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Unser Block

Wie leben Menschen in der Platte, was lernen sie, wovon träumen sie? Drei ­Bewohner:in­nen des Märkischen Viertels berichten

Von Bianca Nawrath(Texte) und Bjarne Meisel(Fotos)

Daunenjacken machen sich gut in zugigen Plattenbauunterführungen. Vielleicht widmete Selim ihnen deshalb einen Song: „In meiner North-Face-Daunenjacke 2003, wir haben Hosen in den Socken so wie 2002.“ Rein optisch würde er sich gut als harter Straßenrapper machen: breite Schultern, Glatze, schwarzer Vollbart. Aber wenn Selim rappt, werden weder Frauen verachtet, noch Homosexuelle beleidigt oder Gewalttaten verherrlicht. Selim hat selbst zu viel Rassismus erlebt, als dass er auf billige Pointen setzen würde. Im MV bietet er wöchentlich Rap-Coachings für Jugendliche in Jugendzentren an.

Wie ein Leuchtturm sticht das knallrote Gebäude vor dem grauen Himmel und den zahlreichen Plattenbauten hervor. Das Jugendzentrum comX grenzt ans Jugendamt Reinickendorf und befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Kleingartenkolonie Frohsinn, der Jugendkunstschule Atrium und der Familienfarm in Lübars. Als Selim die Tür zum Jugendzentrum öffnet, hält ihm ein Junge zur Begrüßung die Faust hin. „Wir machen gleich Nudelauflauf!“ Einmal in der Woche ist Kochtag. Selim verspricht, zum Essen zu kommen.

Selims Kollege Burak sitzt bereits am Rechner und mastert einen Song. „Meine Herkunft: Ausland. Gehasst vom Amt. Meine Herkunft: Ausland. Wir sind Immigrant“, hohe Stimmen tönen aus den Boxen. Es sind die Stimmen von geflüchteten Kids, die in den Wohnungen der Gemeinschaftsunterkunft Senftenberger Ring im MV leben und dort zur Schule gehen. Sie sind durchs Musikmachen ins comX gekommen, Selim hat sie eingeladen. Um ihn herum stehen Mikrofone, ein Schlagzeug, Gitarren, sogar eine Radiostation, von der aus eine queere Sendung produziert wird. Die Tonkabinen sind professionell mit schallisolierendem Schaumstoff verkleidet. „Es ist wichtig, dass die Kinder spüren, dass wir sie ernst nehmen. Sie sollen nicht mit einem Handymikro abgespeist werden. Wenn ich als Jugendlicher einen Ort wie dieses Studio gekannt hätte, ich hätte hier gewohnt.“

Selim ist in einer kleinen Wohnung im Wedding aufgewachsen. Keine Platte, aber auch kein Luxus. Seine Vorliebe für Musik entdeckte er schon als Kind: „Mein Stiefvater hat Tote Hosen gehört, also habe ich mit Deutschrock angefangen.“ In der Grundschule kam Rap dazu. „Irgendwer hat mir dann Samy Deluxe gezeigt und der hat genau über die Dinge gerappt, die mein Leben bestimmt haben. Er wusste, wie es ist, mit einem anderen Vater aufzuwachsen, wenn der eigentliche Vater eine andere Hautfarbe hat, was dich zum einzigen Schwarzen Kind in einer weißen Familie macht.“ Mit Rap hat Selim ein Ventil für seine Gefühle gefunden. Schon im Kinderzimmer, zwischen Hochbett und 50-Cent-Poster, schrieb er erste Songs und nahm sie mit einem Kassettenrekorder auf.

Dennoch schlug er zunächst einen Werdegang als Übersetzer für Deutsch, Englisch und Französisch ein. Klingt vernünftig, machte ihn nur leider nicht glücklich. „Während der Pandemie hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich dachte oft an meinen Opa, der immer gesagt hat: Mach, was dir Spaß macht!“. Selims Opa wurde 1956 in Ungarn während Widerständen gegen die Sowjetunion verletzt und flüchtete nach Deutschland. „Er hat eine neue Sprache gelernt, studiert und mit meiner Oma eine Familie durchgebracht. Am Ende war er Professor und Doktor.“

Mit seinem Opa als Vorbild, das sich nicht unterkriegen lässt, wagte Selim den Neustart. Gemeinsam mit dem befreundeten K’Sino nahm er ein Album auf und gründete das Label „Global Origins“. Zeitgleich fing er im Jugendzen­trum an, mit dem Nachwuchs Songtexte zu ­schreiben. Freunde waren Selims erster Bezugspunkt zum MV. Seine Oberschule befand sich an der Grenze zwischen Wedding und Reinickendorf. So knüpfte er schon als Teenager erste Kontakte mit Menschen aus der Siedlung und entwickelte Sympathie für das MV. „Die Probleme, die die Leute in meinem Kiez haben, dem Wedding, sind die gleichen wie hier im MV. Die Höhe der Häuser ist der einzige Unterschied. Der Himmel im MV ist nie frei. Ich glaube, das macht schon was mit einem.“

Trotzdem ist das MV für Selim zu einem Ort der Perspektive geworden. Er bewundert, dass hier „viele Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Problemen zusammenleben und das größtenteils ohne Konflikte“. Der Gedanke, seine Bühnencoachings in einem reicheren Stadtteil zu unterrichten, kam Selim nie. „Rap ist für mich eine Ausdrucksform für Leute mit Struggles, die Diskriminierung und Marginalisierung erfahren. In einem Kiez wie dem MV, in dem sich viele ungesehen fühlen, kann Rap helfen, Wut auf gesunde Weise auszudrücken.“

