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GHF-Essensabgabestellen in GazaDas Gaza-Hunger-Experiment

Hilfen für Gaza scheitern nicht an der Logistik, sondern an politischen Entscheidungen. Immer wieder sterben Menschen bei der Essensausgabe.

Palästinenser warten an einer Essensausgabe, Gaza-Stadt am 14. Juli 2025 Foto: Reuters/Mahmoud Issa

Kairo taz | Für die Khalaf-Familie haben sich die Essensausgabestellen der amerikanisch-israelisch überwachten Gaza Humanitarian Foundation gleich zweimal als Todesfalle erwiesen. Erst wurde der jüngere 15-jährige Sohn Saqr auf dem Weg zur Ausgabestelle im Nezzarim-Korridor im zen­tralen Gazastreifen erschossen. Kurz darauf wurde der Vater Muhammad Khalaf dort von Granatsplittern getroffen und erlag am 28. Mai im Krankenhaus seinen Wunden.

Jetzt ist es am letzten Sohn Ahmad jede zweite Nacht sein Leben zu riskieren und sich vier Kilometer zu Fuß über eine unwegsame völlig zerstörte Mondlandschaft dorthin auf den Weg zu machen. Der 24-Jährige übernachtet dann vor der Ausgabestelle mit Tausenden anderen, mit denen er die Hoffnung teilt, bei der Öffnung der Ausgabe einer der Ersten zu sein. Er will seiner Verantwortung gerecht werden, seine Mutter, seine drei Geschwister und sich selbst mit Nahrung zu versorgen.

Ahmads Mutter Ghada macht vor ihrem Zelt neben der Gargawi-Schule im zentralen Gazastreifen auf offenem Feuer eine Dose Kichererbsen warm, die ihr Sohn vor zwei Tagen ergattern konnte. Es ist ein mit viel Angst erworbenes Mahl. „Ich habe Ahmad angefleht und gesagt, geh nicht mehr hin. Aber er entgegnete, er müsse etwas zu Essen für seine Geschwister organisieren. Aber dieses Essen ist in Blut getränkt“, sagt Ghada einem lokalen Kontakt der taz.

Nahost-Konflikt

Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Traumatisiert durch die Erschießung des Vaters

Doch ihr Sohn lässt sich nicht abbringen. „Was soll ich machen, wenn ich nicht gehe, haben wir nichts zu Essen und zu Trinken. Manchmal komme ich mit leeren Händen heim, manchmal schaffe ich es, Speiseöl, etwas Mehl, Pasta oder Linsen nach Hause zu bringen“, erzählt er.

Es wurde geschossen, Menschen sind vor mir tot zusammen­gebrochen

Ahmad, 24 Jahre

Ahmad geht auf seine Mission, etwas zu Essen zu finden, obwohl er völlig traumatisiert ist. „Die Nacht, in der ich zusammen mit meinem Vater zur Ausgabestelle gegangen bin, als er tödlich verletzt wurde, war die schlimmste meines Lebens“, erinnert sich Ahmad. „Es wurde geschossen, Menschen sind vor mir tot zusammengebrochen. Die Angst, überall Tod, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wir saßen in der Falle“, schildert er diese tragische Nacht.

In dem Chaos hatte er seinen Vater aus den Augen verloren. Acht Stunden habe er ihn überall gesucht. Er habe sich durch die Menge der Menschen geschoben. Schließlich habe er gehört, dass einige der Verletzten in das Al-Aksa-Krankenhaus in Deir al-Balah gebracht worden seien. Dort hat er schließlich seinen Vater gefunden, um ihm die nächsten Tage beim Sterben zuzusehen.

Ghada, die Mutter, ist ebenfalls ein emotionales Wrack. Über ihren jüngeren Sohn spricht sie wenig, nur das er mutig war, alles andere scheint zu schmerzhaft. Sie zeigt ein Foto von ihm auf ihrem Handy. In einem viel zu großen gelben Sweatshirt, lächelt ein Kind in die Kamera. „Seit mein jüngerer Sohn und mein Mann getötet wurden, hat das Leben keinen Geschmack mehr, keine Farbe, keine Bedeutung. Das einzige Gefühl, das noch übrig ist, ist eine unbändige Angst um meinen letzten Sohn“, sagt sie.

Vier Essensausgabe für den ganzen Gaza-Streifen

Nachdem die israelische Armee es internationalen Hilfsorganisationen und der UNO praktisch kaum mehr erlaubt, Güter in den Gazastreifen hineinzubringen, wurden als vermeintliche Alternative im Mai die Abgabestellen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) gegründet. Vier davon, alle im Süden oder im zentralen Küstenstreifen, wurden seitdem eröffnet. Die Ausgabe selbst wird von US-Söldnern geleitet und im weiteren Umfeld von der israelischen Armee überwacht. Sie liegen allesamt in Gebieten, die von der israelischen Armee kontrolliert werden.

