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Gespräch über Planung im Kapitalismus„Niemand wird kommen, um uns zu retten“

Kapitalismus bedeutet Planwirtschaft, sagt die britische Ökonomin Grace Blakeley. Sie zählt zu den wichtigsten jüngeren Kapitalismuskritiker:innen.

Britische Journalistin und Autorin Grace Blakeley: „Der Markt regelt angeblich und wirkt ausgleichend. Aber das stimmt so nicht.“ Foto: Roberto Ricciuti/getty images
Rosa Budde
Ulrich Gutmair
Interview von Rosa Budde und Ulrich Gutmair

taz: Frau Blakeley, die Zeitung Daily Mail hat Sie einst „Moët-Marxistin“ genannt. Sind Sie das?

Grace Blakeley: Das war, als ich 25 Jahre alt war. Ich kam gerade frisch von der Uni und habe in den Medien darüber gesprochen, dass Sparpolitik falsch ist. Nicht nur ethisch, sondern auch ökonomisch falsch. Ich konnte mit etablierten Öko­no­m:in­nen auf Augenhöhe diskutieren. Der Daily Mail gefiel meine Haltung nicht. Deswegen hat sie einen albernen Artikel über mich veröffentlicht, in dem steht, dass ich aus einer privilegierten Familie komme. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Also bin ich eine Moët-Marxistin? Nun ja, ich mag Champagner. Aber ich will Champagner für alle.

taz: Moët stimmt also schon mal. Bezeichnen Sie sich selbst als Sozialistin?

Blakeley: Unbedingt. Ich sehe mich in der Tradition demokratischer Sozialist:innen, die mit Marx beginnt. Marx war der Idee der menschlichen Freiheit verschrieben. Aber im Laufe der Zeit wurde seine Botschaft komplett verzerrt. Ein Grund, warum ich mein neues Buch geschrieben habe, war, dass ich es satt hatte, dass so viele Leute annehmen, linke Politik würde immer auf einen mächtigen, autoritären Staat hinauslaufen. Während der Coronapandemie sagten Jour­na­lis­t:in­nen zu mir: „Der Staat greift jetzt in die Wirtschaft ein, das ist Sozialismus. Sind Sie jetzt zufrieden?“ Nein, das ist kein Sozialismus! Der Staat greift einmal mehr ein, um die Interessen der Reichen zu fördern. Im Sozialismus geht es darum, die Menschen zu empowern. Es geht darum, die politische Demokratie auf den Bereich der Wirtschaft auszuweiten.

taz: In Deutschland kommt bei dem Wort Sozialismus schnell die Erinnerung an die Planwirtschaft der DDR auf. Da ist die Idee der menschlichen Freiheit nicht so recht aufgegangen.

Blakeley: Das ist genau mein Argument: Zentralisierte Planwirtschaft funktioniert nicht. Zentralisierte Planung sehen wir auch im Kapitalismus. Ich habe mir die Planwirtschaft in den Ostblockstaaten genauer angeschaut und bemerkt, dass sich das nicht so sehr von dem unterscheidet, was heute passiert, wenn etwa Elon Musk im Weißen Haus sitzt und sagt, wir geben jetzt mal Geld für dieses oder jenes aus. Das ist keine Demokratie, das ist Planung im Sinne von Privatinteressen.

Im Interview: Grace Blakeley

Grace Blakeley, geboren 1993, ist Autorin und Journalistin. Sie studierte Philosophie, Wirtschaft, Politik und Afrikastudien in Oxford. Auf Deutsch erschien 2023 „Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus“. Ihr neues Buch „Die Geburt der Freiheit aus dem Geist des Sozialismus – Wie das Kapital die Demokratie zerstört“ ist soeben bei Klett-Cotta erschienen (Deutsch von Christian Alexander Herschmann u. a., 496 Seiten, 28 Euro).

taz: Der bürgerliche Staat ist die Organisation der Interessen des Kapitals.

Blakeley: Es heißt, es gäbe einen freien Markt, auf dem jeder neue Konkurrent theoretisch einen Marktanteil übernehmen könnte. Unternehmen stünden unter Konkurrenzdruck. Der Markt regelt angeblich und wirkt ausgleichend. Aber das stimmt so nicht. Monopolistische Unternehmen wie Google oder Amazon müssen sich nicht den Gegebenheiten des Marktes anpassen, sie schaffen selbst die Bedingungen des Marktes. Politische Entscheidungen werden im Sinne des Kapitals getroffen, nicht zugunsten eines besseren Lebens für die Bevölkerung. Ein Elon Musk kann entscheiden, dass er nicht in nachhaltige Energien, sondern in eine Rakete zum Mars investieren will. Damit trifft er als Milliardär eine persönliche Entscheidung für sich selbst – und die Wirtschaft richtet sich danach aus.

