
Sexualisierte Gewalt im Profifußball: Und alle so still
Gegen Fußball-Stars gibt es oft schwere Vorwürfe. Viele werden nicht aufgeklärt. Recherche über ein System des Schweigens – und mögliche Lösungen.
S tuttgart, ein Samstagnachmittag im Januar. Ein Pulk Menschen strömt in klirrender Kälte Richtung Stadion. Aus Fast-Food-Buden plärren Schlager, ein Verkäufer preist seine Trikots an. Eine Gruppe angereister Fans grölt herum – die dritte und vierte Zeile des Lieds „Von den blauen Bergen kommen wir“ dichten sie um in: „Und wir spritzen unseren Samen in den Unterleib der Damen.“
Ein Spieltag wie viele in der Fußball-Bundesliga der Männer. Der VfB Stuttgart spielt gegen den SC Freiburg. Der Fanshop ist gepflastert mit überlebensgroßen Porträts der Spieler. Direkt am Ausgang hängt das Bild des Kapitäns, Atakan Karazor. Gegen Karazor wird in Spanien strafrechtlich ermittelt. Eine 18-jährige Frau hatte im Juni 2022 auf Ibiza Anzeige gegen ihn erstattet.
Der Vorwurf: Karazor und ein Freund hätten sie in der Vornacht gemeinsam in einer Villa auf der Ferieninsel vergewaltigt. Der Spieler selbst erklärte, der Sex sei einvernehmlich gewesen, gestützt von einer Zeugin. Es gilt die Unschuldsvermutung. Mittlerweile wird wegen sexueller Nötigung ermittelt. Der VfB hat den Spieler zur Saison 2024/25 zum Kapitän gemacht und stellt sich seit Beginn des Verfahrens hinter ihn.
Das hier ist kein Text über Atakan Karazor oder die Frage, was auf Ibiza geschah. Es geht um ein System – und wie es mit sexualisierter oder misogyner Gewalt umgeht. Denn es gibt viele Spitzenprofis, gegen die Ermittlungen liefen. Auch gegen internationale Superstars wie Cristiano Ronaldo oder Neymar.
2019 zeigte ein Model Neymar mit dem Vorwurf der Vergewaltigung an, die Ermittlungen wurden aufgrund fehlender Beweise eingestellt. Ex-Model Kathryn Mayorga wirft Cristiano Ronaldo eine Vergewaltigung vor, die er 2009 in Las Vegas begangen haben soll. Ronaldo zahlte ihr 375.000 Dollar Schweigegeld. Ein späteres Strafverfahren und ein Zivilprozess wurden eingestellt.
Zwei ehemalige brasilianische Nationalspieler landeten sogar im Gefängnis. Dani Alves wegen Vergewaltigung – gegen Zahlung einer Kaution wurde er entlassen – und Robinho wegen Teilnahme an einer Gruppenvergewaltigung.
Die meisten Vorwürfe enden allerdings ungeklärt. In Schweigen. Bei kaum einem kommt es zu einer Verurteilung. Warum?
Weil Beweisführung schwierig ist und am Ende oft Aussage gegen Aussage steht. Weil Stars eine wertvolle Ware sind und ihre Klubs sie schützen. Weil die Grenze zwischen Einvernehmen und Übergriff gerade bei den branchenüblichen Partybekanntschaften schnell verschwimmt. Weil vielleicht manche Frau lügt in der Hoffnung auf Schweigegeld. Und weil die Stars eine immense Macht haben. Mit ihren großen Fanscharen, guten Medienkontakten, teuren Anwälten und Verschwiegenheitsverpflichtungen für die Partnerinnen. Eine Recherche von Correctiv und Süddeutscher Zeitung aus dem Jahr 2022 zeigte, wie „Spielerfrauen“ bei Gewalterfahrungen mundtot gemacht werden.
Doch die aktuellen Fälle finden in einem neuen Spannungsfeld statt. #MeToo ist auch im Profifußball angekommen, einerseits. Medien und aktive Fanszenen, aber auch Einzelkämpfer:innen in den Klubs setzen das Thema auf die Agenda. Viele Klubs haben neue Awareness-Konzepte im Stadion. Gegen manch beschuldigten Spieler gibt es kritische Banner und Fanproteste.
