht ganz übernimmt.

Kostka: Ja, hier besteht das Risiko der Verelendung. Man wird sich das in der Realität angucken müssen. Eigentlich dürften die Sanktionen nicht den Teil des Regelsatzes betreffen, der für Miete draufgeht. Das müssten die Jobcenter wissen, die Miethöhe ist ja bekannt.

taz: Aber die Grundsicherung an sich ist hoch genug?

Kostka: Es ist schon schwierig, davon zu leben. Zwar wird der Regelsatz in einem wissenschaftlich informierten Verfahren begründet, aber immer nur rückwirkend. Und es gibt in vielen Bereichen ordentliche Preissteigerungen, daher sind einzelne Bereiche – etwa Schulausstattung – zu gering berechnet. Aber grundsätzlich ist es wichtig, dass der Satz nicht zu hoch ist, damit es Anreize für den Arbeitsmarkt gibt.

taz: Kommen wir zum Thema Kältehilfe: Die Caritas ist Gründungsmitglied und also 36 Jahre dabei. Wie läuft es dieses Jahr?

Kostka: Der Bedarf an Hilfeplätzen ist sehr hoch, steigt eigentlich jedes Jahr. Wir als Caritas haben das Glück, dass wir unsere Plätze, in Pfarrgemeinden, in katholischen Einrichtungen, auch tatsächlich zur Verfügung haben. Aber ich habe von anderen Trägern gehört, dass sie oft, wenn eine Unterkunft aus irgendwelchen Gründen nicht mehr genutzt werden kann, extreme Schwierigkeiten haben, etwas Neues zu finden. Daher sind wir froh, dass wir in Berlin wieder 1.000 Plätze zusammen bekommen haben.

taz: Und die reichen?

Kostka: Man sollte das nicht zu sehr ausdehnen. Das ist ein Erfrierungsschutz und nicht mehr. Unser Ziel ist nicht, lauter Notunterkünfte zu bekommen, das würde das Land zu sehr aus der Verantwortung nehmen. Es müssen ja die Ursachen der Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit bearbeitet werden.

taz: Im nächsten Jahr stehen in Berlin Wahlen an. Was erwarten Sie sich davon?

Kostka: Ganz wichtig ist, dass eine präventive Sozialpolitik an oberster Stelle der nächsten Landesregierung steht. Sozialpolitik ist für mich sehr umfassend, betrifft auch Wohnungspolitik, Gesundheitspolitik. Zum anderen: Berlin muss einfach besser funktionieren. Die Sozialämter sind überlastet, es gibt eine wahnsinnige Bürokratie, durch die zu viel verpufft. Dazu das Gewurstel in der Haushaltspolitk, das Träger Energie kostet und verunsichert. Ich wünsche mir ein besseres administratives Funktionieren, das würde auch Ressourcen freimachen für mehr Hilfen.

taz: Bessere Verwaltung versprechen alle, bessere Sozialpolitik vor allem die Linken. Wie ist das: Muss man als Christin nicht automatisch links sein?

Kostka: Ich schätze es sehr, dass wir überparteilich sind. Wir haben schon hervorragend mit den Linken zusammengearbeitet und tun das nach wie vor. Aber wir arbeiten auch mit anderen Parteien gut zusammen. Unsere Forderungen stellen wir an alle demokratischen Parteien. Und natürlich muss immer Sozial- und Haushaltspolitik miteinander verknüpft werden, man muss seine Forderungen ja realpolitisch umsetzen können. Das ist die Kunst in der Politik.

taz: Es gibt ja den Spruch von Jesus, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt. Wie kann man das anders interpretieren, als dass eine echte Umverteilung stattfinden muss?

Kostka: Das ist erst mal ein Bild, das sagt, vor Gott sind alle Menschen gleich. Alle Menschen verdienen die gleichen Chancen und müssen die gleichen Rahmenbedingungen haben. Aber die Realität ist eine andere. Die Frage ist vor allem: Wie können diese Ungleichheiten für Kinder und Jugendliche ausgeglichen werden?

taz: Dafür ist doch Politik da, oder?

Kostka: Ja, das ist eine politische Verantwortung und man muss an Fragen der Umverteilung denken: Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, da gibt es verschiedene Hebel. Aber es geht auch darum, was Kindern aus armen Familien etwa in der Schule zugetraut wird – oder auch armen Erwachsenen. Wir haben viele in der Caritas, die uns unterstützen und selbst wenig haben. Zugleich gibt es viele Menschen, die Vermögen haben oder Erbschaften und das sinnstiftend einsetzen wollen. Was ich sagen will: Wir werden mit einer rein materiellen Umverteilung nicht die Gesellschaft komplett ändern.

taz: Wie meinen Sie das?

Kostka: Zum Beispiel hatten wir kürzlich unsere Weihnachtspäckchen-Aktion, bei der 4.800 Päckchen gepackt wurden für unsere Einrichtungen. Da kamen die unterschiedlichsten Ehrenamtlichen zusammen: Menschen, die selber Grundsicherung bekommen, arbeiten Seit an Seit mit jemandem vom Lions Club. Hier sehen wir uns als Caritas in einer wichtigen Rolle: Teilhabe ermöglichen, Menschen zusammenbringen, dass sie sich gesehen fühlen und sich selbstwirksam erleben. Das sind alles so kleine Bausteine, die nicht heute die Welt verändern, aber ein Stück zur Veränderung beitragen.

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3 Kommentare

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  • Wenn man Bauen und Nebenkosten, letztlich immer auch Heizen, unbezahlbar macht sind die die es nicht mehr bezahlen können am Ende "auf der Straße".

    So einfach ist das.

    Es sind 60% aller deutschen Haushalte Mieter-Haushalte.

    Die Privatieisrungswellen welche um die 2000er die kommunalen und sonstwie staatlichen Wohnungsgesellschaft an Vonovia und Deutsche Wohnen "verschwerbelt" haben ...



    ... die haben die Mietkostenexplosion befördert.

    Also Handeln:

    GEG ersatzlos streichen -- bauen und Renovieren ist schon teuer genug.

    Wider staatlich-kommunalen Wohungbau aufbauen um die Mietspiegel "zu drücken" und Wohnungsangebot zu schaffen.

    Und bauen, bauen, bauen.

    --> Alles andere sind Lippenbekenntnisse ohne Wert

  • Es wollen immer mehr Leute in Berlin leben. Die Fläche ist aber nicht unbedingt vermehrbar und man kann auch nicht unbedingt in die Höhe bauen. Man kann zwar hier und da ein bisschen optimieren, aber es ist ein systemisches Problem. Daher wird die Wohnungnot immer schlimmer werden.

  • "....man muss seine Forderungen ja realpolitisch umsetzen können. Das ist die Kunst in der Politik."

    Wenn die (c)DU keine Sozialpolitik macht, ist das keine Kunst sondern Machtmissbrauch.

    "Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, da gibt es verschiedene Hebel." Ach ja?



    "Was ich sagen will: Wir werden mit einer rein materiellen Umverteilung nicht die Gesellschaft komplett ändern."



    Ach nein?



    Caritas und herzensgute Vermögende werdens richten. Alles klar.