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Weniger Verkehrstote in HelsinkiTempo 30 rettet Leben

Kerstin Finkelstein
Kommentar von Kerstin Finkelstein

In Helsinki gibt es seit einem Jahr keine Verkehrstoten. Das wundert nicht, wenn man weiß, dass in der Stadt flächendeckend ein Tempolimit gilt.

Probier's mal mit Gemütlichkeit: Tempo 30 Foto: wassilis aswestopoulos/imago

S eit über einem Jahr ist in Helsinki kein Mensch mehr im Straßenverkehr ums Leben gekommen. In einer europäischen Hauptstadt! Das ist kein Wunder: Die Stadt hat im Jahr 2004 unter anderem Tempo 30 flächendeckend eingeführt – und damit bewiesen, dass Sicherheit auf der Straße kein utopisches Ziel ist, sondern schlicht eine Frage des politischen ­Willens.

In Deutschland dagegen hat sich – trotz Gesetzesnovellierungen – nichts an der geistigen Grundhaltung geändert: Autoverkehr first. Wer zu Fuß geht oder Rad fährt, soll gefälligst aufpassen – an der Ampel, auf der Mittelinsel, vor dem Zebrastreifen. Dabei ist seit Langem bekannt, dass Tempo 30 Leben rettet: Nicht nur der Anhalteweg halbiert sich im Vergleich zu Tempo 50. Auch die Überlebenschance bei einem Zusammenstoß vervierfacht sich. Nebenbei sinkt der Lärmpegel, die Luft wird besser und die Straßen werden ein nutzbarer Raum für alle.

Besonders Kinder und ältere Menschen profitieren: Kinder können Geschwindigkeiten kaum einschätzen und reagieren spontan. Ältere sehen und hören schlechter, reagieren langsamer und stellen schon heute die am stärksten gefährdete Gruppe unter den getöteten Fuß­gän­ge­r:in­nen und Radfahrer:innen. Und da Se­nio­r:in­nen bald die größte Wählergruppe sind, besteht vielleicht Hoffnung von dieser Seite: Wenn schon keine kinderfreundliche Städte, dann wenigstens seniorengerechte? Tempo 30 hilft beiden.

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Und was bringt Tempo 50? Auf zehn Kilometer spart ein Autofahrender im Stadtverkehr im Schnitt weniger als drei Minuten. Dafür gibt’s mehr Lärm, Stress, Abgase. Und deutlich mehr Unfälle. Trotzdem müssen Kommunen Tempo 30 begründen, zum Beispiel durch mehrere Unfälle, die durch erhöhte Geschwindigkeit zustanden kamen. Es ist, als würde man Rauchmelder erst genehmigen, wenn es schon gebrannt hat.

Wer Städte lebenswerter machen will, muss das Dogma der Autodurchfahrt endlich überwinden. Helsinki hat vorgemacht, wie das geht. Deutschland könnte sich was ­abschauen.

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Kerstin Finkelstein
Dr. phil, Expertin für Verkehrspolitik und Migration. Studium in Wien, Hamburg und Potsdam. Volontariat beim „Semanario Israelita“ in Buenos Aires. Lebt in Berlin. Fährt Fahrrad. Bücher u.a. „So geht Straße“ (Kinder-Sachbuch, 2024), „Moderne Muslimas. Kindheit – Karriere - Klischees“ (2023), „Black Heroes. Schwarz – Deutsch - Erfolgreich“ (2021), „Straßenkampf. Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ (2020), „Fahr Rad!“ (2017).
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13 Kommentare

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  • Flankierend dazu sollte man das Tempolimit von e-bikes/Pedelecs auf 30 km/h heraufsetzen. Im Verkehrsfluss wäre man dann auch kein Hinderniss mehr, sondern könnte schick mit den Autos die dann auf 30 km/h Höchstgeschwindigkeit ausgelegte grüne Welle surfen.

  • Das ist eine sehr vernünftige Maßnahme. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Menschen in Finnland deutlich disziplinierter fahren als hierzulande. Die Geschwindigkeitsvorschriften werden respektiert - hier werden sie ignoriert. Und wer sich Raserei erlaubt, der darf mit saftigen Strafen rechnen. Das hilft gewaltig - hier wird das alles als "Freiheitsberaubung" heruntergespielt

  • Äpfel mit Birnen.



    Gestern schon der schiefe Vergleich zwischen Helsinki und Frankfurt hier in der taz...



    Ja, Helsinki und Frankfurt haben ungefähr gleich viele Einwohner (680.000 zu 750.000)und sie sind beide ähnlich dicht bebaut, ca 3.000 Einwohner pro Quadratkilometer.



    Aber das wars dann auch. Nach Frankfurt pendeln nämlich täglich knapp 500.000 Menschen ein. Im Frankfurter Ballungsraum leben über 2,5 Millionen Menschen. Dazu zentrale Transportwege die sich in Frankfurt kreuzen, ein Fernbahnhof von landesweiter Bedeutung, ein riesiger Flughafen mit 60 Millionen Passagieren und 2 Millionen Tonnen Luftfracht im Jahr. Das schafft alles enorm viel Verkehr.