Andererseits hat der gesellschaftliche Rechtsruck die Fronten noch weiter verhärtet. Sexualisierte und misogyne Gewalt werden zunehmend als „woke“ Themen diffamiert. Der moralische Furor ist auch im progressiven Lager größer geworden: Für Frauen, die sonst kritisch auf die Institution Gefängnis schauen, können beim Thema sexualisierte Gewalt die Haftstrafen oft gar nicht hoch genug sein. Im Fußball sähen manche gern, dass jeder verdächtigte Spieler bis zur Klärung der Vorwürfe nicht mehr spielen darf, Unschuldsvermutung hin oder her. Es geht in diesem Text also um zwei Fragen: Wie agiert dieses System bei Gewaltvorwürfen? Und was wäre ein guter Umgang?
Nicht weit vom Fanshop, an dem das Poster von Atakan Karazor hängt, sitzen zwei weibliche Fans um die 50 und rauchen. „Wenn die Anschuldigung stimmt, sollte er kein Kapitän sein“, sagt die eine auf Nachfrage. „Aber so was stimmt ja auch nicht immer. Die Ex-Freundinnen hauen da ja oft drauf.“ Sie glaube nicht, dass Karazor was gemacht hat, der sei „so ein Lieber“. Beide sind sich sicher, dass das Schweigen des Vereins der Beleg sei, dass da nichts ist. In eine Debatte über den Kapitän möchten sie als weibliche Fans nicht einbezogen werden – sie fänden es gut, wie „familiär“ der Klub das löst.
Vergleichbar äußern sich einige Fans an diesem Tag: Atakan Karazor sei unschuldig, solange es keine Verurteilung gebe – und so lange sei es für sie kein Thema. Vielen ist nicht bewusst, wie niedrig die Aufklärungsquote bei Übergriffen ist und dass eingestellte Ermittlungen nicht mit einem Freispruch gleichzusetzen sind.
Einen erwiesenen Vergewaltiger würden hier wenige tolerieren. Auffällig aber ist, wie viele Fans die Überzeugung äußern, dass es sich bei den meisten Anschuldigungen um Lügen handelt. Und Medien viel zu schnell Vorwürfe erheben würden. „Es gibt viele Schmalzfliegen, die die Reichweite von Männern ausnutzen und Geld wollen“, sagt einer.
Zahlreiche Anhänger:innen implizieren, Atakan Karazor sei das Opfer, Frau und Medien seien die Täter. In den gemischten Fangruppen sind es immer die Männer, die zuerst das Wort ergreifen. Eine Gruppe älterer Herren schaukelt sich im Gespräch gegenseitig hoch. Einer sagt, es habe den Verein nicht zu interessieren, was Karazor privat mache: „Der Arbeitgeber muss sich doch auch nicht damit beschäftigen, wenn du hacke Auto fährst.“ Nur einmal bietet eine Frau um die 30 einem Mann in der Debatte die Stirn, spricht hartnäckig davon, wie wichtig es sei, Opfern zu glauben. Vom Rest der Gruppe springt ihr niemand bei.

Dabei gibt es durchaus kritische Engagierte im Stuttgarter Umfeld. Julia zum Beispiel. Sie spricht regelmäßig über den Fall Karazor. Das Thema gehe ihr nahe, ebenso wie den anderen Fanfrauen, mit denen sie sich trifft. Die 34-Jährige ist seit vielen Jahren VfB-Stuttgart-Fan. Sie habe selbst schon Übergriffe im Stadion erlebt, erzählt sie. Ein Dauerthema. Vor rund einem halben Jahr machte Julia mit etwa acht anderen Fanfrauen einen Safe Space auf, wo sie sich treffen und über ihre Erfahrungen austauschen. Die Frauen finden das Schweigen ihres Klubs zu den Vorwürfen gegen Karazor feige. „Man tut so, als ob gar nichts wäre“, sagt Julia. Es sei richtig, dass er spielen darf, aber nicht als Kapitän, das sei „wie ein Freispruch“. Zu ihrem Schutz möchte Julia nur mit Vornamen genannt werden.
