Humanitäre Katastrophe im Gazastreifen: „Es geht hier nicht um Konkurrenz“
In einem offenen Brief fordert unter anderem die Hilfsorganisation Medico International die Schließung der Gaza Humanitarian Foundation. Warum?

taz: Herr Othman, Sie sprechen in dem Brief von einer „Militarisierung der Hilfe“. Was meinen Sie konkret damit?
Riad Othman: Die Gaza Humanitarian Foundation arbeitet mit der israelischen Armee und privaten US-Sicherheitsfirmen zusammen. Sie führt ihre Operationen unter Aufsicht des israelischen Militärs durch. Es handelt sich also nicht um einen neutralen, humanitären Akteur, sondern um eine intransparente Stiftung, die in enger Kooperation mit einer der Konfliktparteien an wenigen Standorten „Hilfe“ bereitstellt.
Riad Othman arbeitet als Nahostreferent für die Hilfsorganisation Medico International. Von 2012 bis 2015 leitete er deren Palästina- und Israel-Büro. Er hat einen Master in Humanitärer Hilfe von der Universität Groningen und arbeitet seit mehr als 20 Jahren im humanitären Sektor.
taz: Überwachte oder begleitete das israelische Militär nicht auch Hilfslieferungen von anderen Hilfsorganisationen?
Othman: Nein, sie wurden nicht vom Militär begleitet. Es gab das sogenannte deconflicting, was in Kriegsgebieten üblich ist. Das heißt, dass mit der Armee koordiniert werden muss, auf welchen Routen Hilfskonvois sicher passieren können. Das ist etwas anderes, als zum Beispiel die biometrischen Daten von Hilfesuchenden aufzunehmen, wie die GHF es ankündigte.
taz: Das schreiben Sie auch in Ihrem Brief. Aber die Gaza Humanitarian Foundation sagt, dass sie es gerade nicht tut. Dass sie keine Biometrie und keine Augenscanner am Eingang der Verteilstellen einsetzt.
Othman: Es war aber intendiert, dass sie sie einsetzen. Auf den Videos habe ich das auch tatsächlich nicht gesehen. Dabei wird aber aus den Aufnahmen klar, dass die Prinzipien der humanitären Hilfe dabei völlig missachtet werden. Es ist im Grunde ein Rennen wie in dem Film „The Hunger Games“, wo die Stärksten und Schnellsten vielleicht etwas von der Hilfe bekommen. Üblich wäre, dass man nach Bedürftigkeit verteilt, in einem möglichst würdevollen Rahmen. Und das ist hier ganz klar nicht der Fall.
taz: In dem Brief beklagen Sie ebenso, dass auf dem Weg zu diesen Verteilstellen viele Menschen durch Schüsse getötet werden. Laut Augenzeugenberichten kommen die Schüsse oft von der israelischen Armee. Kann die GHF dafür etwas?
Othman: Die GHF hat sich darauf eingelassen, unter der Kontrolle der Armee an vier Verteilungspunkten in Gaza Hilfe auszugeben. Die Menschen werden dabei gezwungen, einen Weg zurückzulegen, der lebensgefährlich sein kann. Das übliche Prozedere wäre, dass die Hilfe zu den Menschen gebracht wird, so wie es war, als man unter dem früheren System 400 Verteilstellen hatte. Was wir jetzt sehen, ist die potenzielle Komplizenschaft darin, dass Menschen sich zwangsweise fortbewegen müssen im Gazastreifen.
taz: Sie erwähnen in dem Schreiben das Völkerrecht. Doch dieses regelt bewaffnete Konflikte zwischen Staaten.
Othman: Die Genfer Konvention (ein Abkommen des humanitären Völkerrechts; Anm. d. Red.) regelt auch Konflikte zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Das Römische Statut und die Völkermordkonvention gelten ebenfalls für den Kontext in Gaza. Wenn einer Organisation oder einer Stiftung nachgewiesen wird, dass sie mit der israelischen Armee kooperiert haben, dann ist es natürlich eine mögliche Beihilfe. Das haben am Ende Gerichte zu entscheiden, nicht wir, das ist klar. Aber der Anfangsverdacht liegt ja nahe.
taz: Wie lauten Ihre Vorwürfe konkret?