Plattenbauten haben eine lange Karriere als Kulisse in Musikvideos von Rappern wie Sido. Dessen Song „Mein Block“ machte das MV berühmt. Raue Klänge treffen auf raue Architektur. Einerseits kann Rap ein politisches Sprachrohr für marginalisierte Gruppen sein, andererseits kommt es in den Texten nicht selten zur Gewaltverherrlichung. „Mit dem Wunsch, Rap­pe­r*in zu werden, kann man die Kids allein lassen oder man holt sie ab, wo sie auf einen warten“, findet Selim. „In unseren Kursen gibt es Regeln: Diskriminierung ist tabu. Wer sich nicht daran hält, muss gehen. Aber meistens entstehen Gespräche – und wer sich überlegt, was man außer ‚Hurensohn‘ sagen kann, wird kreativ.“

Die Kinder sind froh über Selims Angebot, zumal sie in einem Kiez leben, in dem „die Bordsteine um 18 Uhr hochgeklappt ­werden“, wie Kollege Burak es formuliert. Was Selim und sein Team in erster Linie an ihre ­Schützlinge weitergeben wollen, ist ein Gefühl von ­Zugehörigkeit. „Viele Jugendliche bringen ­Probleme mit: finanzieller Druck, keine oder nicht präsente Eltern. Da ist niemand, der ­ihnen sagt: Hey, du machst das gut! In einer ­Gegend, in der man immer lernt, hart zu sein, ist es wichtig, eine Möglichkeit zu finden, Gefühle auszudrücken.“ Rap kann diese ­Möglichkeit sein, ohne an Coolness ein­zubüßen.

„Bruder, was geht!“ Iboza betritt das Studio, alle nennen ihn Ibo. Ein 18-Jähriger in orangefarbenem Rollkragenpullover, mit Silberkettchen und Brille. Ibo ist fast jeden Tag im Studio, um Musik zu machen. „Früher war Ibo mal richtig schüchtern, heute tritt er auf Bühnen auf, rappt zu eigenen Beats“, erzählt Selim. Ibo guckt auf seine Schuhe, aber er lächelt.

Gemeinsam nehmen die beiden ein Insta-Reel auf, in dem sie die finanziellen Kürzungen im Jugendbereich durch den Senat kritisieren. Iboza spricht direkt in die Handykamera: „Bruder, das ist auf jeden Fall ein ganz großer Fehler. Ich habe da gelernt, erwachsen zu werden.“ Es warten noch einige Kinder im MV aufs Erwachsenwerden. Menschen wie Selim sind es, die ihnen jetzt schon eine Stimme geben.

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Die Frau mit den lilafarbenen Locken gleitet mit einem Rollstuhl in den Fahrstuhl ihres Wohnhauses im Märkischen Viertel. Als Heike vor zehn Jahren auf der Intensivstation lag und sich ihr Gesundheitszustand schlagartig verschlechterte, besorgte ihr Bruder die Wohnung in dem behindertenfreundlichen Plattenbau.

Der volle Basteltisch in der Küche zeugt von Heikes großer Leidenschaft. Pailletten und Perlen, säuberlich in Boxen sortiert, die sie zu dreidimensionalen Grußkarten verklebt. An den sonnengelben Wänden im Wohnzimmer hängt ein Porträt, das sie mit Ende 20 zeigt: erhobenes Kinn, schnittiges Barett. Darunter steht Heikes Bett mit Haltegriff und rutschfester Matratze. Eine Porzellankatze bewacht den Fernseher, auf dem die ehemalige Krankenschwester Florian Silbereisens Shows guckt. Früher hat sich Heike um Pa­ti­en­t*in­nen gekümmert, heute ist sie selbst die Patientin. Wer sich mit der mittlerweile 60-Jährigen unterhält, erlebt eine fröhliche Frau. Doch wer genauer hinhört, dem wird auch ihre Einsamkeit nicht entgehen.

Heike leidet am Anti-Hu-­Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die zu Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen, ständiger Müdigkeit und Kraftlosigkeit führt. „Halbjährlich mache ich eine Chemo. Danach ist mein Immunsystem völlig unten.“ Heike musste nicht nur ihren Job aufgeben, sondern auch ihre alte Wohnung im Stadtteil Wedding. Die sechs Stufen bis zum Fahrstuhl waren jedes Mal eine Herausforderung. Und ihr Rollstuhl blieb stets angekettet im Eingangsbereich zurück, wurde einmal sogar geklaut.

Im MV kommt Heikes Rolli mit in die Wohnung. Aufgrund der standardisierten Bauweise sind Türen und Flure breiter als in Altbauten, Türschwellen gibt es kaum, die meisten Eingänge sind ebenerdig oder mit Rampen versehen. „Die Wohnung ermöglicht es mir, mobiler zu sein als früher, zum Beispiel kann ich alleine einkaufen, selbst bestimmen, was auf meinem Teller landet. Außer meiner Putzfee unterstützen mich nur meine Eltern.“ Einmal in der Woche kommt Heikes 82-jährige Mutter vorbei und frisiert ihre Haare. „Mein 87-jähriger Vater geht mit mir spazieren, weil ich sonst niemanden finde, der das macht.“

Selbst die einfachsten Tätigkeiten kosten Heike viel Kraft. „Bis ich mich angezogen, gefrühstückt und meine Medikamente genommen habe, ist es 12 Uhr. Spätestens um zwei werde ich müde und brauche einen Mittagsschlaf. Manchmal schlafe ich bis 18 Uhr.“ Die freien Stunden, die Heike bleiben, nutzt sie zum Basteln und Lesen. Einer ihrer Lieblingsorte im MV war deshalb für lange Zeit die Weltbild-Filiale im Märkischen Zentrum, der einzigen Shopping-Meile der Siedlung.

