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Irina Scherbakowa Unendliche GeschichteBraucht Wladimir Putin einen neuerlichen „Großen Terror“?

Foto: privat

Am 5. August 1937 begannen in der Sowjetunion die blutigsten Säuberungen der Stalin-Ära. Sie dauerten bis November 1938 an. In der Publizistik wird diese Kampagne als „Großer Terror“ bezeichnet; im Volksmund als „1937“.

Dank der in den 1990er geöffneten Geheimarchive weiß man, dass es sich dabei um eine gigantische Repression handelt, die alle Regio­nen und sozialen Schichten erfasste: 1,7 Millionen Menschen wurden verhaftet, 700.000 davon erschossen.

Die „Operationen“ 1937 waren sorgfältig geplant. In geheimen Befehlen des NKWD wurden Fristen für ihre Durchführung, zu „säubernde“ Kategorien, die Sollzahlen für Verhaftungen festgelegt. Im Rahmen der „nationalen Operationen“ wurden Zehntausende wegen ihrer polnischen oder deutschen Herkunft verhaftet, 20.000 Frauen als Ehefrauen von „Vaterlandsverrätern“ in den Gulag geschickt, ihre Kinder in Waisenhäuser überführt. Urteile wurden im Schnellverfahren durch speziell gebildete „Troikas“ gefällt, während der Verhöre wurde systematisch Folter eingesetzt.

Der Terror verlief im Geheimen. Die sowjetischen Behörden verbreiteten Lügen über das Schicksal der Erschossenen. Es hieß, sie seien in die Lager „ohne Recht auf Briefverkehr“ gebracht worden. Später wurden falsche Sterbeurkunden ausgestellt, die Krankheiten im Gulag als Todesursache angaben.

Überall fanden Kundgebungen statt, die die Hinrichtung von „Volksfeinden“ forderten. Kinder sollten sich von verhafteten Eltern lossagen, Frauen von ihren Männern. „1937“ machte selbst die Täter zu Opfern: auch jene, die die Repressionen durchführten, wurden verurteilt. Jedoch nicht wegen der von ihnen verübten Verbrechen.

„1937“ stellte die Linken im Westen vor eine zynische Wahl zwischen Stalin und Hitler (ein markantes Beispiel ist das Buch „Moskau 1937 von Lion Feuchtwanger, der die Moskauer Prozesse rechtfertigte) und zwang sie, über die Schicksale politischer Emigranten zu schweigen, die in der Sowjetunion Zuflucht suchten und zu Opfern Stalins wurden.

Postmoderne Kopie des Stalinismus

Seither ist die Meinung zu „1937“ zu einem politischen Indikator geworden, der weniger über die Vergangenheit als vielmehr über die Gegenwart Auskunft gibt. In den früheren Jahren Putins gab es hier eine gewisse Ambivalenz. Man leugnete nicht, dass es den Massenterror gab, doch von der Verantwortung des Staates oder seines Hauptorganisators war kaum die Rede.

In der Folge sollte sich in der Politik immer deutlicher das unbewältigte Erbe von „1937“ zeigen – etwa in der Idee einer „feindlichen Umzingelung“, der Suche nach „Feinden“ im Ausland und einer „fünften Kolonne“ im Inneren.

Mit der Verschärfung der Repressionen und dem Ausbau des Sicherheitsapparates verschwand die Ambivalenz des Putin-Regimes. Es begann sich immer mehr als eine Art postmoderner Kopie des Stalinismus darzustellen. Die Debatte kam auf: Wo stehen wir, ist es noch 1934 oder bereits 1937?

Heute werden nicht nur Oppositionelle verhaftet, sondern auch putintreue Staatsbeamte oder Unternehmer. Es wird Folter angewendet und es werden drakonische Strafen verhängt. Vor dem Hintergrund der schwächelnden Wirtschaft und des erfolglosen Krieges versucht Putin, sich als Nachahmer von Stalin zu inszenieren, um so seinen Namen mit Sieg und Kampf gegen „korrupte Eliten“ zu verbinden. Wie einst Stalin lässt er sich in seiner Moskauer Kreml-Wohnung zeigen, wach bis tief in die Nacht, bescheiden Kefir trinkend.

Dabei bemüht man sich, das Original zu rehabilitieren. In einem Gesetz von 1991 fehlt die Formulierung über den Massenterror. Und Sjuganows Kommunisten gehen aktuell noch weiter. Auf ihrem Parteitag beschlossen sie, Chruschtschows Rede vom 20. Parteitag, die „1937“ verurteilte, nicht anzuerkennen.

Irina Scherbakowa ist Vorsitzende der Organisation „Zukunft Memorial“.

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