    Um Helsinki herum leben gerade mal 1 Million Menschen, es gibt keinen riesigen Fernbahnhof, der Flughafen wurde von 16 Millionen Menschen und 200.000 Tonnen Fracht frequentiert...



    Das Verkehrsaufkommen zwischen Frankfurt und Helsinki ist in keinster Weise vergleichbar.



    Das ist kein Plädoyer gegen Tempo 30, aber bitte vergleicht doch Städte miteinander, die eine ähnliche wirtschaftliche Bedeutung und Frequentierung haben. Frankfurt und Helsinki ist wie Sonne und Mond

  • Von flächendeckend Tempo 30 in Helsinki kann keine Rede sein. Gestern berichtete die taz dass Tempo 30 auf der Hälfte der Straßen der Stadt gilt. Das dürfte in jeder deutschen Stadt auch der Fall sein.



    Der Kommentar biegt sich die Wahrheit zurecht, um willkürliche Forderungen aufzustellen.

    • @MK:

      1. in dem von ihnen erwähnten Kommentar steht MEHR als die Hälfte



      2. das trifft auf die wenigsten Deutschen Städte zu



      3. es ändert nichts an der Tatsache, dass der Grund für weniger Verkehrstote hier definitiv auf das Tempo 30 zurückzuführen ist was mich zum nächsten Punkt führt



      4. die Forderung nach mehr Tempo 30 ist keineswegs willkürlich sondern Faktenbasiert

      hier wird sich garnichts zurechtgebogen

      • @PartyChampignons:

        Zu 2. wurden hier ja schon Zahlen genannt. Die Mehrheit der Wohnstraßen in Deutschland hat mittlerweile Tempo 30.

        In Helsinki fällt aber noch etwas auf: die sehr hohe Zufriedenheit mit dem ÖPNV.

    • @MK:

      Nicht in jeder deutschen Stadt, aber in vielen das stimmt.



      .



      Es feheln eben die anderen komplementären Maßnahmen.



      .



      In Helsinki wurde nicht nur die Anzahl der auf 30km/h beschränkten Straßen erhöht.



      .



      Straßen wurden schmaler, der ÖPNV und Radinfrastruktur wurde ausgebaut und vermutlich mit am wichtigsten... es wurden neue Radarfallen aufgestellt.



      .



      Weil was nützt einem ein Tempolimit, wenn es nicht kontrolliert wird?



      .



      Helsinki versucht seit Jahren den Autoverkehr stück für stück immer weiter zu reduzieren, ein anderes gutes Beispiel ist Barcelona.

    • @MK:

      Wenn ich mal mit dem Auto in der Stadt (Norddeutschland, 220 000 Einwohner) unterwegs bin, komme ich kaum auf 30 im Mittel. Aus Angst vor Radarfallen wird bei 50 erlaubt gerade mal 40 gefahren, zumal man an jeder Ampel, also alle 200 Meter, steht.



      Insofern haben wir bereits eine 30er Zone. Wenn möglich fährt man also mit dem Fahrrad. Alles in bester Ordnung.

    • @MK:

      Potz Blitz, Sie haben Recht, Berlin führt sogar mit 60 % Tempo-30 Zonen

      www.merkur.de/wirt...onen-92176090.html

      Nun gut, aber offenbar nutzt es ja was „ Den vorliegenden Begleituntersuchungen zufolge, gibt es in den meisten Fällen Gewinne bei Verkehrssicherheit, Lärm- und Luftschadstoffminderung und bei den Aufenthaltsqualitäten – gleichzeitig wird die Auto-Mobilität nicht übermäßig eingeschränkt.“

      www.umweltbundesam..._hauptstrassen.pdf

  • Bologna hat Tempo 30 auch gerade eingeführt. Dort darf man im Zentrum schon seit längerer Zeit nur noch als Anlieger mit dem Auto unterwegs sein. Inzwischen arbeitet man daran, die alte Straßenbahn wiederzubeleben.

  • Großartig, besser kann man nicht beweisen, dass vernünftige Verkehrskonzepte zu einem lebenswerteren und rücksichtsvollerem Miteinander, gerade auch in Ballungszentren führen, wie schön wenn das endlich auch in Berlin umgesetzt würde. Und durch E-Roller ist auch keiner umgekommen 😊 das nennt man wohl eine Win-Win-Situation…

    • @Lou Andreas-Salomé:

      Berlin will die Anzahl der Tempo 30 Straßen aktuell wieder reduzieren.



      Aktuell ist man mit 60% auf einem ähnlichen Niveau wie Helsinki.



      Infrastruktur für Rad und Ausbau von ÖPNV ist aktuell auch nicht zu erwarten.



      Aber es wurde eben auch eine Auto First Regierung gewählt und die liefert entsprechend.

      • @sociajizzm:

        Danke ja, hab ich in weiterer Recherche auch gecheckt 😅 die Auto-Politik ist natürlich ein trauriger Fakt und vermutlich aus D nicht wegzudenken, wo das Auto größter Exportschlager ist.