„Leider hat Weltbild zugemacht …“ Heike zieht einen Aschenbecher zu sich heran, daneben liegt ein Lippenstift, Farbton: Rosewood. Sie zündet sich eine Zigarette an und schiebt sie zwischen die geschminkten Lippen. Nicht nur die Schließung der Weltbild-Filiale hat dazu geführt, dass sich das Bummeln im Märkischen Zentrum kaum noch für Heike lohnt. Seit Jahren wird dort gebaut, ein weiteres Wohnhaus soll entstehen und neue Geschäfte. Bereits 2022 sollten erste Bereiche fertig sein, stattdessen versperren Bauzäune Wege und Blickachsen. Wo sich heute eine riesige Baugrube befindet, war früher ein Brunnenplatz, an dem Heike gerne Menschen beobachtet hat – eine Möglichkeit, sich weniger allein zu fühlen.

„Obwohl ich schon zehn Jahre im MV wohne, ist es noch sehr anonym. Ich hätte gern jemanden, wo ich klingeln kann und sagen: Kannst du mir ein Loch in die Wand bohren?“ An einem Ort wie dem MV, an dem viel Raum zum Wohnen auf wenig Raum zum Leben trifft, merkt man das umso mehr. Um etwas gegen die Einsamkeit zu tun, hat sich Heike einen Seniorentreff im MV gesucht. Er wird vom Bezirksamt Reinickendorf organisiert. „Wir spielen Gesellschaftsspiele, basteln, quatschen. Außerdem finden Tanznachmittage und Tagesausflüge statt, zum Beispiel zum Eisbeinessen ins Restaurant.“ Heike erreicht den Seniorentreff im Senftenberger Ring eigenständig mit ihrem Rollstuhl. Besucht sie ihre Psychotherapeutin, bucht sie hingegen vorab den Sonderfahrdienst.

Für Menschen wie Heike, die durch ihr Alter oder ihre Behinderung bewegungseingeschränkt sind, ist das Rauskommen aus der Siedlung nicht leicht. „Außerdem kostet ein Café-Besuch mit Wasser, Kaffee, Kuchen und Trinkgeld schnell mal 15 Euro.“ Vor dem Fernseher sitzen zu bleiben wie manch anderer, sei aber keine Option, findet Heike. „Bei mir klingelt auch keiner und fragt: Möchtest du was unternehmen?“ Da müsse man schon selbst aktiv werden.

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Mit einem Campingstuhl und einer Chipstüte unter dem Arm klettert Nils auf eines der Plattenbaudächer im Märkischen Viertel. Doch viel Zeit, um die Ankunft auf dem Olymp zu genießen, bleibt dem 15-Jährigen nicht, die Straßen unter ihm werden schon kurz darauf in Blaulicht getaucht. Die Polizisten holen Nils vom Dach, ohne zu ahnen, dass sie einem zukünftigen Kollegen gegenüberstehen.

Heute ist Nils 27 Jahre alt. Er hat einen in sich ruhenden Blick, Tattoos am Arm und ist breit gebaut. Man sieht ihm das regelmäßige Training an, das zu seinem Polizeistudium gehört. Trotzdem kann man sich noch vorstellen, wie Nils als kleiner Junge ausgesehen hat, vor allem wenn er lacht: „Ja, ich gebe zu, ich habe damals viel Mist gebaut. Typisch Teenager eben.“ Für Nils steckt das MV voller Erinnerungen, seine Familie lebt in dritter Generation in der Siedlung. Seine Oma und sein Opa zogen im Jahr der Gründung des Viertels in eine der Wohnungen. „Damals war ihre Straße noch ein Sandweg.“

Nils Großeltern wohnen immer noch im MV, genau wie er selbst. Nils lebt in der alten Wohnung seiner Eltern. Sechster Stock, 85 Quadratmeter, 750 Euro warm. Die Einrichtung ist schlicht: helle Holzmöbel, weiße Raufaser, eine Eckcouch und ein klobiger Kühlschrank voller Magnete. In Nils’ Schlafzimmer hängt eine Collage, auf der ein Paar zu sehen ist. Mal mit Lockenmähne in den Neunzigern, dann im Faschingskostüm. „Die Collage haben Mama und Papa zum Hochzeitstag bekommen“, sagt Nils. Er erzählt viel von seinen Eltern, sein Vater ist vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, seine Mutter vor anderthalb Jahren an Krebs. „Es ist meine Aufgabe, mich an sie zu erinnern.“

Nils’ Vater war als Installateur tätig. Als das Leben mit zwei Söhnen teurer wurde, ist er zu BMW ans Fließband gewechselt. Nils’ Mutter arbeitete 25 Jahre lang für den Mann, der sie zur Rechtsanwaltsfachangestellten ausgebildet hat. „Meine Eltern waren superfleißig. Als Teenager entwickelte ich deshalb Angst, ihre Erwartungen nicht zu erfüllen.“ Nils’ Vater spürte das. „Papa hat gesagt: Nils, du bist nicht schuld, dass du auf der Welt bist. Das war eine Entscheidung deiner Mama und mir. Solange du glücklich bist, sind wir das auch.“ Nils beschreibt seine Eltern als „Sechser im Lotto“. Es fiel ihm schwer, die Wohnung, die früher ihre war, neu einzurichten.