taz: Das Wirtschaftssystem, das wir in Deutschland haben, heißt ja offiziell …

Blakeley: … soziale Marktwirtschaft! Ich weiß. Als ich das erste Mal in Deutschland war, stand bei einem Vortrag jemand aus dem Publikum auf und sagte: „Wir haben keinen Kapitalismus in Deutschland, wir haben die soziale Marktwirtschaft.“ Das fand ich sehr lustig. Das zeigt aber auch das größte Missverständnis, was den Kapitalismus angeht. Viele Leute denken, Kapitalismus meint unregulierte freie Märkte. Aber die gab es noch nie, in keiner kapitalistischen Wirtschaft. Immer haben große Unternehmen mit der Politik kooperiert und, nun ja, planerisch eingegriffen.

taz: Wenn Sie in Ihrem neuen Buch „Die Geburt der Freiheit aus dem Geist des Sozialismus“ von den Planern des Kapitalismus sprechen, benutzen Sie häufig das Wort Eliten. Klingeln bei Ihnen keine Alarm­glocken im Kopf, wo übermächtige Eliten doch ein zentraler Bezugspunkt von Verschwörungsideologien sind?

Blakeley: Es ist sehr wichtig, sich Begriffe, die häufig in öffentlichen Diskursen verwendet werden, genau anzusehen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu erklären, was Kapitalismus wirklich ist, abseits von dem Narrativ freier Konkurrenz auf einem angeblich freien Markt. Genauso erkläre ich, was Eliten wirklich sind: natürlich nicht das World Economic Forum oder Echsen, die die Welt regieren. In unserer kapitalistischen Gesellschaft gibt es aber eine klare Hierarchie, in der die wenigen, die die größten und mächtigsten Finanzinstitute und Unternehmen besitzen und hohe Positionen im Staat innehaben, viel mehr Macht haben als eine Durchschnittsperson. Diese Eliten kontrollieren nicht das ganze System, aber sie können darin planen. Politische Entscheidungen werden in ihrem Sinne getroffen.

taz: Die Kontrolle durch Parlamente ist ungenügend?

Blakeley: Eine Durchschnittsperson empfindet in einer kapitalistischen Planwirtschaft ständig ihre eigene Machtlosigkeit. Ich denke, es ist das bestimmende politische Gefühl unserer Zeit, dass die Welt nicht für mich da ist, dass die Wirtschaft nicht für mich funktioniert. Ich wähle eine Partei, die ins Amt kommt und ihr Wort bricht. Oder ich bitte meinen Chef um eine Gehaltserhöhung und er sagt nein, und ich kann nichts dagegen tun. Die Grunderfahrung, in einer kapitalistischen Planwirtschaft zu leben, ist, keine Macht zu haben. Das ist der Grund, warum sich so viele Menschen rechten Parteien zuwenden, die ihnen versprechen, sie wieder stark und mächtig zu machen.

taz: Das passt zu dem englischen Originaltitel Ihres Buches: „Vulture Capitalism“. Die direkte Übersetzung, Geier-Kapitalismus, funktioniert auf Deutsch nicht so richtig. Aber „Die Geburt der Freiheit aus dem Geist des Sozialismus“ ist schon sehr viel positiver als der ursprüngliche Titel. Warum?

Blakeley: Um ehrlich zu sein, „Vulture Capitalism“ fasst einen Großteil dessen, worum es in dem Buch geht, nämlich die Perfektion des Kapitalismus als System. Aber es unterschlägt den hoffnungsvollen Ton, den ich zum Ende hin anschlage. Das Buch hat eine optimistische Botschaft: Werdet aktiv!

taz: Wie denn?

Blakeley: Wir müssen uns organisieren. Niemand wird kommen, um uns zu retten. Zugegeben, das klingt erst mal pessimistisch. Aber historisch gesehen wurde progressive Politik noch nie von Po­li­ti­ke­r:in­nen gemacht: „Hey, wir geben euch, was ihr braucht.“ Politik zugunsten der Bevölkerung wurde immer erkämpft. Das Problem ist, dass in den vergangenen 40 Jahren soziale Kämpfe in den USA und in Großbritannien, aber auch in Deutschland und anderen Ländern stark geschwächt wurden. Die Ar­bei­ter:in­nen­be­we­gung wurde zu sehr institutionalisiert. Sie ist so nah am Staat und an den Unternehmen, dass sie die Interessen von Ar­bei­te­r:in­nen nicht mehr wirklich vertreten kann. Viele Menschen warten darauf, dass endlich die richtigen Po­li­ti­ke­r:in­nen an der Macht sind. Aber die werden nicht kommen. Wenn wir ein besseres Leben für alle wollen, dann müssen wir zusammenkommen und uns selbst dafür einsetzen. Und wir sollten sofort damit anfangen. In Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen, in Kooperativen, in unserer Nachbarschaft. Wir müssen gefährlich werden. Bis wir eine neue Gesellschaft von unten aufbauen.

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