Das bisherige Awareness-Konzept des Klubs findet sie ungenügend. Bei dem Übergriff, den sie kürzlich erleben musste, sei die Hilfenummer wegen Netzüberlastung nicht erreichbar und Security zu weit weg gewesen. Außerdem lache diese bisweilen eher, statt zu helfen. „Wir Frauen fühlen uns als Fans zweiter Klasse.“ Es würde viel verändern, wenn eine große Ultragruppe sich des Themas Karazor annehmen würde, glaubt Julia. „Doch sie sind sehr männerdominiert und glauben, es betrifft sie nicht.“ Anfragen an zwei Stuttgarter Ultragruppen im Rahmen dieser Recherche blieben unbeantwortet.
Warum üben Julia und ihre Freundinnen keine öffentliche Kritik? „Wir haben überlegt, das mal auf der Mitgliederversammlung anzusprechen. Aber wir haben Angst, dass uns die Männer belächeln, mit dem Finger auf uns zeigen, dass wir zur Zielscheibe werden.“ Sie berichtet, dass der Ton in der Kurve mit dem Rechtsruck rauer geworden sei. „Immer mehr engagierte Leute ziehen sich zurück.“ Auch sie fühle sich erschöpft. Dabei sehe sie durchaus Fortschritte im Umgang des VfB mit gesellschaftlichen Themen, auch seien viele junge Männer heute beim Thema sexualisierte Gewalt kompetenter und hilfsbereiter. Die Mitgliederversammlung des VfB findet am 22. März statt. Ob dort jemand wagt, das Schweigen zu brechen?
In der Türkei war die Dynamik beim Fall Karazor anders. Eigentlich sollte er türkischer Nationalspieler werden, durfte im vergangenen Herbst jedoch nicht debütieren. Grund waren wohl auch die Fanproteste: Nach seiner Nominierung gab es im Netz einen feministischen Shitstorm. In Deutschland wies lediglich ein Fanbanner auf die kontroverse Personalie hin. 2022 hielten Anhänger:innen von Werder Bremen bei einem Spiel gegen Stuttgart ein Plakat mit der Aufschrift „Kein Schutz für Täter. Solidarität mit Betroffenen“. Eine ungerechte Formulierung, denn Karazor ist kein erwiesener Täter. Der VfB reagierte allergisch, Sportdirektor Alexander Wehrle sprach von „Vorverurteilung“. Ähnlich wie auch viele Fans.
Der Ton, den ein Verein setzt, ist nicht egal. Es hätte andere Möglichkeiten gegeben, als eine Wagenburg zu errichten. Offiziell möchten Wehrle und Karazor nicht mit der taz sprechen. Mit Wehrle gab es ein Hintergrundgespräch, aus dem keine Informationen in diesem Text stehen dürfen. Das ist immer noch mehr, als andere Klubs anbieten. Die Routine vieler Vereine: alles abblocken.
Fatales Signal an Betroffene
Frankfurt am Main, eine Pressekonferenz Ende Januar. Ein bisschen hibbelig sitzt der 22-jährige französische Stürmer Elye Wahi auf seinem Stuhl, während er die Fragen der Journalist:innen beantwortet. Er wird als Neuzugang bei Eintracht Frankfurt vorgestellt, ein 25-Millionen-Mann, der teuerste in der Vereinsgeschichte. Nach gut einer Viertelstunde sportlichen Geplänkels fragt ein Journalist zum „ein oder anderen Vorfall“ aus der Vergangenheit. Tatsächlich geht es um sexualisierte sowie misogyne Gewalt.
2018 soll Elye Wahi Mitschüler in sexualisierter Weise gedemütigt haben, in der Folge flog er aus der Schule und dem Klub. Weil Wahi damals minderjährig war, soll hier nicht die konkrete Tat stehen. 2021 erstattete eine Frau Anzeige. Der Vorwurf: Elye Wahi habe sie vor einem Nachtclub ins Gesicht geschlagen. Seine Begleiter bestritten dies, die Ermittlungen wurden eingestellt. Eintracht Frankfurt hat all das im Zuge der Verpflichtung nicht erwähnt. Elye Wahi antwortet auf die Frage: „Ich denke, es ist gerade nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden.“
Wahi ist der zweite aktuelle Bundesligaspieler, gegen den es eine Anzeige wegen sexualisierter oder misogyner Gewalt gab. Der dritte ist der Mainzer Kaishu Sano. Er saß 2024 in Japan in U-Haft. Sano wurde verdächtigt, mit zwei Freunden in einem Hotel in Tokio einen sexuellen Übergriff auf eine Frau begangen zu haben. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Der Klub äußerte sich zunächst nicht. Mainzer Ultras adressierten ein Protestschreiben an den Verein. Betroffene würden mundtot gemacht, heißt es darin, die wirtschaftliche Situation eines Klubs stehe „wie immer über allem“. Und: „Stellt es nicht sogar eine Täter-Opfer-Umkehr dar, wenn Sano ohne Weiteres in die Mannschaft integriert wird und lediglich ‚seine Strapazen‘ thematisiert werden?“ All das sende ein fatales Signal an alle Betroffenen, das Vereinsumfeld und die Gesellschaft.
