SPD-Vorsitzende Saskia Esken: Sie ist noch da
Saskia Esken gehört zu den wenigen Frauen im Zentrum der Macht. Doch die Kritik an ihr ist groß, auch in der SPD. Zu Recht?

Damals, als Esken zu Gast beim politischen Kabarett von Dragqueen Margot Schlönzke gewesen ist, war die Ampelkoalition noch nicht zerbrochen, an Neuwahlen dachte nur Christian Lindner, und im Weißen Haus regierte Joe Biden. Seitdem ist viel passiert, die Welt hat sich verändert. Aber Saskia Esken ist noch da.
Und sie könnte sogar Ministerin der nächsten Koalition werden. Genau wie ihr Co-Vorsitzender Lars Klingbeil, der sich nach dem schlechtesten SPD-Ergebnis seit Gründung der Bundesrepublik zum Fraktionsvorsitzenden beförderte, ist Esken nicht zurückgetreten. Und kündigte Ende Februar an: „Ich verspreche, dass ich nerve.“
Damit nervt sie zumindest schon mal Genoss:innen in der eigenen Partei. Sie klebe wie Pattex am Parteivorsitz, so Gerhard Gaiser, früherer SPD-Kreisverbandsvorsitzender von Freudenstadt in der SZ. Freudenstadt gehört zu Eskens Wahlkreis. Gaiser kennt sich aus mit Pattex, er war selbst 40 Jahre als Kreisvorsitzender im Amt. Auch die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey – wie Esken eine standhaft sitzen gebliebene Wahlverliererin – findet, man dürfe ihr kein Ministeramt geben.
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Esken sorgt für Reibung
Und auch im Parteivorstand gibt es Kritik an ihr, es könne doch nicht sein, dass die eine nur gehe, wenn auch der andere gehe. Und das sei kein Mann-Frau-Ding, es gehe um Leistung. Wahr ist: Klingbeil hat seinen Wahlkreis in Niedersachsen zum wiederholten Mal direkt gewonnen, Esken schnitt in Calw mit 12,9 Prozent noch unter dem baden-württembergischen Zweitstimmenergebnis ab. Aber der Nordschwarzwald galt auch nie als sozialdemokratisches Kernland.

„Es gibt keinen einzigen inhaltlichen Vorwurf gegen Saskia Esken“, schimpft Maria Noichl, eine von zwei Vorsitzenden der einflussreichen SPD-Frauen. Esken sei eine zielstrebige Frau, die stets klare Kante gegen rechts gezeigt habe. „Es wäre einfach unfair, wenn man ihr die Schuld an diesem Wahlkampf in die Schuhe schiebt.“ Noichl findet: „Wir brauchen Saskia Esken in der ersten Reihe.“
Esken sorgt für Reibung. Für Politiker:innen ist das an sich normal; wer Dinge verändern will, stößt auf Widerstand. Aber tut Esken sich und ihrer Partei einen Gefallen, wenn sie weitermacht? Braucht die SPD eine „Nervensäge“, um in der sich anbahnenden schwarz-roten Koalition erkennbar zu sein? Und wie geht Esken als Mensch mit dem Dauerfeuer gegen sie um, das sie mit stoischer, zuweilen leicht verkniffener Miene scheinbar erträgt? Am vergangenen Montag, im Gespräch in ihrem Büro im siebten Stock des Willy-Brandt-Hauses, weicht sie der Frage, ob ihr die Angriffe zusetzen, aus: „Frauen werden in der Politik auch weiterhin anders beurteilt als Männer.“
Kritik ist sie gewohnt, nicht erst, seitdem sie 2019 zur Parteivorsitzenden gewählt wurde. „Die Saskia. Sie war ja nie unumstritten im Landesverband. Sie hatte eben immer ihren eigenen Kopf und hat sich nie verstellt, um jemandem zu gefallen“, sagt Karl-Ulrich Templ, Schatzmeister der SPD Baden-Württemberg. „Sie war sehr, sehr aktiv im Kreisverband, hat sich eingebracht und war sich nicht zu schade, mal eine untergeordnete Rolle zu spielen.“
Das Hochdeutsch-Problem
Untergeordnet – das klingt bescheiden. Andere sagen, Esken habe in der Landespartei bis zu ihrer Kandidatur keine Rolle gespielt. Alle waren total überrascht als sie für den Parteivorsitz kandidierte. „Ich habe das zunächst für einen Witz gehalten, damals haben ja so viele im Scherz gesagt, sie wollten kandidieren,“ erzählt Leni Breymaier. Die einstige baden-württembergische Landesvorsitzende war mit Esken gerade hoch oben auf einem Baumwipfelpfad unterwegs, als diese von ihrem Plan erzählte. Breymaier stärkt der Freundin und schwäbischen Leidensgenossin („wir haben ja beide dieses Hochdeutsch-Problem“) den Rücken. „Saskia ist einfach eine total verlässliche Frau und sie wird total unterschätzt.“
Unter normalen Umständen hätte Esken keine Chance auf das Spitzenamt gehabt. Obwohl ihre Biografie eigentlich eine wunderbare sozialdemokratische Erzählung der zweiten Chancen ist. Als Jugendliche sang sie zur Gitarre mit schwarz geschminkten Lippen Neil-Young-Songs in Fußgängerzonen, kellnerte, trug Pakete aus. Sie begann als Erste in der Familie ein Studium und brach es wieder ab, machte eine Ausbildung zur Informatikerin, heiratete mit Anfang 30 ihren Teamleiter bei IBM, bekam drei Kinder, gab ihren Beruf auf. Jungen Frauen würde sie heute nicht dazu raten, nach zehn Jahren Pause sei man keine Softwareentwicklerin mehr.
