Künstliche Intelligenz an Universitäten: Eine neue Ära des Studierens
Über 90 Prozent der Studierenden nutzen im Studium KI. Expert*innen und Beteiligte streiten, ob das der Lehre und dem Lernen hilft oder schadet.

Wer ihm zuhört, merkt schnell, wie begeistert Krusche auf die neue Welt der künstlichen Intelligenz (KI) blickt. Bereits kurz nach der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 brach für ihn und die gesamte Tech-Branche eine „Goldgräber-Stimmung“ aus: Immer tiefer hinein in den digitalen Wilden Westen, um „Ideen, die wir nicht umsetzen konnten, weil die Technologie limitiert war“, endlich zu realisieren.
Krusche ist überzeugt, dass KI die universitäre Bildung revolutionieren kann: Student*innen müssen dank KI-Tutoren nicht mehr ewig auf Feedback warten. Überlastete Professoren können sich bei der Erstellung von Kursinhalten helfen lassen. Bestenfalls bekommen auch Bürofachkräfte oder wissenschaftliche Mitarbeiter*innen künftig weniger stupide Aufgaben übertragen – es gibt ja die KI.
Doch nicht jeder denkt so. Manche sehen im Chatbot-Hype den nahenden Zusammenbruch der Hochschulbildung. Wo sich beide Seiten einig sind: KI ist längst nicht mehr aus den Laptops der Studis wegzudenken.
KI inzwischen fester Bestandteil des Studiums
Das bestätigt eine Studie der Hochschule Darmstadt. Aktuell nutzen über 90 Prozent der Studierenden KI-basierte Tools für die Uni – vor zwei Jahren waren es noch 63 Prozent. Binnen weniger Jahre, so die Autor*innen, habe sich KI „von einer punktuellen Hilfestellung zu einem festen Bestandteil des Studiums entwickelt“.
Daraus machen Studierende auch keinen Hehl. Eine Berliner Studentin der Politikwissenschaft etwa erzählt der taz, dass sie ChatGPT gerade zur Vorbereitung auf eine Prüfung in einem Spanischkurs nutzt. Sie hat dazu einen Prompt eingegeben, der die KI auf Basis bisheriger Seminarinhalte neue Übungsaufgaben produzieren lässt. Gerade füllt sie Wortlücken mit Vokabeln aus. Die KI als Lernassistent? „Ich kann das nur empfehlen“, sagt sie.
Auch die Zusammenfassung von Forschungsliteratur durch die KI ist bei Studierenden beliebt, um sofort die Kernaussagen bisweilen langatmiger Journalartikel vor sich zu haben.
Ein Student der TU München, der anonym bleiben möchte, gibt zu: „Ich habe keinen Satz selber geschrieben in meiner Bachelorarbeit.“ Er habe aber natürlich selbst die inhaltlichen Überlegungen gemacht, Literatursichtung mal ausgenommen, da habe ihm auch eine KI geholfen. Dafür hat er seine Stichpunkte der KI gegeben und gesagt: „Paraphrasiere mir das mal in einem scientific Ton.“
Grundsätzlich warnen Hochschulen davor, sorglos Aufgaben an KI auszulagern, etwa in der Textarbeit. „Ein KI-Modell kann bestenfalls Daten zusammenfassen, wobei ich selbst da skeptisch bin“, sagt Martin Wan, Projektleiter der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) beim Hochschulforum Digitalisierung. „Wenn es heißt, ein KI-Modell fasst Informationen eines Textes zusammen, dann fasst es diese in der Regel nicht analytisch verstehend zusammen, sondern es kürzt bzw. verkürzt sie algorithmisch.“
Die HRK ist ein Zusammenschluss von 271 deutschen Hochschulen und beteiligt sich am Hochschulforum, einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Thinktank, der sich schwerpunktmäßig mit Herausforderungen durch Digitalisierung und KI beschäftigt.
Fähigkeiten wie Textverständnis könnten verloren gehen
Aus Sicht von Wan werde insbesondere die Quellenkritik im Zeitalter computergenerierten Denkens „noch wichtiger als jemals zuvor“. Er sieht seinen Auftrag auch darin, „im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung“ darauf hinzuwirken, dass Studierende KI-Modelle souverän benutzen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Studis KI einsetzen, stört auch Martina Thiele von der Uni Tübingen. Die Professorin für Medienwissenschaft sieht die Gefahr einer Abhängigkeit, des Verlernens von Kulturtechniken wie dem Lesen und Verstehen längerer Texte oder dem eigenständigen Entwickeln schlüssiger Argumentation. Expert*innen sprechen von „De-Skilling“, also dem Verlorengehen von Fähigkeiten, weil man sie zu wenig trainiert.
Die Gründe, vermehrt auf KI zurückzugreifen, liegen laut Thiele auch im Druck, den viele Studierende verspüren. „Wir sind in so einem Hamsterrad. Der Konkurrenzdruck wird immer größer bei Studierenden und Wissenschaftler*innen.“ Die Verlockung, zu Hilfsmitteln zu greifen, sei da groß.
Thiele sieht weitere negative Begleiterscheinungen der KI, die ihr in der Debatte zu kurz kommen. Sie meint, die dazu nötigen Rechenzentren würden enorm Energie verbrauchen. Dazu kommen Fragen bei Urheberrechten und geistigem Eigentum. „Es ist mehr als bedenklich, eigene Texte, mehr noch aber die anderen Autor*innen ungefragt in die KI-Systeme einzuspeisen“, meint Thiele, „Wir füttern da wirklich einen Kraken.“
Auch TUM-Professor Krusche erkennt Gefahren der neuen Technologie, jedoch immer mit dem Blick auf die von ihm wahrgenommenen Vorteile. „Die guten Studenten werden besser“, sagt Krusche; bei schwachen oder mittelmäßigen Studierenden, die viel KI nutzen, merke man jedoch, „dass sie nicht die gewünschten Kompetenzen entwickeln“.
