Wählen mit 16: Späte Debatte um frühes Wählen

Lehrerverbandschef Stefan Düll hält 16-Jährige für nicht reif genug für eine politische Wahl. Damit erntet er Widerspruch.

Milad Tabesch, Sohn geflüchteter Eltern, beim Schulworkshop zur Europawahl in Bochum Foto: Bernd Thissen/dpa

BERLIN taz | Wenn am Sonntag über die Zukunft der EU abgestimmt wird, dürfen in Deutschland erstmals auch 1,4 Millionen 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben. Im November 2022 hat die Ampelregierung das Wahlalter für die Europawahl von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt. Damit ist Deutschland eines von insgesamt vier EU-Ländern neben Malta, Österreich und Belgien, die Minderjährige am 9. Juni wählen lassen.

Einer, der das kritisch sieht, ist Lehrerverbandschef Stefan Düll. Gegenüber der taz sprach er sich gegen die überhöhten Erwartungen an ein Wahlalter mit 16 aus: „Ich glaube nicht, dass Jugendliche in dem Alter schon über dieselbe Reife verfügen wie 18-Jährige“. Gegenüber anderen Medien hatte Düll zuvor behauptet, dass sich ein Großteil der Minderjährigen „nicht die Bohne für Politik mit ihren vielen Facetten“ interessiere.

Die Formulierung bezeichnete Düll im Nachhinein als „unglücklich“, da viele den Zusatz ‚mit vielen Facetten‘ überlesen hätten. Tagesaktuelle Themen bewegten die Heranwachsenden sehr wohl. Aus Sicht von Düll darf sich die Politik vom Wahlrecht mit 16 nicht zu viel versprechen. Die bisherigen Nichtwähler von 40 Prozent bei einer Europawahl blieben der Wahlurne sicher nicht fern, weil sie erst ab Volljährigkeit wählen durften.

Eine am Mittwoch durch die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Umfrage scheint Dülls Aussagen zu bestätigen: Demnach wollen gerade mal 57 Prozent der Befragten im Alter von 16 bis 25 Jahren bei der Wahl zum Europäischen Parlament ihre Stimme abgeben. Bei den Älteren zwischen 26 und 69 Jahren sind es allerdings auch nur 62 Prozent.

Nicht reif genug?

Dass Menschen unter 18 die Reife für eine politische Wahl fehle, wie auch CDU/CSU glauben, ist umstritten. Dem Berliner Politikwissenschaftler Thorsten Faas leuchtet das Argument nicht ein. „In unseren Studien haben wir 15- bis 20-Jährige verglichen und keine Unterschiede hinsichtlich Wissen oder Interesse gefunden“, sagte Faas der Nachrichtenagentur AFP.

Auch aus Sicht der Bundesschülerkonferenz treffe Dülls „zu pauschales Urteil“ nicht zu. „Ich kenne sehr viele Jugendliche, die sich sehr für Politik interessieren“, sagt Generalsekretärin Louisa Basner der taz. Das zeige die hohe Beteiligung an den U-18-Wahlen, die Schulen vor Bundestags, Landtags- und Europawahlen abhielten. „Selbst mitbestimmen zu dürfen, steigert natürlich das Interesse an einer Wahl“, so Basner. An ihrer Schule sei die Europawahl deshalb gerade bei den 16- und 17-Jährigen ein großes Thema.

Basner sieht jedoch auch die Schulen in der Pflicht, mehr aktuelle politische Themen im Unterricht zu behandeln – und das Wahlalter generell auf 16 abzusenken. Vergangene Woche erst hatte Familienministerin Lisa Paus (Grüne) plädiert, das Wahlalter auch für Bundestagswahlen auf 16 abzusenken.

Unterstützung erhält Düll von der Bundesvorsitzenden des Deutschen Philologenverbands Susanne Lin-Klitzing. „Junge Menschen werden in Deutschland mit 18 Jahren volljährig. Damit wird ihnen die volle Verantwortung für ihr eigenes selbstständiges Entscheiden und Handeln mit mehr gesellschaftlicher Verantwortung zugeschrieben!, sagt Lin-Klitzing der taz. Es sei deshalb nur konsequent, auch das Wahlalter bei 18 Jahren zu belassen.

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