Mittlerweile hat Nils nicht nur die Wohnung aufgeräumt, sondern auch sein Leben. Zum Zeitpunkt des Todes seiner Eltern steckte er in einem Beruf fest, den er aus Planlosigkeit gewählt hatte. Ein Berufseignungstest hatte Nils vorgeschlagen, Lehrer, Handwerker oder Polizist zu werden. Letzteres sprach ihn am meisten an, doch er scheiterte schon am Onlinetest – und wurde Handwerker. Mit der Zeit merkte er, dass ihm menschliches Miteinander fehlt, dass sein Kopf unterfordert ist. Er machte eine Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit – in der Hoffnung, dass der Beruf näher an dem eines Polizisten dran ist. „Letztendlich habe ich in der Mall of Berlin arme Schlucker aus den Läden gezogen. Nicht das, was ich mein Leben lang tun wollte.“ Aber einen erneuten Berufswechsel wagen?

„Ich dachte an meine Eltern und daran, dass sie mich darin bestärkt haben, das zu tun, was ich liebe“, also wiederholte er den Einstellungstest bei der Polizei, diesmal mit Erfolg. Lediglich die Augen sollte er sich noch lasern lassen, um das Studium für den gehobenen Dienst antreten zu dürfen. Seitdem nimmt er jeden Tag den einstündigen Bahnweg zur Polizeischule auf sich. Mit dem Studium verknüpft Nils viele Hoffnungen. Auf einen Berufsalltag, der ihn erfüllt, auf die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen, auf ein Leben mit stabilem Einkommen.

Als Nils mit seiner Dachdeckerausbildung begann, erzählte er niemandem, dass er im MV wohnt, denn fast immer habe sich etwas verändert, an der Art, wie er angeguckt wurde. Heute aber steht Nils mit Stolz dazu. „Weil ich in der Siedlung gelernt habe, mich in unterschiedliche Menschen reinzuversetzen. Und was ich dabei gemerkt habe, ist, dass man mit jedem, wirklich jedem, etwas gemeinsam hat. Das kann mir als Polizist helfen.“

Nach langen Tagen in der Polizeischule hat Nils gerne Zeit für sich allein. Oft zieht es ihn dann nach oben, in die 14. Etage seines Hauses. Meistens nimmt Nils die Stufen. Zu einem Plattenbau gehört neben dem Fahrstuhl ein Treppenhaus mit Balkon in jedem Stockwerk. „Es hilft mir, weit gucken zu können, um den Kopf freizubekommen“, Nils lehnt sich an das Geländer aus Beton und blickt in die Ferne. Hinter den Hochhäusern zeichnen sich vereinzelt Windräder ab, unter ihm breitet sich ein Parkplatz aus und die Straßen, auf denen er seine Kindheit verbracht hat.

Am liebsten hat Nils im Bolzplatzkäfig gekickt oder am Seggeluchbecken Enten gefüttert. „Da gibt es eine Bank, die habe ich immer meine Bankgenannt. Ich mag den Ausblick aufs Wasser.“ Das Seggeluchbecken ist ein kleines künstlich angelegtes Gewässer im MV, unterbrochen durch die Finsterwalder Straße, umgeben von schmalen Grünanlagen und in Nachbarschaft zu einem Kleingartenverein, einer Kirchengemeinde und Sidos alter Schule. „Hier komme ich mit Leuten her, die zum ersten Mal die Siedlung besuchen, danach geht es zum Müllberg in Lübars.“

Als Kind ist Nils im Winter auf dem Müllberg gerodelt, im Herbst hat er Drachen steigen lassen und im Frühling die angrenzende Familienfarm mit Kühen, Pferden, Hühnern und einem Café besucht. Schon Nils’ Großeltern sind zum Müllberg gefahren, als sie noch jung waren, auch wenn der Berg damals noch buchstäblich aus Müll bestand und sie vor Ort waren, um alte Möbel loszuwerden. „Ich will Leuten, die mich besuchen, immer zeigen, dass sich hier einiges verändert hat. Spätestens seitdem die meisten Häuser saniert wurden, ist hier nicht alles nur grau.“

Trotzdem will Nils auf lange Sicht raus aus dem MV. „Ich habe hier alles und muss mich nie rausbewegen. Aber genau das ist mein Problem“, sagt Nils. „Wenn ich es wirklich schaffen will, dann muss ich eben doch raus. Ich will niemanden schlechtreden. Hier leben viele Leute mit tollen Familien, funktionierendem Berufsleben.“ Aber man könnte sich eben auch leicht hängen lassen im Märkischen Viertel.

„Es braucht Vereine und Jugendzentren. Ich meine, alle leben hier dicht beieinander, theoretisch könnte man sich connecten, aber bleibt trotzdem anonym. Alle sind auf den eigenen Scheiß fokussiert. Das ist ein bisschen wie Social Media im Real Life.“ Sich durch den Block blockiert fühlen. Etwas, womit Nils sich nicht abfinden will. Er ist entschlossen, sich seinen Weg zu suchen, am besten einen Weg hoch hinaus.

