piwik no script img

Gothic-RevivalSchmerz, schwarz und schwärzer

Verlangen düstere Zeiten nach düsterer Musik? Das schwelende Revival von Gothic in Musik, Film und Mode zeigt, dass es immer noch dunkler werden kann.

Viel Haarspray bei Harsh Symmetry Foto: Promo

Der Anfang lässt sich, wie so oft, nicht an einem konkreten Ereignis festmachen. Es lag etwas in der Luft, Ende der 1970er Jahre im krisengeschüttelten England der Thatcher-Zeit. Etwas Düsteres, das sein Echo in einer neuen Art von Musik fand, die zunächst noch keinen Genre­namen hatte.

„Bela Lugosi’s Dead“, 1979 aufgenommen von der Postpunk-Band Bauhaus, wurde im Nachhinein als Geburtsstunde des neuen Genres bezeichnet und zum ersten Gothic-Song aller Zeiten erklärt. Neun Minuten dubbiges Knarzen, Grollen und Rattern, dazu Peter Murphys Stimme, die dämonengleich den Dracula-Darsteller beerdigt.

„Goth und Post-Punk erlaubten es uns als Teenagern, eigene Ängste und Sehnsüchte, die unter der intensiven Oberfläche brodelten, zu offenbaren.“ So beschreibt Lol Tolhurst in „Goth. A History“, was den Reiz der Musik damals ausmachte. In dem 2023 veröffentlichten Buch zeichnet der britische Gitarrist, der 1976 gemeinsam mit Sänger Robert Smith die Band The Cure gründete, aus seiner Per­spektive die Geschichte des Genres nach. Liest man es heute, erscheint es etwas weniger überraschend, dass Gothic momentan so etwas wie ein Revival erlebt.

The Cure sind wieder da

Was soll man denn auch sonst hören, in Zeiten, in denen wieder fast jeden Tag neue Gründe dazukommen, an der Welt zu verzweifeln? Selbst Tolhursts frühere Band – er verließ The Cure bereits 1989 – ließ vor Kurzem nach 16 Jahren Pause wieder von sich hören. Als Reaktion auf die Zustände?

Die finsteren Gothic-Alben

Molchat Doma: „Belaya Polosa/ Белая Полоса“ (Sacred Bones/Cargo)

Harsh Symmetry: „On-Screen Death“ (Eigenverlag)

Night in Athens: „Wasted Reflektions“ (Young & Cold/Wave Records/Audioglobe)

Die Selektion: „Zeuge aus Licht (Club Edits)“ (Der Katalog)

Die Schwermut, der sich Robert Smith auf den „Songs of a Lost World“ hingibt, mag zwar eigentlich eher von persönlichen Schicksalsschlägen und weniger von Weltschmerz angesichts der politischen Gesamtlage oder des beklagenswerten Zustandes des Planeten genährt worden sein. Einen Nerv trafen die alten Herren mit ihrem Geheul dennoch.

Auch die Ästhetik der Goths ist inzwischen wieder überall zu finden. Man muss dafür keine Sargdeckel anheben. Spätestens seit Jenna Ortega 2022 in der Netflix-Serie „Wednesday“ in Bewegungen, die sie sich – natürlich – von Sängerin Siouxie Sioux abgeguckt hatte, zum Song „Goo Goo Muck“ der US-Garagenband The Cramps tanzte und die Tiktok-Gemeinde es ihr nachmachte, ist die Gothic-Subkultur, deren Hochzeit in den 1980er und 90er Jahren zu verorten ist, von den Untoten erwacht.

Viktorianisch hoher Kragen

Momentan ist es der Hype um Robert Eggers’ „Nosferatu“-Neuverfilmung, der den Plot weitertreibt. Und die Mode. Balenciaga präsentierte unlängst so spitz zulaufende Schuhe, dass die Pikes, wie sie früher zu den Erkennungsmerkmalen der Grufties gehörten, im Vergleich bequem aussehen; außerdem noch schwarze Spitze, Samt und Leder sowie Technoversionen viktorianisch hoher Kragen. Tragbarere, günstigere Varianten vampiresker Mode gibt es bei den Fast-Fashion-Ketten. Mall-Goths nannte man das mal, als es noch in Einkaufszentren zum Shoppen ging.

„Goth hat das Undenkbare getan. Nach Jahren des Herumlungerns in der kulturellen Wildnis, ist Goth, dank der zunehmend düsteren Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, gepaart mit einem noch nie dagewesenen Livestream-Zugang zu Kultur, wie sie sich abspielt, endlich in den Mainstream gestürzt.“

Das behauptet zumindest Tish Weinstock, eine 34-jährige Londoner Beautyredakteurin, die unter anderem für die britische Vogue schreibt und kürzlich einen Mode- und Stilratgeber namens „How to Be a Goth: Notes on Undead Style“ veröffentlichte. In einer postsubkulturellen Welt, so argumentiert Weinstock, sei es längst nicht mehr notwendig, nur Goth-Musik zu hören und sich strikt in Schwarz zu kleiden: Gothic sei allgegenwärtig, man könne nach Belieben in die Kultur eintauchen und sie wieder verlassen.

Nicht aus der Gruft, sondern aus Minsk

Ältere Goths, die der Szene seit Jahrzehnten die Treue halten, würden sicher protestieren. So oder so – lange sprach nicht mehr so viel dafür, zum Teilzeit-Goth zu werden. Eine der interessantesten Bands gründeten Egor Shkutko, Roman Komogortsev und Pavel Kozlov 2017 im belarussischen Minsk: Molchat Doma.

