Alles ganz furchtbar

Die AfD hat es verstanden, das allgemeine Jammern zum großen Gesang vom Untergang werden zu lassen. Gefragt ist ein unerschrockenes Agieren der politischen Eliten

Illustration: Katja Gendikova

Von Berthold Franke

Bild und Welt posaunen es seit Jahren durch den Medienwald, die FAZ stößt seit geraumer Zeit ins gleiche Horn, und am Tag nach der Wahl wird es auch im Deutschlandfunkbestätigt: Am Triumph der Rechtsextremen in Thüringen und Sachsen ist die Ampel schuld. In dieser Diagnose verknüpfen sich zwei Denkfehler zu einem für die Wahlsieger idealen Akt der Gefälligkeit. Erstens sind alle, die sich an der Politik der aktuellen Bundesregierung stoßen, offensichtlich durch eine magische Kraft dazu gezwungen, bei der nächsten Wahl ihr Kreuz bei einer antidemokratischen Partei zu machen, was ja nichts anderes hieße, als dass es für Deutschland zur Ampel tatsächlich nur eine wirkliche Alternative gäbe. Zweitens und schlimmer: Nicht nur die rechten Verächter der Freiheit oder die Wagenknechte zerstören die Demokratie, sondern die Demokraten selbst.

Bei der Ursachenforschung, warum eine gesichert rechtsextreme Partei in zwei Landtagen über 30 Prozent der Stimmen errungen hat, setzt sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer an die Spitze, indem er das Verhalten der Ampel als „demokratiezerstörend“ bezeichnet. Und geniert sich nicht, dass er sich damit zum Sprachrohr einer Bewegung macht, die die repräsentative, auf Gewaltenteilung und liberale Grundsätze ruhende Demokratie durch eine autoritär-plebiszitäre Mehrheitsherrschaft à la Viktor Orbán ersetzen will.

Kein Mensch muss AfD wählen, wenn er mit der Ampel unzufrieden ist. Aber jeder kann sehen, dass die Feinde der Demokratie einen sich fantastisch selbst verstärkenden Mechanismus in Gang gesetzt haben, bei dem die Demokraten ihr Projekt rasant selbst sabotieren. Ergebnis ist ein nahezu kompletter Sieg der Rechtsextremen, nämlich die vollkommene Übernahme der Diskurshoheit: Migration, Migration, Migration.

Der kommunikative Erfolg der Rechten reicht weit über das Stimmendrittel in zwei kleinen Ostländern hinaus. Es ist ihnen über die letzten Jahre gelungen, ihr Katastrophennarrativ zum Leitdiskurs der Republik zu machen. Aus der großen Lust am Jammern – die besonders gerne gar nicht einmal diejenigen befällt, die ganz unten sind, sondern diejenigen, die bei ihrer Selbstbetrachtung vor allem ins Auge fassen, was alles noch ein bisschen besser, opulenter, reicher sein könnte – wird der große Gesang vom Untergang. Neu ist dabei, wie die weltvergessene Wehleidigkeit bis hinein in den Mainstream der öffentlichen Meinung vorgedrungen ist. „Debakel“, „Blamage“, „Desaster“, „Katastrophe“, „Absturz“, „Niedergang“.

Die in ihrem alten Selbstzweifel steckenden Deutschen sind für solche apokalyptischen Fantasien traditionell empfänglich und werden von den in Konkurrenzpanik mit den sozialen Netzwerken befindlichen Leitmedien noch bestärkt. Anheizen statt abwägen, Bashing statt Analyse, Emotion statt Reflexion, wie ein anderes Wortfeld beweist: „Entsetzen“, „Empörung“, „erschreckend“, „unfassbar“, „skandalös“… Am Ende bleibt das düstere Bild eines Landes, von dem jeder, der vielleicht einmal eine Weile in einer indischen Großstadt verbracht hat, weiß, wie reich, wohlorganisiert, sicher und fair es im Vergleich zum Rest der Welt immer noch ist – Nahverkehr, In­fra­struktur, Gesundheitsversorgung und öffentliche Verwaltung inklusive.

