Humanitäre Lage im Gazastreifen: Die andere Stimme Israels

Wegen mangelnder Hilfslieferungen droht in Gaza eine Hungersnot. Die jüdisch-palästinensische Gruppe Standing Together will das nicht hinnehmen.

Ein LKW steht in einer Autoschlange

Praktische Hilfe, politischer Protest: der Konvoi von Standing Together am Donnerstag nahe Kerem Schalom Foto: Mostafa Alkharouf/AA/getty images

GAZAGRENZE taz | Rula Daood steht auf dem Parkplatz einer Tankstelle 5 Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. „Wir wollen zeigen, dass es ein anderes Israel gibt, das weiß, dass alle verlieren, wenn dort drüben Kinder verhungern“, sagt die Aktivistin der jüdisch-palästinensischen Bewegung Standing Together. Daood und zwei Dutzend Mitstreiter haben einen Lastwagen gemietet und sind am Donnerstagmorgen aus Tel Aviv aufgebrochen. „Wir hoffen, dass wir Essen und humanitäre Hilfe nach Gaza bringen können.“

Rund 20 Fahrzeuge mit den lila­farbenen Fahnen der Gruppe begleiten die Lieferung. Auf der Ladefläche liegen Plastiktüten voller Linsen, Mehl und Konserven – viel ist es nicht. Laut Hilfsorganisationen bräuchte es täglich Hunderte Lastwagen, um die 2,3 Millionen Menschen in Gaza mit dem Nötigsten zu versorgen. „Wir haben nur einen Tag lang öffentlich gesammelt, weil wir Probleme vermeiden wollten“, sagt Daood. Umfragen zufolge sind 68 Prozent der jüdischen Israelis gegen Hilfslieferungen. Den Treffpunkt veröffentlichte die Gruppe erst kurz vor der Abfahrt.

Angesichts der drohenden Hungersnot in Gaza wächst international die Kritik an der israelischen Führung. US-Präsident Joe Biden warnte Israel bei seiner Rede zur Lage der Nation am Donnerstag davor, humanitäre Hilfe als Druckmittel einzusetzen. Weil die israelische Regierung sich seit Wochen weigert, mehr Hilfe in den Küstenstreifen zu lassen, kündigten die USA zudem an, vor der Küste von Gaza ein schwimmendes Dock für eine Versorgung auf dem Seeweg bauen zu wollen. US-amerikanische und jordanische Flugzeuge warfen mehrmals Lebensmittel aus der Luft über dem Küstenstreifen ab, können damit aber nur einen Bruchteil dessen liefern, was nötig wäre.

Auf dem Weg nach Süden passiert Daoods Konvoi das Gelände des Nova-Festivals, auf dem Hamas-Terroristen am 7. Oktober mehr als 350 Menschen ermordeten. In der Nähe wummern Artilleriegeschütze, die Ziele in Gaza beschießen. Mehr als 30.000 Menschen wurden dort seit Kriegsbeginn nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums getötet.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es fehlt an Grenzübergängen

Unter den Autoreifen sirrt der von Panzerketten malträtierte Asphalt. Die Aktivisten wollen Kerem Schalom an der ägyptischen Grenze erreichen, den einzigen Grenzübergang, den Israel für Hilfslieferungen geöffnet hat. Doch wenige Kilometer vorher stoppen Polizei und Armee den Tross an einer Kreuzung nahe dem Kibbutz Nir Jitzhak. Der Übergang sei militärisches Sperrgebiet.

Die Aktivisten sind nicht die Einzigen, die zum Grenzübergang wollen. Zweimal pro Woche machen sich religiös-­na­tio­na­listische Gruppen auf den Weg nach Kerem Schalom und blockieren teils stundenlang die Zufahrt unter den Augen von Polizei und Armee. „Geht doch rüber nach Gaza und bleibt dort“, ruft eine Autofahrerin dem Konvoi zu. „Ich bin dafür, dass die Menschen in Gaza erst wieder Hilfe bekommen sollen, wenn die Hamas alle israelischen Geiseln freigelassen hat.“

Rund 300 Lkw-Ladungen wären laut dem Welternährungsprogramm nötig, um die Zivilbevölkerung im weitgehend zerstörten Gazastreifen mit dem Nötigsten zu versorgen. Ak­tuell kommen rund 100 Lastwagen täglich in das Gebiet, im Februar waren es im Schnitt nur 83 pro Tag. Zum einen fehlt es an Grenzübergängen, die meiste Hilfe kommt durch Kerem Schalom, einige Dutzend Lastwagen pro Tag passieren zudem den ägyptischen Grenzübergang Rafah.

Grenzübergänge im Norden hält Israel geschlossen. Lieferungen dorthin müssen daher von Süden durch den Küstenstreifen gelangen, in dem gekämpft und bombardiert wird. Zum anderen wird jede Ladung von Israel auf militärisch nutzbare Güter kontrolliert. Dabei wurden laut CNN teils komplette Lastwagen zurückgewiesen, weil sie Gegenstände wie Kinderspielzeug und Gehhilfen geladen hatten. Israel beschuldigt hingegen die Hilfsorganisationen, die Hilfsgüter nicht schnell genug zu verteilen.

Eine halbe Million vom Hungertod bedroht

Im Gazastreifen herrscht indes Verzweiflung. Immer wieder werden Hilfskonvois im Inneren des Küstenstreifens vom Militär behindert oder von hungrigen Menschen gestoppt und leergeräumt, bevor sie die am schlechtesten versorgten Gebiete im Norden erreichen. Vergangene Woche starben nach palästinensischen Angaben 118 Menschen nahe eines Hilfskonvois, unter anderem durch Schüsse israelischer Soldaten. Mehr als eine halbe Million Menschen sind nach Angaben der UNO vom Hungertod bedroht.

Drei Minuten gibt die Grenzpolizei den Aktivisten am Donnerstag, um die Straße zu räumen und umzukehren. Trotzdem wertet Suf Patischi, einer der Mitorganisatoren, die jüdisch-palästinensische Konvoi-Aktion als Erfolg. Dass sie die Spenden binnen eines Tages zusammenbekommen hätten, zeige: „Es gibt eine andere Stimme in Israel, eine die nicht möchte, dass Menschen in Gaza verhungern.“ Standing Together wolle es bald erneut mit einer Lieferung versuchen oder die Hilfsgüter an in Gaza tätige internationale Organisationen übergeben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.