Ihr Debütalbum „S krysh nashikh domov / С крыш наших домов“ erschien noch im Selbstverlag. Ein Amalgam aus regimekritischem Sowjet-Rock der 1980er, Synthie-Pop, Post-Punk und Dark Wave. Eine musikalische Übersetzung der Postsowjet-Tristesse, der dunkelsten Flecken der belarussischen Seele, die über Youtube und Tiktok viral ging und so auch ein junges westliches Publikum erreichte – trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer russischen Songtexte.

Handschuhe sind Pflicht: Night in Athens Foto: Promo

Dystopische Dringlichkeit

Seit 2020 leben Molchat Doma im US-Exil in Kalifornien. Dort veröffentlichten sie im September nach längerer Pause das Album „Belaya Polosa / Белая Полоса“ (deutscher Titel „Weiße Linie“) bei Sacred Bones Records. Explizit sprechen die drei Musiker es zwar nicht an, doch die politische Situation, mit der sie als Künstler konfrontiert sind – die Verhältnisse in Belarus, die Repressionen, mit denen sie dort wegen ihrer klaren Haltung gegen den russischen Angriffskrieg rechnen müssten, das Exil, die Ungewissheit – spielt mit hinein, verleiht ihrem dystopischen Sound noch mehr Dringlichkeit.

Ob man die Songtexte nun versteht oder nicht. Überhaupt scheint die Szene kaum Sprachbarrieren zu kennen. Seit 2006 aktiv ist die türkischsprachige Gothic-Rockband She Past Away. Hochgeschätzt ist auch das isländische Trio Kælan Mikla aus Reykjavík, das Robert Smith einmal als seine Lieblingsband bezeichnet hat. Drei selbsternannte Hexen, die sphärisch über hypnotische Synthie-Klanglandschaften singen – auf Isländisch.

Jüngere Acts kommen oft aus London oder Los Angeles. Dort lebt auch Julian Sharwarko, der sich Harsh Symmetry nennt. Mit seinem hochtoupierten platinblonden Schopf und kajalumrandeten Augen sieht er nicht nur so aus, als habe man ihn aus den frühen 1980ern ins Hier und Jetzt gebeamt, er klingt auch so.

Wie New Order, The Cure oder Echo & the Bunnymen, aber eben in der Gen-Z-Version. Zwei Alben hat Sharwarko bereits bei Fabrika Records veröffentlicht und diese Anfang des Jahres um die keine 20 Minuten lange, selbstveröffentlichte, herrlich nostalgisch anmutende EP „On-Screen Death“ ergänzt.

Dämonen exorzieren

In London zu Hause ist Tina Boleti, die zunächst Keyboard in verschiedenen lokalen Punkbands spielte. Dann kamen Covid-19 und die Lockdowns. Die Künstlerin nutzte die Zeit, mit elektronischer Musik zu experimentieren und – wie sie es ausdrückt – „ihre Dämonen zu exor­zieren.“ Night in Athens nennt die gebürtige Griechin das Soloprojekt, das sie auf diese Weise heraufbeschwor.

Minimalistischer Synthiepop mit Punkanleihen, frostiger noch als der Cold Wave der 1980er. 2021 erschien „Metropolis“, ihre Debüt-EP, 2022 folgte „Crime Seen“, „Wasted Reflektions“ erschien im Herbst bei Wave Records, dem brasilianischen Partnerlabel von Hot & Cold Records aus Augsburg.

Boleti liefert darauf gleich zu Beginn, auf „Pale Rose“, eine Kurzbeschreibung des schwarzen Lebensgefühls, vorgetragen in Grabesstimme: „I wrap myself / In blackest clothes / A shroud of sadness / My soul to froth / The world they shun me / They cast me out / But I embrace the shadows / Without a doubt.“

Düstere Nichte zweiten Grades

Und es gibt noch viel mehr: Ultra Sunn aus Belgien, die Cold Wave und EBM fusionieren; das Hamburger Dark-Dreampop-Duo Kraków Loves Adana; die Musikerin Rein aus Schweden, die mitunter so klingt, als sei sie Kylie Minogues düstere Nichte zweiten Grades; Vision Video aus den USA, die mit ihrem Gothic Pop sowohl die einschlägigen Clubs als auch Tiktok aufmischen.

Oder Die Selektion, eine der vielen süddeutschen Bands, die im Esslinger Komma ihre Anfänge hatten, wo Luca Gillian, Hannes Rief und Max Rieger – bekannter als Sänger und Gitarrist von Die Nerven – ab Dezember 2010 noch als Teenager probten. Mittlerweile ist Die Selektion ein vierköpfigen Kollektiv, das EBM mit Trompete, Synthesizer, Drum-Computer und deutschsprachigem Gesang mit DAF-Anklängen macht.

Seit seiner Entstehungszeit hat sich Gothic in zahllose Subgenres atomisiert, die mal mehr, mal weniger massenkompatibel sind. Musiker und Autor Lol Tolhurst erklärt es in seinem Buch dennoch für „die letzte echte alternative Außenseiter-Subkultur“. Deren „schöne, düstere Welle der Kunst“ – so schreibt er weiter – sei eine ideale Form von Widerstand gegen „das schreckliche Abgleiten unserer Welt in einen unterdrückerischen Autoritarismus“. Es werde „etwas Gutes“ dabei herauskommen. Gebrauchen könnten wir das ohne Frage.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!