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Die Frau mit den lilafarbenen Locken gleitet mit einem Rollstuhl in den Fahrstuhl ihres Wohnhauses im Märkischen Viertel. Als Heike vor zehn Jahren auf der Intensivstation lag und sich ihr Gesundheitszustand schlagartig verschlechterte, besorgte ihr Bruder die Wohnung in dem behindertenfreundlichen Plattenbau.

Der volle Basteltisch in der Küche zeugt von Heikes großer Leidenschaft. Pailletten und Perlen, säuberlich in Boxen sortiert, die sie zu dreidimensionalen Grußkarten verklebt. An den sonnengelben Wänden im Wohnzimmer hängt ein Porträt, das sie mit Ende 20 zeigt: erhobenes Kinn, schnittiges Barett. Darunter steht Heikes Bett mit Haltegriff und rutschfester Matratze. Eine Porzellankatze bewacht den Fernseher, auf dem die ehemalige Krankenschwester Florian Silbereisens Shows guckt. Früher hat sich Heike um Pa­ti­en­t*in­nen gekümmert, heute ist sie selbst die Patientin. Wer sich mit der mittlerweile 60-Jährigen unterhält, erlebt eine fröhliche Frau. Doch wer genauer hinhört, dem wird auch ihre Einsamkeit nicht entgehen.

Heike leidet am Anti-Hu-­Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die zu Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen, ständiger Müdigkeit und Kraftlosigkeit führt. „Halbjährlich mache ich eine Chemo. Danach ist mein Immunsystem völlig unten.“ Heike musste nicht nur ihren Job aufgeben, sondern auch ihre alte Wohnung im Stadtteil Wedding. Die sechs Stufen bis zum Fahrstuhl waren jedes Mal eine Herausforderung. Und ihr Rollstuhl blieb stets angekettet im Eingangsbereich zurück, wurde einmal sogar geklaut.

Im MV kommt Heikes Rolli mit in die Wohnung. Aufgrund der standardisierten Bauweise sind Türen und Flure breiter als in Altbauten, Türschwellen gibt es kaum, die meisten Eingänge sind ebenerdig oder mit Rampen versehen. „Die Wohnung ermöglicht es mir, mobiler zu sein als früher, zum Beispiel kann ich alleine einkaufen, selbst bestimmen, was auf meinem Teller landet. Außer meiner Putzfee unterstützen mich nur meine Eltern.“ Einmal in der Woche kommt Heikes 82-jährige Mutter vorbei und frisiert ihre Haare. „Mein 87-jähriger Vater geht mit mir spazieren, weil ich sonst niemanden finde, der das macht.“

Selbst die einfachsten Tätigkeiten kosten Heike viel Kraft. „Bis ich mich angezogen, gefrühstückt und meine Medikamente genommen habe, ist es 12 Uhr. Spätestens um zwei werde ich müde und brauche einen Mittagsschlaf. Manchmal schlafe ich bis 18 Uhr.“ Die freien Stunden, die Heike bleiben, nutzt sie zum Basteln und Lesen. Einer ihrer Lieblingsorte im MV war deshalb für lange Zeit die Weltbild-Filiale im Märkischen Zentrum, der einzigen Shopping-Meile der Siedlung.

„Leider hat Weltbild zugemacht …“ Heike zieht einen Aschenbecher zu sich heran, daneben liegt ein Lippenstift, Farbton: Rosewood. Sie zündet sich eine Zigarette an und schiebt sie zwischen die geschminkten Lippen. Nicht nur die Schließung der Weltbild-Filiale hat dazu geführt, dass sich das Bummeln im Märkischen Zentrum kaum noch für Heike lohnt. Seit Jahren wird dort gebaut, ein weiteres Wohnhaus soll entstehen und neue Geschäfte. Bereits 2022 sollten erste Bereiche fertig sein, stattdessen versperren Bauzäune Wege und Blickachsen. Wo sich heute eine riesige Baugrube befindet, war früher ein Brunnenplatz, an dem Heike gerne Menschen beobachtet hat – eine Möglichkeit, sich weniger allein zu fühlen.

„Obwohl ich schon zehn Jahre im MV wohne, ist es noch sehr anonym. Ich hätte gern jemanden, wo ich klingeln kann und sagen: Kannst du mir ein Loch in die Wand bohren?“ An einem Ort wie dem MV, an dem viel Raum zum Wohnen auf wenig Raum zum Leben trifft, merkt man das umso mehr. Um etwas gegen die Einsamkeit zu tun, hat sich Heike einen Seniorentreff im MV gesucht. Er wird vom Bezirksamt Reinickendorf organisiert. „Wir spielen Gesellschaftsspiele, basteln, quatschen. Außerdem finden Tanznachmittage und Tagesausflüge statt, zum Beispiel zum Eisbeinessen ins Restaurant.“ Heike erreicht den Seniorentreff im Senftenberger Ring eigenständig mit ihrem Rollstuhl. Besucht sie ihre Psychotherapeutin, bucht sie hingegen vorab den Sonderfahrdienst.

