Nachruf auf Sozialökonom Gert Wagner: Sein Kernthema war Gerechtigkeit
Gert Wagner war ein großartiger Sozialökonom, Vermittler zwischen Wissenschaft und Journalismus. Jetzt ist der treue taz-Genosse plötzlich verstorben.
Näheres war dann der taz Ende September zu entnehmen, denn auf einen Themenvorschlag folgte dann ja in kurzer Zeit oft auch der druckbare, also nicht extra von Wissenschaftsjargon zu befreiende Beitrag. Dabei war Gert Wagner ein Professor, dessen Titel und Funktionen hier mehr als einen Absatz einnehmen würden, und damit wären seine mannigfaltigen, studienunterfütterten Interessen noch immer nicht beschrieben.
Er war bei uns meist zufrieden damit, bloß als „Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler“ vorgestellt zu werden, sofern dabei noch irgendwie sein Lieblings-, wenn nicht sogar wissenschaftliches Lebensprojekt auch erwähnt wurde: das SOEP. Hier also – auch für Gert Wagner: Das Sozio-oekonomische Panel ist eine gigantische Statistik, für die etwa 30.000 Menschen in knapp 15.000 Haushalten in Deutschland regelmäßig nach Lebens- und Einkommensumständen befragt werden. Und zwar seit 1984. In diesem wunderbaren Datenbergwerk, angesiedelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, werden am laufenden Meter neue Erkenntnisse darüber geschürft, wie es der Bundesrepublik geht.
Auch die taz verwendet regelmäßig SOEP-Daten, spricht mit SOEP-ForscherInnen, grübelt mit ihnen über Unterschiede zwischen SOEP-Daten und etwa denen des Statistischen Bundesamts. Gert Wagner war von 1989 bis 2011 Chef des SOEP. Es war erkennbar sein Wunsch und Ehrgeiz, dass nicht nur die taz, sondern die gesamte Presse lernte, anständig mit Statistiken und Daten umzugehen und ihnen aber auch im richtigen Moment zu misstrauen. Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen: Wahrscheinlich war Gert Wagner die größte Ein-Prof-Bewegung Deutschlands zur Versöhnung von Wissenschaft und Journalismus.
Sein Kernthema war Gerechtigkeit
Wobei ich glaube, dass er lieber mit der Presse als mit der Politik zusammenarbeitete, auch wenn er viele Jahre in Räten und Kommissionen diverser Regierungen saß und ihnen auch vorsaß, etwa von 2014 bis 2020 dem Sozialbeirat der Bundesregierung. Doch spätestens seitdem Wagner 2002 und 2003 in Kanzler Gerhard Schröders (SPD) „Rürup-Kommission“ Reformvorschläge für die Sozialsysteme mit ausgearbeitet hatte, wusste er ja, dass solche Gremien nur dazu dienen, der Politik die Legitimationsarbeit abzunehmen und eine gute Show abzuliefern – und am Ende wird umgesetzt, was das Kanzleramt eh schon wollte.
Wagner selbst hätte das so nicht formuliert. Er hatte das Pech, dass die von ihm ausformulierte „Kopfpauschale“ im Gesundheitssystem, eine Art Kopfsteuer statt des prozentualen Krankenkassenbeitrags, von der SPD abgelehnt und von der CDU unter Angela Merkel als Hilfsmittel für mehr Privatisierung gekapert wurde. Dabei hatte er sich das so überhaupt nicht gedacht. Denn natürlich war Wagner im Grundsatz Sozialdemokrat, auch Mitglied – Letzteres nur nicht sehr prononciert. Sein Kernthema war jedenfalls Gerechtigkeit.
Er wollte eben nur nicht, dass an der falschen Stelle nach Gerechtigkeit gesucht wurde. Es machte ihn zum Beispiel sauer, dass viele Jahre lang über ein „Schrumpfen der Mittelschicht“, den „Abstieg der Mitte“ und Ähnliches gesprochen wurde, obwohl sich das in den Zahlen gar nicht abbildete. Auch die Lebenszufriedenheitsmessungen gaben das, bis in die Pandemie hinein, nicht her. Selbstmitleid und eingebildete Ängste von Gar-nicht-so-schlecht-VerdienerInnen, meinte er, verbauten den Blick auf die echten Prekären, die SaisonarbeiterInnen oder illegal Beschäftigten.
Im Auge hatte er mit dieser Kritik übrigens nicht nur die JournalistInnen, sondern auch so manchen Professorenkollegen gerade am DIW, das Wagner selbst neben dem SOEP kurzfristig geleitet hatte. Für ihn war Gerechtigkeitsempfinden eine öffentliche Ressource, mit der sorgfältig gehaushaltet werden muss, die nicht verschwendet werden darf – und schon gar nicht mit falschen Interpretationen von Zahlen.
Wagner war Fußballspieler, bis ihm sein Knie dazwischenkam. In seinem hessischen Geburtsort Kelsterbach hatte er vor 50 Jahren den ersten alternativen Freizeitsportclub gegründet. Er folgte originellen Diätplänen, und er war mit seinem Alter manchmal etwas eitel, dabei hatte er noch nach seiner Emeritierung mehr Ideen pro Woche als andere im ganzen Berufsleben. Er förderte Nachwuchstalente, wo er sie sah, und ging dafür auch Risiken ein. Die taz hat so viel von ihm, der auch treuer taz-Genosse war, gelernt. Am vergangenen Sonntag ist er im Alter von 71 Jahren plötzlich verstorben, und wir ringen damit, das zu verstehen.
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