Anstatt den Untergangspropheten einmal die Liste dessen entgegenzuhalten, was wir in diesem Land alles zu verlieren haben – ein schönes konservatives Projekt –, marschiert eine kopflose CDU vor der AfD her und versucht unter dem Eindruck des Verbrechens von Solingen diese in ihrem migrantenfeindlichen Getöse noch zu übertrumpfen: Um zu verhindern, dass irgendwo im Osten die AfD an die Macht kommt, machen wir deren Politik gleich selber! Und als besorgter Demokrat darf man sich jetzt noch nicht einmal mehr wünschen, dass sie dafür bei den nächsten Wahlen die verdiente Strafe erhält.

Zur Erinnerung: Schon die alte Strauß’sche Formel, rechts von der Union dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben, enthielt das delikate Kalkül, dass man, um sie bei der Stange zu halten, auch für die alten Nazis genügend Angebote bereithalten müsse.

Abgesehen von der Untauglichkeit dieses Versuchs – wer AfD-Politik will, wählt AfD – offenbart sich hier ein zweifelhaftes Verständnis vom Souverän. Jeder Wähler trägt gegenüber seinem Gemeinwesen Verantwortung. Wer Rechts­ex­tre­me wählt, ist verantwortlich für Rechtsextremismus. Die demokratische Substanz der Parteien von links bis konservativ erweist sich darin, dass sie den liberalen Kern unserer Demokratie verteidigen, und nicht darin, eine Wählerschaft, die das System der repräsentativen Demokratie verachtet, mit autoritären Politikangeboten zu verwöhnen.

Foto: privat

Berthold Franke ist Sozialwissenschaftler, Musiker und Autor. Länger als 30 Jahre war er an zahlreichen Stationen des Goethe-Instituts weltweit tätig, darunter in Paris und Dakar.

Von Deutschlands Untergang ist es nicht weit bis zu „Deutschland erwache“. Dabei spielt den Katastrophisten die sich in einen Komplex neuer Zukunfts- und Existenzunsicherheit verdichtende Dynamik dreier Angstthemen in die Hände: Migration, Krieg und Klima. In der demagogisch simplifizierenden Bewirtschaftung dieser Themen, wie sie von ganz rechts bis mittlerweile weit hinein ins liberalkonservative Lager gelingt, spiegelt sich die Geschichte eines Realitätsverlustes, die auf eine systemische Schwäche liberaler Demokratien hinweist. Kurz gesagt geht es um die Angst der Regierenden vor dem Volk, dem die ganze Wahrheit einer problematischen Weltlage angeblich nicht zugemutet werden darf. Die Zu­rück­hal­tung bei einer der Radikalität der Pro­ble­me entsprechenden Wähleransprache folgt dabei dem nicht ganz irrationalen Kalkül, dass, wer überhaupt versucht, die Dinge irgendwie anzugehen, wie (bei allem Murks) es doch die Grünen in der Ampel versucht haben, umgehend abgestraft wird. In der Folge haben sämtliche deutsche Regierungen von Helmut Kohl bis Olaf Scholz versucht, solange es gut ging, die Probleme lieber mit Geld zuzuschütten, als sie strukturell und nachhaltig anzugehen.

Und es ging lange gut, am längsten in der Ära Angela Merkel, deren Methode der taktischen Zerlegung aller großen Fragen der Zeit in kleinschrittige Mikropolitik glatte 16 Jahre funktionierte und einen sensationellen Scherbenhaufen unerledigter Aufgaben für die Nachfolger hinterließ, die noch in ihrer Ursprungsplanung offenbar davon ausgingen, dass man etwa mit dem Klimawandel fertigwerden kann, ohne dass es irgendjemand etwas kostet. Bei Corona hatte es ja gerade noch so hingehauen! Doch leider, seit der Zeitenwende wird es eng. Und es rächt sich, dass man es heute mit einem Wahlvolk zu tun hat, dem viel zu lange eine quasi schmerzfreie Bewältigung der Zukunftsfragen versprochen wurde, deshalb die in den Krisenszenarien enthaltene Botschaft aggressiv ablehnt und lieber die rechte „Alternative“ mit ihren Lügenversprechen wählt.