Für Menschen wie Heike, die durch ihr Alter oder ihre Behinderung bewegungseingeschränkt sind, ist das Rauskommen aus der Siedlung nicht leicht. „Außerdem kostet ein Café-Besuch mit Wasser, Kaffee, Kuchen und Trinkgeld schnell mal 15 Euro.“ Vor dem Fernseher sitzen zu bleiben wie manch anderer, sei aber keine Option, findet Heike. „Bei mir klingelt auch keiner und fragt: Möchtest du was unternehmen?“ Da müsse man schon selbst aktiv werden.

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Mit einem Campingstuhl und einer Chipstüte unter dem Arm klettert Nils auf eines der Plattenbaudächer im Märkischen Viertel. Doch viel Zeit, um die Ankunft auf dem Olymp zu genießen, bleibt dem 15-Jährigen nicht, die Straßen unter ihm werden schon kurz darauf in Blaulicht getaucht. Die Polizisten holen Nils vom Dach, ohne zu ahnen, dass sie einem zukünftigen Kollegen gegenüberstehen.

Heute ist Nils 27 Jahre alt. Er hat einen in sich ruhenden Blick, Tattoos am Arm und ist breit gebaut. Man sieht ihm das regelmäßige Training an, das zu seinem Polizeistudium gehört. Trotzdem kann man sich noch vorstellen, wie Nils als kleiner Junge ausgesehen hat, vor allem wenn er lacht: „Ja, ich gebe zu, ich habe damals viel Mist gebaut. Typisch Teenager eben.“ Für Nils steckt das MV voller Erinnerungen, seine Familie lebt in dritter Generation in der Siedlung. Seine Oma und sein Opa zogen im Jahr der Gründung des Viertels in eine der Wohnungen. „Damals war ihre Straße noch ein Sandweg.“

Nils Großeltern wohnen immer noch im MV, genau wie er selbst. Nils lebt in der alten Wohnung seiner Eltern. Sechster Stock, 85 Quadratmeter, 750 Euro warm. Die Einrichtung ist schlicht: helle Holzmöbel, weiße Raufaser, eine Eckcouch und ein klobiger Kühlschrank voller Magnete. In Nils’ Schlafzimmer hängt eine Collage, auf der ein Paar zu sehen ist. Mal mit Lockenmähne in den Neunzigern, dann im Faschingskostüm. „Die Collage haben Mama und Papa zum Hochzeitstag bekommen“, sagt Nils. Er erzählt viel von seinen Eltern, sein Vater ist vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, seine Mutter vor anderthalb Jahren an Krebs. „Es ist meine Aufgabe, mich an sie zu erinnern.“

Nils’ Vater war als Installateur tätig. Als das Leben mit zwei Söhnen teurer wurde, ist er zu BMW ans Fließband gewechselt. Nils’ Mutter arbeitete 25 Jahre lang für den Mann, der sie zur Rechtsanwaltsfachangestellten ausgebildet hat. „Meine Eltern waren superfleißig. Als Teenager entwickelte ich deshalb Angst, ihre Erwartungen nicht zu erfüllen.“ Nils’ Vater spürte das. „Papa hat gesagt: Nils, du bist nicht schuld, dass du auf der Welt bist. Das war eine Entscheidung deiner Mama und mir. Solange du glücklich bist, sind wir das auch.“ Nils beschreibt seine Eltern als „Sechser im Lotto“. Es fiel ihm schwer, die Wohnung, die früher ihre war, neu einzurichten.

Mittlerweile hat Nils nicht nur die Wohnung aufgeräumt, sondern auch sein Leben. Zum Zeitpunkt des Todes seiner Eltern steckte er in einem Beruf fest, den er aus Planlosigkeit gewählt hatte. Ein Berufseignungstest hatte Nils vorgeschlagen, Lehrer, Handwerker oder Polizist zu werden. Letzteres sprach ihn am meisten an, doch er scheiterte schon am Onlinetest – und wurde Handwerker. Mit der Zeit merkte er, dass ihm menschliches Miteinander fehlt, dass sein Kopf unterfordert ist. Er machte eine Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit – in der Hoffnung, dass der Beruf näher an dem eines Polizisten dran ist. „Letztendlich habe ich in der Mall of Berlin arme Schlucker aus den Läden gezogen. Nicht das, was ich mein Leben lang tun wollte.“ Aber einen erneuten Berufswechsel wagen?

„Ich dachte an meine Eltern und daran, dass sie mich darin bestärkt haben, das zu tun, was ich liebe“, also wiederholte er den Einstellungstest bei der Polizei, diesmal mit Erfolg. Lediglich die Augen sollte er sich noch lasern lassen, um das Studium für den gehobenen Dienst antreten zu dürfen. Seitdem nimmt er jeden Tag den einstündigen Bahnweg zur Polizeischule auf sich. Mit dem Studium verknüpft Nils viele Hoffnungen. Auf einen Berufsalltag, der ihn erfüllt, auf die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen, auf ein Leben mit stabilem Einkommen.

Als Nils mit seiner Dachdeckerausbildung begann, erzählte er niemandem, dass er im MV wohnt, denn fast immer habe sich etwas verändert, an der Art, wie er angeguckt wurde. Heute aber steht Nils mit Stolz dazu. „Weil ich in der Siedlung gelernt habe, mich in unterschiedliche Menschen reinzuversetzen. Und was ich dabei gemerkt habe, ist, dass man mit jedem, wirklich jedem, etwas gemeinsam hat. Das kann mir als Polizist helfen.“

Nach langen Tagen in der Polizeischule hat Nils gerne Zeit für sich allein. Oft zieht es ihn dann nach oben, in die 14. Etage seines Hauses. Meistens nimmt Nils die Stufen. Zu einem Plattenbau gehört neben dem Fahrstuhl ein Treppenhaus mit Balkon in jedem Stockwerk. „Es hilft mir, weit gucken zu können, um den Kopf freizubekommen“, Nils lehnt sich an das Geländer aus Beton und blickt in die Ferne. Hinter den Hochhäusern zeichnen sich vereinzelt Windräder ab, unter ihm breitet sich ein Parkplatz aus und die Straßen, auf denen er seine Kindheit verbracht hat.