Esken war Ende 20, als sie SPD-Mitglied wurde, mit 52 Jahren wurde sie erstmals in den Bundestag gewählt, auf Platz 18 der Landesliste. Sechs Jahre später wurde sie dann Parteivorsitzende. Normalerweise eine Personalie, die im engen Führungskreis mit den Ministerpräsident:innen ausbaldowert wird. Doch die SPD war auf der Suche nach sich selbst und nach einem Neuanfang. Die erste Frau an der SPD-Spitze, Andrea Nahles, war gerade faktisch gestürzt worden, die Partei lag am Boden. Also versuchte man es mit einer Doppelspitze, gecastet von der Basis. Gegen jede Wahrscheinlichkeit setzten sich der ehemalige nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans und die kaum bekannte Esken gegen den späteren Kanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz durch.
Ein Quereinstieg, der von den klassischen SPD-Netzwerken nach wie vor misstrauisch beäugt wird. Dass eine Frau es ohne nennenswerte Unterstützung aus Fraktion und Landesverband an die Spitze der Partei geschafft hat, gilt manchen bis heute als eine Art Betriebsunfall.
Die Medien behandeln sie ungnädig
Esken ist nach dem Nahles-Trauma der SPD erst die zweite weibliche Parteichefin und die erste, die von der Basis gewählt wurde. Das macht es Kritikern schwer, zu offensiv ihren Rücktritt zu fordern. Zumal es keine anderen starken Frauen in der SPD gibt, die dieses Amt gerade unbedingt haben wollen. Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern? Will im kommenden Jahr die Landtagswahl gewinnen, was gegen eine derzeit doppelt so starke AfD schwer genug werden wird. Anke Rehlinger, Regierungschefin im Saarland? Kann dort ohne Koalitionspartner frei agieren und sieht eine Doppelspitze mit gemischten Gefühlen. Bärbel Bas, Ex-Bundestagspräsidentin? Hat sich bislang nicht geäußert.
So bleibt Esken auch mangels Alternativen Parteivorsitzende, zumindest bis zum Parteitag im Juni. Selbst Kritiker bescheinigen ihr, dass es ihr gelungen sei, die Groko-müden und tief zerstrittenen Sozialdemokraten zu einen und Regierungskritiker wieder mit der Partei zu versöhnen. Der Wahlsieg 2021 geht auch auf ihr Konto. Warum sind Esken und die SPD trotzdem nicht so richtig miteinander warm geworden?
Es sei ihr nie gelungen, die Herzen der Partei in der Breite für sich zu erwärmen, heißt es aus ihrem Umfeld. Esken kann schroff im Umgang sein, auch Medien gegenüber. Im Gespräch in ihrem Büro kritisiert sie Journalisten, die sie zu unbedachten Äußerungen verleitet hätten oder mit ihren Fragen einen Keil in die Partei treiben wollten. Ab und an wirkt sie wie eine Schildkröte, die sich weiter in den Panzer zurückzieht, je eifriger man mit dem Salatblatt vor ihrer Nase wedelt. Vielleicht kein Wunder – von den Medien wird sie oft ungnädiger behandelt als Klingbeil, Überschriften reichen von „Frau aus Stahl“ bis „SPD-Nervensäge“.
Norbert Walter-Borjans sagt, er habe zwei Eskens kennengelernt. „Eine, die in der Öffentlichkeit verstörend schroff und abweisend wirken kann, und auf der anderen Seite eine verletzliche Frau, die gelernt hat, Demütigungen wegzustecken.“ Was auch ihm auffällt: „Für Saskia Esken gelten Maßstäbe, an denen viele ihrer männlichen Kollegen grandios scheitern würden.“
„Unser Kanzler“
Enttäuscht hat Esken aber auch jene, die auf die Parteilinke als Parteivorsitzende gesetzt hatten, auf eine unorthodoxe Botschafterin ihrer Forderungen. Auf dem Wahlparteitag 2019 versprach sie noch, wieder sozialdemokratische Politik zu machen „Klare Kante! Klarer Kurs! Klare Sprache“. „Wir werden viel Spaß mit ihr haben“ frohlockte damals Kevin Kühnert, in der nach ihm benannten Dokuserie, der als Juso-Vorsitzender tatkräftig die Strippen für die Wahl des Duos Walter-Borjans und Esken gezogen hatte. Doch viel Begeisterung entfacht Esken heute auch bei den Jusos nicht mehr.