Othman: Dass Personen und Unternehmen, die sich an diesen Operationen beteiligen, Beihilfe zu Kriegsverbrechen leisten. Eine Instrumentalisierung von humanitärer Hilfe für politische oder militärische Zwecke. Dass sie am Aushungern als Kriegsmittel beteiligt sind – und de facto an der Verweigerung von humanitärer Hilfe. Und zwar, indem sie dem israelischen Staat ermöglichen, den Anschein zu wahren, dass es humanitäre Hilfe in Gaza gebe. Humanitäre Hilfe nach internationalen Standards gibt es derzeit nicht.
Riad Othman
taz: Diese Zentren liefern jedoch etwas Hilfe. Sie aufzusuchen, ist gefährlich. Und sicherlich kommt auch darüber zu wenig im Gazastreifen an – aber immer noch etwas. Ist es unter den aktuellen Umständen nicht unverantwortlich, eine Schließung zu fordern?
Othman: Nein, ich finde es unverantwortlich, dass man Israels Regierung erlaubt, solche Rechtsbrüche zu begehen. Denn das müsste ja nicht der Fall sein. Das geschieht durch die passive, in Teilen auch aktive Unterstützung von Staaten wie den USA, wie der Bundesrepublik Deutschland. Es sind Rechtsbrüche, die man der israelischen Regierung durchgehen lässt. Das ist unverantwortlich.
taz: Die anderen Hilfsorganisationen können kaum arbeiten, seitdem das neue Hilfssystem im Einsatz ist. Könnte man aus Ihrer Kritik auch ableiten, dass so Konkurrenten außer Gefecht gesetzt werden sollen?
Othman: Wer so etwas behauptet, müsste nachweisen, dass die GHF mit denselben Geldern operiert, die zuvor anderen Organisationen zugutekamen. Es geht hier nicht um Konkurrenz. Medico International hat wegen der Gaza Humanitarian Foundation keinen Cent weniger Geld. Uns betrifft das finanziell gar nicht. Was uns sehr wohl betrifft, ist die Blockade durch die israelische Regierung und im Prinzip diese Nebelkerze, dass dort humanitäre Hilfe über diese Stiftung geleistet wird.
taz: Was möchten Sie am Ende mit dem Brief erreichen? Geht es dabei nur um die Schließung der GHF-Zentren?
Othman: Wir wollen erreichen, dass das etablierte, seit Monaten von Israel blockierte Hilfssystem wieder instandgesetzt wird. Dass der humanitäre Zugang nach Gaza ungehindert und im entsprechenden Umfang zugelassen wird. Dass humanitäre Hilfe bedarfsgerecht und nach den vereinbarten internationalen Standards zugelassen wird. Und das tut die GHF nicht, das tut auch die israelische Armee nicht.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
taz: Denken Sie, der Brief wird etwas erreichen?
Othman: Die Blockade hat es auch gegeben, als noch internationale Organisationen operiert haben. Der humanitäre Zugang nach Gaza muss geöffnet werden, unabhängig davon, ob die Gaza Humanitarian Foundation weiterarbeitet. Uns geht es in dem Brief um zwei zentrale Punkte: humanitäre Hilfe nach internationalen Standards gemäß dem Bedarf der palästinensischen Bevölkerung durchzusetzen und vor der möglichen Beteiligung an schweren Verbrechen zu warnen. Es ist eine politische Entscheidung unserer Regierung, Israel durchgehen zu lassen, Gaza die Hilfe zu verweigern und alleine im Zusammenhang mit den Verteilungen der GHF mehrere Hundert Menschen zu erschießen. Und es ist ein politisches Versagen.
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