Am liebsten hat Nils im Bolzplatzkäfig gekickt oder am Seggeluchbecken Enten gefüttert. „Da gibt es eine Bank, die habe ich immer meine Bankgenannt. Ich mag den Ausblick aufs Wasser.“ Das Seggeluchbecken ist ein kleines künstlich angelegtes Gewässer im MV, unterbrochen durch die Finsterwalder Straße, umgeben von schmalen Grünanlagen und in Nachbarschaft zu einem Kleingartenverein, einer Kirchengemeinde und Sidos alter Schule. „Hier komme ich mit Leuten her, die zum ersten Mal die Siedlung besuchen, danach geht es zum Müllberg in Lübars.“

Als Kind ist Nils im Winter auf dem Müllberg gerodelt, im Herbst hat er Drachen steigen lassen und im Frühling die angrenzende Familienfarm mit Kühen, Pferden, Hühnern und einem Café besucht. Schon Nils’ Großeltern sind zum Müllberg gefahren, als sie noch jung waren, auch wenn der Berg damals noch buchstäblich aus Müll bestand und sie vor Ort waren, um alte Möbel loszuwerden. „Ich will Leuten, die mich besuchen, immer zeigen, dass sich hier einiges verändert hat. Spätestens seitdem die meisten Häuser saniert wurden, ist hier nicht alles nur grau.“

Trotzdem will Nils auf lange Sicht raus aus dem MV. „Ich habe hier alles und muss mich nie rausbewegen. Aber genau das ist mein Problem“, sagt Nils. „Wenn ich es wirklich schaffen will, dann muss ich eben doch raus. Ich will niemanden schlechtreden. Hier leben viele Leute mit tollen Familien, funktionierendem Berufsleben.“ Aber man könnte sich eben auch leicht hängen lassen im Märkischen Viertel.

„Es braucht Vereine und Jugendzentren. Ich meine, alle leben hier dicht beieinander, theoretisch könnte man sich connecten, aber bleibt trotzdem anonym. Alle sind auf den eigenen Scheiß fokussiert. Das ist ein bisschen wie Social Media im Real Life.“ Sich durch den Block blockiert fühlen. Etwas, womit Nils sich nicht abfinden will. Er ist entschlossen, sich seinen Weg zu suchen, am besten einen Weg hoch hinaus.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Mit einem Campingstuhl und einer Chipstüte unter dem Arm klettert Nils auf eines der Plattenbaudächer im Märkischen Viertel. Doch viel Zeit, um die Ankunft auf dem Olymp zu genießen, bleibt dem 15-Jährigen nicht, die Straßen unter ihm werden schon kurz darauf in Blaulicht getaucht. Die Polizisten holen Nils vom Dach, ohne zu ahnen, dass sie einem zukünftigen Kollegen gegenüberstehen.

Heute ist Nils 27 Jahre alt. Er hat einen in sich ruhenden Blick, Tattoos am Arm und ist breit gebaut. Man sieht ihm das regelmäßige Training an, das zu seinem Polizeistudium gehört. Trotzdem kann man sich noch vorstellen, wie Nils als kleiner Junge ausgesehen hat, vor allem wenn er lacht: „Ja, ich gebe zu, ich habe damals viel Mist gebaut. Typisch Teenager eben.“ Für Nils steckt das MV voller Erinnerungen, seine Familie lebt in dritter Generation in der Siedlung. Seine Oma und sein Opa zogen im Jahr der Gründung des Viertels in eine der Wohnungen. „Damals war ihre Straße noch ein Sandweg.“

Nils Großeltern wohnen immer noch im MV, genau wie er selbst. Nils lebt in der alten Wohnung seiner Eltern. Sechster Stock, 85 Quadratmeter, 750 Euro warm. Die Einrichtung ist schlicht: helle Holzmöbel, weiße Raufaser, eine Eckcouch und ein klobiger Kühlschrank voller Magnete. In Nils’ Schlafzimmer hängt eine Collage, auf der ein Paar zu sehen ist. Mal mit Lockenmähne in den Neunzigern, dann im Faschingskostüm. „Die Collage haben Mama und Papa zum Hochzeitstag bekommen“, sagt Nils. Er erzählt viel von seinen Eltern, sein Vater ist vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, seine Mutter vor anderthalb Jahren an Krebs. „Es ist meine Aufgabe, mich an sie zu erinnern.“

Nils’ Vater war als Installateur tätig. Als das Leben mit zwei Söhnen teurer wurde, ist er zu BMW ans Fließband gewechselt. Nils’ Mutter arbeitete 25 Jahre lang für den Mann, der sie zur Rechtsanwaltsfachangestellten ausgebildet hat. „Meine Eltern waren superfleißig. Als Teenager entwickelte ich deshalb Angst, ihre Erwartungen nicht zu erfüllen.“ Nils’ Vater spürte das. „Papa hat gesagt: Nils, du bist nicht schuld, dass du auf der Welt bist. Das war eine Entscheidung deiner Mama und mir. Solange du glücklich bist, sind wir das auch.“ Nils beschreibt seine Eltern als „Sechser im Lotto“. Es fiel ihm schwer, die Wohnung, die früher ihre war, neu einzurichten.