Mainz 05 rechtfertigte sich daraufhin mit den eingestellten Ermittlungen und eröffnete gleich eine Drohkulisse: „Gegen falsche öffentliche Anschuldigungen, die uns als Vorstand betreffen, werden wir uns gegebenenfalls juristisch zur Wehr setzen.“ Ein vierter Spieler, dessen Name bisher nicht öffentlich bestätigt ist, verpflichtet vom FC Augsburg. Gegen ihn wird seit Februar wegen sexuellen Fehlverhaltens ermittelt. In der Berichterstattung zur Männer-Bundesliga ist der Fall kein Thema.
Die taz hat den Frankfurter Sportvorstand Markus Krösche sowie Elye Wahi für ein Gespräch angefragt. Darin sollte es nicht um die Vergangenheit oder ein moralisches Kreuzverhör gehen, sondern um die Gegenwart. Um Leitlinien bei der Eintracht, was die Verpflichtung von beschuldigten Spielern angeht. Um rote Linien. Um mögliche Schulungen und Bildungsmaßnahmen im Klub. Darum, wie Elye Wahi die Diskussionen um ihn wahrnimmt. Auch der FC Augsburg wurde für die Recherche angefragt. Beide Klubs lehnten ein Gespräch ab.
Eintracht Frankfurt antwortete schriftlich. Man stehe „lebhaft“ für Toleranz und Gleichberechtigung, „daher wurden selbstverständlich mit dem Spieler und seinem Umfeld Gespräche geführt, die auch außersportliche Lebensbereiche betreffen“. Man spreche aber nicht öffentlich über einzelne Spieler. Zu Elye Wahi heißt es noch: „Wir haben keinerlei Befürchtungen, dass misogyne Verhaltensmuster vorliegen, und sind uns sicher, dass wir in den kommenden Jahren ein positives Miteinander ohne jegliche Störgeräusche haben werden.“
Den Spieler einfach ins Ausland verkaufen
Der FC Augsburg verwies lediglich auf seine Pressemitteilung. Man wolle sich zu Leitlinien, Weiterbildungen und Ähnlichem nicht äußern, „da dies immer in Zusammenhang mit dem aktuellen Fall gebracht werden würde. Sie können jedoch davon ausgehen, dass wir sehr sensibel mit solchen Themen umgehen und auch entsprechende Prozesse intern hierfür haben.“ Dass Klubs ihre Angestellten schützen wollen, ist verständlich. Aber wäre es nicht auch für deren Image glaubwürdiger, wenn transparent würde, wie ernst man das Thema nimmt?
Wenn der öffentliche Druck dann doch mal zu groß wird, verkaufen viele Vereine das Problem – den Spieler – ins Ausland, wo der Fall idealerweise kaum in den Medien war. Und die Liga sich über einen günstigen Deal freut.
Ein Beispiel ist der Engländer Mason Greenwood. Gegen den Manchester-United-Profi wurde 2022 Anklage wegen versuchter Vergewaltigung, Körperverletzung und Nötigung erhoben (und später fallen gelassen). Der Klub verkaufte ihn nach Marseille. Bei Bayern-Profi Jérôme Boateng lief es ähnlich. Ihm hatten zwei Ex-Partnerinnen Gewalt vorgeworfen, er wurde Mitte 2024 wegen vorsätzlicher Körperverletzung verwarnt. Nun kickt er in Österreich beim Linzer ASK. Eine Rückkehr zum FC Bayern, der sich erst offen gezeigt hatte, war am Fanwiderstand gescheitert. Man könnte die Reihe fortführen. Sie macht deutlich, wie wichtig und einflussreich die Positionierung der Fanszene ist.