Doch abgesehen davon, dass das neue System für die zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens vollkommen unzulänglich ist, haben sich die GHF-Ausgabestellen als lebensgefährlich erwiesen. Laut Angaben des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten (OHCHR) sind fast 800 Menschen im Gazastreifen bei dem Versuch, an Essen zu kommen, getötet worden, darunter 615 in unmittelbarer Umgebung der GHF-Ausgabestellen. OHCHR erklärte, dass diese Zahlen auf Angaben aus Krankenhäusern im Gazastreifen, Friedhöfen, Aussagen von Familien, palästinensischen Gesundheitsbehörden und anderer Hilfsorganisationen basieren. Die GHF streitet diese Zahl ab und sagt, sie sei irreführend.

„Wir haben Bedenken hinsichtlich begangener Gräueltaten sowie des Risikos weiterer Gräueltaten geäußert, insbesondere dort, wo Menschen Schlange stehen, um überlebenswichtige Güter wie Nahrungsmittel zu erhalten“, antwortete OHCHR-Sprecherin Ravina Shamdasani bei einer Pressekonferenz. „Es ist nicht hilfreich, unsere Bedenken pauschal zurückzuweisen. Notwendig sind vielmehr Untersuchungen darüber, warum Menschen getötet werden, während sie versuchen, humanitäre Hilfe zu erhalten“, fügte sie hinzu.

Die israelische Armee gibt zu, in der Umgebung von Hilfszentren auf Menschen geschossen zu haben, wenn sie sich bedrohlich näherten, bestreitet aber, absichtlich auf Zivilisten zu schießen und zweifelt die veröffentlichte Anzahl der Getöteten an. Zwei Whistle Blower unter den US-Söldnern, die für die GHF arbeiten, gaben gegenüber der amerikanischen Nachrichtenagentur AP an, dass einige ihrer Kollegen ohne Bedrohungslage auf die hilfesuchenden Menschen geschossen hätten. Zahlreiche palästinensische Augenzeugen berichten, dass sowohl von der israelischen Armee vor Ort, kleinen bewaffneten israelischen Drohnen, sowie den US-Söldnern auf sie geschossen wurde.

Goher Rahbour, ein britischer Chirurg, der im Juni im Nasser Krankenhaus im Süden des Gazastreifens als Freiwilliger gearbeitet hat, berichtet gegenüber der Financial Times, dass sich die dortigen Operationsräume regelmäßig mit Menschen gefüllt haben, die von den GHF-Ausgabestellen mit Schusswunden eingeliefert worden seien.

Bericht der International Crisis Group über Ausgabestellen

Auch ein im Juni veröffentlichter Bericht des renommierten Thinktanks International Crisis Group (ICG), mit dem Titel: „Das Gaza-Hunger-Experiment“ befasst sich mit den vier GHF-Ausgabestellen und vergleicht sie mit den einst über 400, über die die UNO vor der neusten israelischen Offensive Hilfslieferungen verteilte. „Die Welt scheint Zeuge eines Experiments: Dabei geht es um den Versuch, die Bevölkerung Gazas auf unbestimmte Zeit knapp über der Hungerschwelle zu halten, während Nahrungsmittel zur Waffe des Krieges gemacht werden“, beschreibt die ICG die Funktion der viel zu wenigen GHF-Ausgabestellen.

Das Aushungern der Bevölkerung sei kein Nebeneffekt, sondern Strategie. Die entstandenen Engpässe seien nie eine Frage der Logistik, sondern immer eine von politischen Entscheidungen gewesen, analysiert der Bericht. Tatsächlich sind die Lagerhallen in Ägypten in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gazastreifen bis zur Decke gefüllt. Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes berichten, dass man nur die israelische Genehmigung brauche, um die Hilfslieferungen über Nacht wieder hochfahren zu können.

Stattdessen erreicht die Menschen über die GHF zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. „Gaza ist zu einem Experiment geworden, bei dem genau getestet wird, an welchem Punkt eine Strategie des kon­trollierten Aushungerns in eine unkontrollierbare Hungersnot umschlägt“, beschreibt der ICG-Bericht. Zweiteres Szenario, eine Hungersnot, gilt es für Israels Armee aufgrund des internationalen Aufschreis zu vermeiden.

Offiziell von israelischer Seite gerechtfertigt wird das neue GHF-System mit dem Argument, dass verhindert werden solle, dass die Hamas Hilfslieferungen stiehlt. Auch darauf geht der ICG-Bericht ein. Israel habe trotz seiner Aufklärungsmöglichkeiten bisher kaum Beweise dafür vorgelegt. Auch laut internationaler Hilfsorganisationen sei das bei früheren Hilfslieferungen eine vernachlässigbare Größe gewesen. Dagegen zeigten sie immer wieder auf die Abu-Shabab-Miliz, als größten Plünderer, einer mit der israelischen Armee verbündeten bewaffneten palästinensischen Gruppe, die auch rund um die GHF-Ausgaben eingesetzt wird.