Ob Krusches Beobachtungen auf alle Studierenden zutreffen, ist bisher kaum erforscht. Eine Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) liefert jedoch Ansatzpunkte. Das MIT untersuchte über mehrere Phasen die Hirnaktivität von 54 Teilnehmer*innen beim Schreiben eines Essays. Sie wurden in drei Gruppen eingeteilt: Ein Teil durfte beim Verfassen des Textes KI benutzen, ein Teil Google samt der auffindbaren Suchergebnisse, ein dritter Teil blieb ohne Hilfsmittel. Das Ergebnis: Je mehr externe Unterstützung, desto weniger Netzwerkbildung im Gehirn.
Und auch andere Kompetenzen litten: Die erste Versuchsgruppe identifizierte sich kaum mit ihren Essays und konnte selbst kurz nach dem Schreibprozess nur noch wenig daraus zitieren. Die Autor*innen bilanzieren, dass die Hirnaktivität bei denjenigen nachließ, die nur mit KI gearbeitet hatten.
„Jedes Fach muss es für sich selbst als Thema wahrnehmen“
Dass routinierte Nutzer*innen Vorteile haben, birgt laut Krusche auch Gefahren: Menschen, die KI nicht nutzen können oder wollen, werden abgehängt; ähnlich wie es früher mit dem Internet war. Das Hochschulforum Digitalisierung arbeitet daran, im Uni-Kontext möglichst viele Menschen mitzunehmen: etwa über „KI-Labs“, in denen Lehrende Einsatzszenarien erproben und diskutieren. Insbesondere aber über die AG Künstliche Intelligenz, die Herausforderungen der Hochschulbildung auslotete und im März Handlungsempfehlungen vorlegte.
„Jedes Fach muss es für sich selbst als Thema wahrnehmen“, mahnt HRK-Experte Wan. „KI betrifft nicht nur die Informatiker oder nur die Ingenieure. Sondern es betrifft auch den Germanisten genauso wie den Philosophen.“ Nicht nur handwerkliche Aspekte der KI gelte es dabei zu berücksichtigen, auch die Funktionsweisen der Technologie müssten kritisch hinterfragt und im Nutzungsverhalten berücksichtigt werden.
Dass Chatbots bestehendes Herrschaftswissen und unbewusste Diskriminierung verstetigen und somit indirekt gesellschaftliche Diskurse beeinflussen könnten, ist auch eine Sorge, die viele Studierende umtreibt.
Auch Krusche möchte so viele Studierende und Professor*innen wie möglich mit KI vertraut machen und entwickelte innerhalb der Open-Source-Lernplattform Artemis einen Chatbot namens Iris, der Studierenden bei Übungsaufgaben und einem besseren Verständnis der Vorlesungen helfen soll. „Ich sehe vor allem das schnelle Feedback und die schnelle Hilfestellung bei den Studenten als Möglichkeit, dass die Lernerfahrung besser und die Frustration gesenkt wird“, erklärt Krusche.
Besonders beim Programmieren sei so ein Chatbot hilfreich, denn „Studenten müssen sich durch sehr viele Fehlermeldungen durchkämpfen, die sie oft gar nicht verstehen.“ Ein TUM-Student, der auch Artemis nutzt und Probleme beim Programmieren hatte, kannte Iris nicht. Die Kommunikation zwischen Studierenden, Professoren und Universitäten ist auch ein Problem.
Studierende wünschen sich stärkere Vorgaben
Denn Studierende wünschen sich vor allem stärkere Vorgaben zur KI-Nutzung – deutschlandweit sprechen sich einer Befragung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) zufolge rund 70 Prozent dafür aus. Das Angebot ihrer Hochschulen zum Kompetenzerwerb im Bereich KI bewerten Studierende im Schnitt mit 2,7 von 5 Sternen, ein Fünftel mit nur einem Stern.
Das liegt aber nicht daran, dass Universitäten keine Vorgaben oder Angebote machen. Dass die Freie Universität (FU) Berlin bereits im Mai 2023 ein sechsseitiges Eckpunktepapier zum Umgang mit KI-basierten Tools veröffentlichte, war vielen Studierenden dort schlicht nicht bekannt.
Im FU-Papier wird beispielsweise empfohlen, bei Prüfungen unter Aufsicht KI-Tools nicht zuzulassen. Bei Hausarbeiten sollen die jeweiligen Prüfungsausschüsse über die Zulässigkeit entscheiden. Ein Einsatz von KI bei einem Verbot stelle bei beiden Fällen einen Täuschungsversuch dar.
Bei der Nutzung von KI-Detektoren ist die Uni – im Sinne des Forschungsstandes – zurückhaltend: Es sei „angesichts derzeit nicht hinreichender Ergebnisqualität und mangels Überprüfbarkeit der Ergebnisse“ durch Prüfende zweifelhaft, ob Ergebnisse der Software „prüfungsrechtlich Bestand haben können“.
Werden Präsentationen und mündliche Prüfungen zur Alternative?
In Tübingen bemerkte Thiele durch KI „halluzinierte“ Quellenangaben im Literaturverzeichnis, einmal sogar eine nicht existente Studie von ihr selbst. Mittlerweile werden Texte direkt im Seminar, mal mit, mal ohne KI-Unterstützung geschrieben, Ergebnisse verglichen. Und es gibt mehr Präsentationen und mündliche Prüfungen.
Ein Student von der FU spricht sich gegen ein grundsätzliches Verbot von KI-Tools bei Prüfungsszenarien aus: „Wer es nutzt und dann auf die Fresse fliegt, der soll halt auf die Fresse fliegen.“
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