Beim VfB Stuttgart spricht auch Sarah über den Fall Karazor. Sie ist Podcasterin und wird zu ihrem Schutz ebenfalls nur mit Vornamen genannt. Sarah sagt, in einzelnen Bubbles gebe es schon Kritik am Umgang, vor allem an der „totalen Nicht-Kommunikation“ und dem Kapitänsamt. Auch sie hat darüber nachgedacht, das Thema bei der Mitgliederversammlung anzusprechen – und sich dagegen entschieden: „Ich fühle mich dann nicht mehr sicher in der Kurve, wenn ich mich äußere.“ Als sie sich im Jahr 2022 öffentlich in mehreren Medien zu erlebten Übergriffen im Stadion äußerte, habe sie sich im Block Sprüche wie „Wenn ich dich berühre, zeig mich nicht an“ anhören müssen.
Fan Julia wünscht sich derweil Glaubwürdigkeit und Transparenz. Dass der VfB proaktiv Updates zum Fall gibt, dass der Klub einen Dialog mit Fans anbietet, dass ein Spieler sich beim Thema sexualisierte Gewalt engagiert. Sie fände es gut, wenn auch Atakan Karazor die Wichtigkeit des Themas betont.
„Das Thema muss öffentlich diskutiert werden“, sagt auch die ehemalige grüne Landtags-Vizepräsidentin und Dauerkarteninhaberin Brigitte Lösch. Sie kritisiert die Entscheidung des Vereins, sich bedingungslos hinter Karazor zu stellen. Lösch fordert, im Rahmen des mit der Frauenberatungsstelle entwickelten VfB-Gewaltschutzkonzepts „Dächle“ Schulungen vom Vorstand bis zur Security durchzuführen.
Das „Dächle“ wurde zur Saison 2022/23 eingeführt und beinhaltet ein Awareness-Team an Heimspieltagen, ein Hilfetelefon sowie einen Mailkontakt außerhalb der Spieltage. Auf Anfrage äußert sich die Fanbeauftragte, dass es aufgrund der hohen Fluktuation nicht zweckmäßig sei, Ordner:innen direkt zu schulen. Jedoch sei das Ordnungspersonal über das „Dächle“ informiert. Auch Klubvorstände seien mit dem Konzept vertraut.
Lösch fordert auch einen Leitfaden für den Umgang mit Fällen und mehr Sensibilisierung für Spieler. Eine Organisation, die Schulungen zu sexualisierter Gewalt explizit für Nachwuchsprofis anbietet, ist mehreren von der taz angefragten Fußballorganisationen nicht bekannt.
Die meisten Klubs, in denen es Kontroversen um einen Profi gibt, haben auch ein Frauenteam. Was haben sie zu alldem zu sagen?
Es ist nicht leicht, Spielerinnen bei betroffenen Vereinen zu finden, die sich zu dem Thema äußern möchten. Nicht mal anonym. Auch hier fanden Hintergrundgespräche für diesen Text statt. Demnach variiert, ob ein Fall überhaupt Thema im Frauenteam ist. Aber selbst wenn, wagt es keine Spielerin, öffentlich Kritik zu üben. Eine Person, die sich im Frauenfußball gut auskennt, sieht zudem einen kulturellen Unterschied: „In Deutschland sprechen Spielerinnen nicht öffentlich über so was, anders als zum Beispiel in den USA, aus Angst vor Konsequenzen durch ihre Klubs.“ Schilderungen legen nahe, dass diese Angst begründet ist. Und eine Person, die den Frauenteams des VfB nahesteht, sagt, es gehe auch dort sehr hierarchisch zu. „Hinter der Hand wurde über die Personalie schon getuschelt.“
Es gibt eine Ex-Spielerin, die den Kampf dennoch aufgenommen hat: Die ehemalige Torhüterin und heutige Torfrautrainerin Alisha Jahn vom FC Blau-Weiß Linz/Kleinmünchen. Sie erlangte kurzzeitig Berühmtheit auf Social Media, als sie zum Spiel des Blau-Weiß-Frauenteams gegen den Linzer ASK – wo Jérôme Boateng jetzt angestellt ist – mit der Aufschrift „Kasia Lenhardt“ auf ihrer Jacke erschien.