Doch der Bericht geht noch weiter. Er zeigt, dass die UNO bereits im Mai nach intensiven Konsultationen mit der israelischen Armee überarbeitete Verteilungspläne vorgelegt hatte, um den Bedenken entgegenzukommen. Danach sollten die zu verteilenden Hilfsgüter mit QR-Codes versehen werden. Transportiert werden sollten sie auf GPS-überwachten Lkws, auf von der Armee bestimmten Routen. Im Gegenzug forderte die UNO volle operative Kontrolle über die Lieferungen auf sicheren Wegen. Begleitetet werden sollten die Konvois, laut dem UN-Plan, von in Übereinstimmung mit der Armee ausgesuchtem bewaffnetem palästinensischem Personal, anstelle der von der Hamas kontrollierten Polizei.

Absichtliche Verknappung von Lebensmitteln

Einer der Knackpunkte soll gewesen sein, dass in dem UN-Plan nicht vorgesehen war, Daten von allen Hilfsempfängern an die israelische Armee zu liefern, mit denen sich diese wichtige Informationen für ihr Gaza-Überwachungssystem erhoffte. Die UNO hat auf ihre Vorschläge nie eine offizielle israelische Antwort bekommen.

Stattdessen werden Nahrungsmittel in Gaza absichtlich knappgehalten. Das sei laut dem ICG-Bericht Teil der israelischen Kriegsführung. So hofft die israelische Armee die Hamas als Machtfaktor ausschalten zu können. „Da es Israel nicht gelingt, die Hamas entscheidend zu besiegen, hat es eine Strategie der Verweigerung von Ressourcen angenommen und behandelt Gaza als ein undifferenziertes feindliches Gebiet, in dem jeder Sack Mehl dem Gegner zur Unterstützung dienen könnte. Nahrung, Treibstoff, Medizin: Alles wird als Waffen angesehen, die vorenthalten werden, statt als ein Bedürfnis, das gedeckt werden muss“, beschreiben die Autoren des Berichts diese Logik.

Um dann auch gleich anzuzweifeln, dass die Strategie, die Menschen mithilfe von Lebensmitteln dazu zubringen, ihre Loyalitäten zu ändern, erfolgreich sein wird. Auch wenn die Hamas derzeit militärisch stark unter Druck stehe, heißt es in dem Bericht klar und deutlich: „Der Glaube, die Macht der Hamas beruhe auf der Lebensmittelverteilung, ist eine Fantasie.

Israelische Beamte verwechseln biologische Verzweiflung mit politischer Transformation. Hungernde Menschen, die sich auf Nahrung stürzen, zeigen Überlebensinstinkt, das ist noch lange keine politische Neuorientierung.“ Die GHF-Ausgabestellen machten eines deutlich, schlussfolgert der Bericht: „Nahrungsmittel sind Macht, und zentral für die israelischen Kriegspläne.“

Unterdessen bereitet sich die Khalaf-Familie und die Mutter Ghada auf die nächste Tour ihres Sohnes zur GHF-Ausgabestelle vor. „Wir verlieren den Verstand. Wir sind gebrochene Menschen“, sagt sie. Die nächste Nacht wird Ghada wieder wachliegen. Es wird ein langes, unruhiges Warten für die Mutter sein: Wird ihr Sohn Ahmad lebend zurückkommen und – wird er etwas zu Essen dabeihaben?

Anmerkung: Dieser Text basiert in Teilen auf Material eines vom Autor beauftragten Kameramanns im Gazastreifen. Internationalen Journalisten ist der Zugang untersagt.

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1 Kommentar

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  • Sehr erfreulich das der Autor hier Auszüge aus dem Bericht der International Crisis Group veröffentlicht hat. Dafür das die Crisis Group weithin als weltweit bedeutenster Think Thank für die Analysen von Krisen und Konflikten gilt und in ihrem Kuratorium seit 1995 vom finnischen Friedensnobelpreisträger Martti Ahtisaari bis hin zum UN-Generalsekretär Kofi Annan Persönlichkeiten von Rang, Namen und vorallem mit Kompetenz vertreten waren, werden ihre Beiträge in der deutschen Medienlandschaft zu wenig berücksichtigt. Besonders wenn es um den Nahostkonflikt geht. Auch der aktuelle Bericht "The Gaza Starvation Experiment" hat in den UK und Skandinavien für ein starkes Echo gesorgt, wurde von hiesigen Medien jedoch weitgehend ignoriert.

    Zur Sorgfaltspflicht des Autors hätte eigentlich gehört, die Onlineversion des Berichts zu verlinken, denn er enthält noch viele weitere interessante Details zu diesem Thema. Das hole ich jetzt hiermit nach

    The Gaza Starvation Experiment

    www.crisisgroup.or...rvation-experiment