Mittlerweile hat Nils nicht nur die Wohnung aufgeräumt, sondern auch sein Leben. Zum Zeitpunkt des Todes seiner Eltern steckte er in einem Beruf fest, den er aus Planlosigkeit gewählt hatte. Ein Berufseignungstest hatte Nils vorgeschlagen, Lehrer, Handwerker oder Polizist zu werden. Letzteres sprach ihn am meisten an, doch er scheiterte schon am Onlinetest – und wurde Handwerker. Mit der Zeit merkte er, dass ihm menschliches Miteinander fehlt, dass sein Kopf unterfordert ist. Er machte eine Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit – in der Hoffnung, dass der Beruf näher an dem eines Polizisten dran ist. „Letztendlich habe ich in der Mall of Berlin arme Schlucker aus den Läden gezogen. Nicht das, was ich mein Leben lang tun wollte.“ Aber einen erneuten Berufswechsel wagen?

„Ich dachte an meine Eltern und daran, dass sie mich darin bestärkt haben, das zu tun, was ich liebe“, also wiederholte er den Einstellungstest bei der Polizei, diesmal mit Erfolg. Lediglich die Augen sollte er sich noch lasern lassen, um das Studium für den gehobenen Dienst antreten zu dürfen. Seitdem nimmt er jeden Tag den einstündigen Bahnweg zur Polizeischule auf sich. Mit dem Studium verknüpft Nils viele Hoffnungen. Auf einen Berufsalltag, der ihn erfüllt, auf die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen, auf ein Leben mit stabilem Einkommen.

Als Nils mit seiner Dachdeckerausbildung begann, erzählte er niemandem, dass er im MV wohnt, denn fast immer habe sich etwas verändert, an der Art, wie er angeguckt wurde. Heute aber steht Nils mit Stolz dazu. „Weil ich in der Siedlung gelernt habe, mich in unterschiedliche Menschen reinzuversetzen. Und was ich dabei gemerkt habe, ist, dass man mit jedem, wirklich jedem, etwas gemeinsam hat. Das kann mir als Polizist helfen.“

Nach langen Tagen in der Polizeischule hat Nils gerne Zeit für sich allein. Oft zieht es ihn dann nach oben, in die 14. Etage seines Hauses. Meistens nimmt Nils die Stufen. Zu einem Plattenbau gehört neben dem Fahrstuhl ein Treppenhaus mit Balkon in jedem Stockwerk. „Es hilft mir, weit gucken zu können, um den Kopf freizubekommen“, Nils lehnt sich an das Geländer aus Beton und blickt in die Ferne. Hinter den Hochhäusern zeichnen sich vereinzelt Windräder ab, unter ihm breitet sich ein Parkplatz aus und die Straßen, auf denen er seine Kindheit verbracht hat.

Am liebsten hat Nils im Bolzplatzkäfig gekickt oder am Seggeluchbecken Enten gefüttert. „Da gibt es eine Bank, die habe ich immer meine Bankgenannt. Ich mag den Ausblick aufs Wasser.“ Das Seggeluchbecken ist ein kleines künstlich angelegtes Gewässer im MV, unterbrochen durch die Finsterwalder Straße, umgeben von schmalen Grünanlagen und in Nachbarschaft zu einem Kleingartenverein, einer Kirchengemeinde und Sidos alter Schule. „Hier komme ich mit Leuten her, die zum ersten Mal die Siedlung besuchen, danach geht es zum Müllberg in Lübars.“

Als Kind ist Nils im Winter auf dem Müllberg gerodelt, im Herbst hat er Drachen steigen lassen und im Frühling die angrenzende Familienfarm mit Kühen, Pferden, Hühnern und einem Café besucht. Schon Nils’ Großeltern sind zum Müllberg gefahren, als sie noch jung waren, auch wenn der Berg damals noch buchstäblich aus Müll bestand und sie vor Ort waren, um alte Möbel loszuwerden. „Ich will Leuten, die mich besuchen, immer zeigen, dass sich hier einiges verändert hat. Spätestens seitdem die meisten Häuser saniert wurden, ist hier nicht alles nur grau.“

Trotzdem will Nils auf lange Sicht raus aus dem MV. „Ich habe hier alles und muss mich nie rausbewegen. Aber genau das ist mein Problem“, sagt Nils. „Wenn ich es wirklich schaffen will, dann muss ich eben doch raus. Ich will niemanden schlechtreden. Hier leben viele Leute mit tollen Familien, funktionierendem Berufsleben.“ Aber man könnte sich eben auch leicht hängen lassen im Märkischen Viertel.

„Es braucht Vereine und Jugendzentren. Ich meine, alle leben hier dicht beieinander, theoretisch könnte man sich connecten, aber bleibt trotzdem anonym. Alle sind auf den eigenen Scheiß fokussiert. Das ist ein bisschen wie Social Media im Real Life.“ Sich durch den Block blockiert fühlen. Etwas, womit Nils sich nicht abfinden will. Er ist entschlossen, sich seinen Weg zu suchen, am besten einen Weg hoch hinaus.

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