Kasia Lenhardt, ehemalige Lebensgefährtin von Jérôme Boateng, hatte nach Medienhetze durch ihren Ex-Partner Suizid begangen. Jahn sagt, sie habe damals viel Zustimmung bekommen. „Die Medien waren kurz ganz Ohr, aber binnen Stunden war’s dann auch wieder vorbei.“ Fans in der ganzen Bundesliga hätten Protest angekündigt, dem sei aber wenig gefolgt.
Der Fall Linz und Boateng ist einer der heftigsten unter diesen sehr unterschiedlichen Fällen. Jérôme Boateng wurde wegen Körperverletzung verwarnt, Investigativ-Journalist:innen vom Spiegel haben starke Indizien dafür gefunden, dass er physische und psychische Gewalt gegen Frauen ausgeübt hat. Wohl auch deshalb war der Widerstand hier größer als anderswo: Ein Ultra-Kollektiv protestierte gegen den Transfer, ein Fanblog veröffentlichte ein anonymes Protestschreiben, bei seinen seltenen Einsätzen wird Boateng ausgepfiffen. LASK-Fans sammelten rund 31.000 Euro für das Projekt StoP Linz (Stadtteile ohne Partnergewalt) des Linzer Frauenhauses.
Der Transfer habe zu einer Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Frauen geführt, erklärt Jahn. Und doch soll Jérôme Boateng nun als U19-Coach beim LASK anfangen. „Ich fasse es immer noch nicht. Ich bin wütend“, schreibt Jahn. Wie kann es sein, fragt sie sich, dass sie als ehrenamtliche Betreuerin für Jugendarbeit einen erweiterten Strafregisterauszug abgeben muss – aber bei dem Star ist das offenbar egal? Der Verein lässt eine Anfrage dazu unbeantwortet. Jahn will weitermachen, sie sei mit NGOs in Kontakt, habe eine Petition aufgesetzt. Und sie fordert von Profiklubs ein Durchgreifen schon bei Verdachtsfällen: „Den Spieler so lang auf Eis legen, bis die Vorwürfe geklärt sind.“
Aber was, wenn diese Vorwürfe nicht klärbar sind? Bei allem berechtigten Wunsch nach deutlichen Zeichen und starkem Handeln wird wenig über Wiedereingliederung gesprochen. Dabei geht es hier doch um junge Menschen, die all ihre Freizeit und Jugend für den Traum einer Profikarriere geopfert haben. Ein Quasiberufsverbot wegen einer möglichen Straftat wäre drakonisch.
Eine zweite Chance zu bekommen, ist ein urdemokratischer Gedanke. Aber dritte, vierte und fünfte Chancen? In den Gesprächen mit weiblichen Fans sagen viele: Ein möglicher Wiederholungstäter wie Boateng, der sich zudem öffentlich völlig uneinsichtig zeigt, sollte nicht mehr als Vorbildfigur im Spitzenfußball aktiv sein dürfen. Es gibt einen Punkt, ab dem die Grenzziehung einer Gesellschaft wichtiger wird als das Schicksal eines Einzelnen. Aber wo liegt der?
Nicht viele Klubs setzen sich differenziert mit so einer Frage auseinander. Aber es gibt sie.
Klubs sind keine Streetworker
Jermaine Greene sagt, er sei ein Freund davon, von Fall zu Fall zu entscheiden. „Eine Schablone gibt es nicht.“ Greene ist gelernter Sozialarbeiter, Fan- und Antidiskriminierungsbeauftragter bei Werder Bremen, einem Klub, der als progressiv gilt, auch wegen seiner aktiven Fanszene.
Greene glaubt in vielen Fällen an eine zweite Chance, aber unter Bedingungen: „Uns ist es wichtig, dass die Einsicht aufrichtig ist. Dass die Person sich bessern möchte und verstanden hat, warum etwas nicht okay ist.“ Im Fußball erlebt er das mitunter anders: „Teils habe ich das Gefühl, Spieler werden begnadigt, und dann geht es weiter.“ Eine Resozialisierung müsse auch nicht bei jedem auf der großen Plattform stattfinden.