„Wir waren in den letzten drei Jahren schon ein ziemlicher Kanzler-Support-Verein“, sagt der jetzige Juso-Vorsitzende Philipp Türmer. Diese Kritik richte er allerdings an die gesamte Führungsebene der SPD. „Saskia Esken hat aber immer wieder ihre Stimme für Vermögens- und Verteilungsgerechtigkeit erhoben und dabei stets den Kontakt gehalten.“
Auffällig war allerdings, wie sehr sich Esken bei jeder Gelegenheit vor „unseren Kanzler“ warf und wie sehr sie ihn und die Regierung in jedes Mikrofon verteidigte. Und dabei wollten ihr viele noch nicht mal zuhören.
Als die SPD Anfang des Jahres Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten wählte, sagte Esken in der Abschlussrede: „Ich bin jeden Tag dankbar, dass wir mit Olaf Scholz einen erfahrenen, besonnenen, einen in seinen Haltungen klar gefestigten Sozialdemokraten im Amt haben.“ Der Umschmeichelte tippte derweil in sein Handy, in den hinteren Reihen verließen Delegierte scharenweise den Saal. Solche Szenen gibt es zuhauf. Im Bundestag kehrt Scholz ihr nach der verlorenen Vertrauensfrage im Dezember den Rücken zu. Zwar ruft er sie später an, entschuldigt sich, und auch sein Umfeld bestätigt, dass er Esken wirklich schätze. Doch die Botschaft ist gesetzt: Saskia Esken kann man ignorieren. Bei den Sondierungsgesprächen sitzt sie, die nur auf dem rechten Ohr hört, links außen am Tisch, die vier Männer sitzen sich gegenüber. Unionschef Friedrich Merz trifft wichtige Absprachen in den Koalitionsverhandlungen mit Klingbeil.
Im Südwesten wird Esken geschätzt
„Das ist nun mal so, in einer Welt der Alphamänner“, sagt Esken. Allein körperlich seien Klingbeil, Merz und Söder auf Augenhöhe, weil alle gleich groß. „Da muss man sich durchzusetzen wissen, aber ich sorge schon dafür, dass ich gehört werde.“
Beobachter:innen sind sich einig, dass Esken keine klassische Netzwerkerin ist. Während Klingbeil äußerlich weich wirkt, aber als knallharter Machtpolitiker gilt, ist Esken das Gegenteil: schroff nach außen, aber intern um Herzlichkeit bemüht. Fühlt sie sich von der Partei getragen? „Ja“, antwortet Esken knapp. Und sagt auf Nachfrage: „Im persönlichen Umgang begegnet mir viel Zuspruch.“
Das Bild von ihr wird freundlicher, je weiter man von Berlin nach Südwesten fährt. Sie könne gut zuhören, lasse andere Meinungen gelten, sei aber auch durchsetzungsstark. Florian Kling ist SPD-Mitglied, amtiert aber als parteiunabhängiger Oberbürgermeister von Calw, dem Wohnort von Saskia Esken. Finanziell sei man Schlusslicht in Baden-Württemberg, sagt Kling, doch 90 Prozent der Investitionen gebe man für Schulen und Kitas aus, das sei im ländlichen Raum ein Standortvorteil. „Wir haben eine hundertprozentige Kitaplatzabdeckung hier, wir sind beinahe so gut wie Ostdeutschland.“ Ohne Esken wären während der Pandemie nicht alle Schulen der Stadt binnen weniger Monate mit Tablets und Glasfaseranschluss versorgt worden.
Als die Schulen 2020 im Eiltempo auf digitales Lernen umstellen mussten, setzte die damalige Kanzlerin Angela Merkel lieber auf die Expertise der einstigen Softwareentwicklerin Esken als auf die ihrer Parteifreundin Anja Karliczek, der damaligen Bundesbildungsministerin. Merkel und Esken trafen sich im Kanzleramt, machten mit den Ländern im Spätsommer einen 1,5 Milliarden schweren zweiten Digitalpakt klar.
„Ich bin sehr glücklich über ihren Einfluss im Bund“, sagt Kling. Überhaupt habe der Bund in den letzten Jahren mehr für Bildungspolitik getan als das Land: das Startchancen-Programm für benachteiligte Schulen, der Digitalpakt, der Anspruch auf Ganztagsbetreuung – „und hinter allem stand Saskia Esken“.
Genau wie Templ würde Kling sich freuen, wenn Esken Bildungsministerin würde. Interesse an dem Job, der im föderalen Deutschland viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Ländern erfordert, soll sie schon 2021 gehabt haben. Esken selbst sagt dazu nur: „Die Personalfragen klären wir ganz am Ende der Koalitionsverhandlungen.“ Ob sie im Juni erneut als Parteivorsitzende antreten wird, verrät sie nicht. Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass sie noch mal gewählt würde. In der Politik, sagt Esken, wolle sie bleiben. „Einen anderen Beruf habe ich nicht vor zu ergreifen.“
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