Es wäre naiv anzunehmen, dass eine klügere, rechtzeitig zupackende Arbeit der Ampelkoalition diesen Erfolg komplett verhindert hätte. In Wahrheit lässt sich ja keiner der genannten Pro­blemkomplexe einfach „lösen“, sondern muss langfristig gemanagt und moderiert werden. Womit wir bei den tatsächlichen Fehlern der Ampel wären, etwa beim toxischen Verhalten der FDP, der bisweilen ruinös unprofessionellen Performance der Grünen oder der rätselhaften Unfähigkeit der SPD, auch nur ansatzweise eine wirklich ernst zu nehmende Politik in Sachen Wohnungsbau und Mieten in Gang zu setzen. Vor allem aber sind wir bei der geradezu aufreizend demonstrativen Kommunikationsverweigerung des Kanzlers, der offensichtlich auch zweieinhalb Jahre nach der von ihm selbst ausgerufenen Zeitenwende immer noch nicht verstanden hat, dass die aktuelle Lage nicht einfach mit dem nächsten Doppel- oder Dreifachwumms zu bewältigen ist.

Die Schwäche liberaler Demokratien ist die Angst der Regierenden vor dem Volk, dem die ganze Wahrheit angeblich nicht zugemutet werden darf

Ja, die Ampel hat es mit einer neuen Dimension der Bedrohung unseres liberalen Gesellschaftsmodells zu tun, dazu mit einem veränderten Parteiensystem, aus dem bis auf Weiteres immer fragilere und schwerer zu moderierende Mehrparteienregierungen hervorgehen werden. Umso klarer sollte daher sein, dass es in einer ausgefransten und vielerorts manipulativen Medienwelt als Erstes einer präzisen und angstfreien Kommunikation bedarf, die die Wählerinnen und Wähler ernst nimmt, indem sie deutlich macht, was auf dem Spiel steht und mit welchen Kosten und Mühen eine problemadäquate, die liberale Demokratie nachhaltig stärkende Politik leider rechnen muss. Den in ihrer Zeit in puncto Machterhalt erfolgreichsten Regierungschefs der Bundesrepublik, Adenauer, Kohl und Merkel, hat erstaunlicherweise ihre größte Schwäche, nämlich die Kommunikation, kaum geschadet. Im Fall des aktuellen Amtsinhabers entpuppt sie sich aber als schlimmer Malus.

Der neue Faschismus darf niemanden überraschen, er ist uns bekannt als zuverlässiger Begleiter der politischen Moderne, als gewissermaßen hässlicher Bruder der Demokratie. Wann immer diese ihre großen Versprechen der Freiheit, Fairness und Partizipation nicht erfüllt, versucht ihr Zwilling die Ängste der Menschen in seine Regie zu nehmen. Und es ist wohl so, dass unter den sich zuspitzenden Herausforderungen einer Welt mit acht, bald zehn Milliarden Menschen, die alle ein Recht auf die Einlösung dieser Versprechen haben, bei den begrenzten globalen Ressourcen und der im großen Maßstab ungleichen Verteilung der Chancen auf unabsehbare Zeit beste Produktionsbedingungen für neurechten Irrationalismus aller Art bestehen.

75 Jahre nach ihrer Gründung und 35 Jahre nach der Vereinigung steht die zweite deutsche Repu­blik vor ihrer ersten, wirklich harten Bewährungsprobe. Für deren Bestehen bedarf es zuallererst nüchtern analysierender Medien und unerschrocken handelnder politischer Eliten mit einem Navigationssystem, das sich statt an kleinlichem Kalkül unbedingt am Ziel der Erhaltung unserer Freiheit orientiert.