Die Sache mit der aufrichtigen Einsicht ist bei Werder mehr als nur Theorie. Im Jahr 2024 verpflichtete der Klub einen Jugendspieler, der bei einem anderen Verein im Zuge eines rassistischen Vorfalls rausgeflogen war. Werder entschied sich für etwas Bemerkenswertes im Spitzenfußball: Der Verein führte mit dem Spieler soziale Maßnahmen durch. Greene hat sie initiiert und den Nachwuchsspieler betreut. Der Spieler habe Input zum gesellschaftlichen Engagement des Klubs bekommen, regelmäßig in Greenes Abteilung mitgearbeitet und mehrere Antirassismus-Workshops besucht. Am Ende habe er vor seinem Team eine Präsentation zu einem selbstgewählten Thema gehalten. „Mir war wichtig, dass wir uns mit ihm beschäftigen und dass er dahintersteht.“ Und er rechnet dem Jugendlichen hoch an, dass er diesen Weg mitging, obwohl er woanders ohne Maßnahme hätte kicken können. Greene weiß auch, dass diese Idee Grenzen hat: „Wenn wir jemanden nicht nehmen, findet er einen anderen Verein.
Klubs sind keine Streetworker.“ Er glaubt, man müsse im Kampf gegen sexualisierte und misogyne Gewalt bereits bei den Grundfesten ansetzen. „Toxische Männlichkeit zieht sich im Fußball durch die Strukturen.“ Häufig sieht er sich mit dem Satz konfrontiert, dass es in der Kabine doch bereits Völkerverständigung und Diversity gebe. „Aber ein diverses Team kann zusammen toxische Männlichkeit ausüben.“
Es gibt keine Zahlen dazu, ob Profifußballer überdurchschnittlich oft mit sexualisierter oder misogyner Gewalt auffällig werden. Aber immer wieder kritisieren Gesprächspartner:innen die patriarchale Prägung, die Tausende Jungs hier durchlaufen. Viele Fußballer leben ab dem Alter von 13 oder 14 Jahren in einer Bubble, die fast nur aus Männern besteht, mit einem archaischen, hierarchischen Männlichkeitsbild. Sie haben kaum Kapazität für Horizonterweiterung, nicht selten ermutigen Berater und Klubs ihre Klienten zu einer „stabilen“ Partnerbeziehung mit Kindern. Ihre Partnerinnen, meist noch junge Frauen, sind oft hochgradig finanziell vom reichen Mann abhängig, ziehen mit dem Spieler an dessen Arbeitsort, erfüllen ein Hausfrauendasein. Es ist nicht nur ein Bildungsproblem, sondern ein Strukturproblem. Umso mehr, wenn diese Ex-Profis heute Entscheider sind.
Um Männlichkeitsbilder zumindest etwas aufzulösen, fordert Jermaine Greene mehr Bildungsarbeit in Nachwuchszentren. „Es braucht noch mehr pädagogische Betreuung und weitere Aufklärung, die sich direkt an die Klientel richtet.“ Er könnte sich externe Schulungen vorstellen. Wichtig seien auch im Breitensport Trainer:innen, die die Themen in die Teams tragen. Bei den Lehrgängen für die A-, B- und C-Trainer-Lizenz müsse die Auseinandersetzung mit Diskriminierung, männlichen Rollenbildern und sexualisierter Gewalt mehr im Fokus der Ausbildung stehen, fordert er. Auch könne mehr geschlechtergemischter Fußball enorm helfen. „Es braucht ein anderes Mindset.“
Das kann aber erst dann entstehen, wenn Schweigen und Leugnen ein Ende haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leistungsloses Einkommen
Warum Erben lieber über „Neid“ reden als über Gerechtigkeit
Israels Krieg im Gazastreifen
Hunderte Tote nach zwei Tagen israelischen Bombardements
Anwälte vor Prozess gegen Daniela Klette
„Hier wird eine RAF 2.0 konstruiert“
Tödliche Schüsse der Polizei
Musste Najib Boubaker sterben?
Kosten der Wehrpflicht
Löhne rauf – auch beim Bund
Tod und Terror im Nahen Osten
Schweigen ist nicht neutral