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Debatte um Jugendgewalt in BerlinDas Gefühl reicht nicht

Uta Schleiermacher
Kommentar von Uta Schleiermacher

Jugendliche hätten an Silvester in Kauf genommen dass jemand stirbt, behauptet der Regierende Bürgermeister. Belegen kann er das nicht.

Wer ein Foto oder Video sieht, weiß noch längst nicht alles Foto: Jens Kalaene / dpa

D ie Aussage Kai Wegners (CDU) ließ aufhorchen. Die Qualität von Jugendgewalt habe sich verändert, „man nimmt mittlerweile in Kauf, dass man Feuerwehrleute und Polizisten schwer verletzt. Oder mehr: man nimmt es in Kauf, dass auch der Tod eines Menschen möglich ist“, sagte der Regierende Bürgermeister bei der Pressekonferenz nach dem dritten Gipfel gegen Jugendgewalt am Dienstag. „Das waren Anschläge auf das Leben von Rettungskräften“, sagte er zu der vergangenen Silvesternacht. Jugendliche, die vor Totschlag nicht zurückschrecken? Das klingt in der Tat schlimm. Und nach einem großen Problem.

Doch ein großes Problem liegt hier bei Wegner selbst. Denn der Regierende Bürgermeister stützt diese Einschätzung auf seine persönlichen Eindrücke und sein Gefühl. Auf Nachfrage, ob denn Gerichtsurteile inzwischen untermauert haben, dass Jugendliche an Silvester den Tod von Menschen in Kauf genommen hätten, sagte er: „Da brauche ich keine Gerichtsverhandlungen. Sondern da haben mir die Bilder und die Darstellungen der Polizistinnen und Polizisten und der Feuerwehrleute gereicht.“

Als Regierender Bürgermeister muss er aber mehr parat haben. Fast zehn Monate sind vergangen seit den Silvesterkrawallen. Es gab nicht nur den Austausch in den drei Jugendgipfeln. Es gab intensive Gespräche mit Trägern aus der Jugendarbeit, Erfahrungsberichte aus Gewaltpräventionsangeboten und direkte Kontakte zwischen Jugendlichen und Feuerwehrleuten.

Und es gab Gerichtsverhandlungen. Allerdings stand bei keiner dieser Verhandlungen bisher im Raum, dass im Rahmen der Silvesterkrawalle ein Tatverdächtiger willentlich der Tod von Menschen in Kauf genommen hätte. Das ist deshalb so klar, weil bei Verdacht auf versuchten Totschlag der Fall vor einem Schwurgericht beim Landgericht angeklagt wird. Die bisherigen Fälle wurden aber nach Auskunft des Strafgerichts alle vor dem Amtsgericht verhandelt.

11 Täter verurteilt

Das, was in der Silvesternacht passiert ist, war nicht harmlos. Insgesamt 150 Verfahren leitete die Staatsanwaltschaft nach eigenen Angaben ein. In 41 Verfahren erhob sie Anklage, 15 Fälle sind vor Gericht bisher verhandelt worden, 11 Täter wurden verurteilt. 68 Verfahren wurden eingestellt, 54 davon allerdings deshalb, weil die Staatsanwaltschaft keinen Tatverdächtigen „namhaft machen“ konnte. 8 Verfahren sind noch offen.

In drei Fällen wurden die Täter wegen Angriff auf Vollstreckungsbeamte mit teils gefährlicher Körperverletzung verurteilt, in zwei Fällen wegen gefährlicher Körperverletzung. Außerdem gab es vier Verurteilungen wegen Verstoß gegen das Waffengesetz und eine wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz.

Diese Urteile beruhen auch auf den Aussagen der Einsatzkräfte aus der Nacht, die Wegner noch so lebendig im Ohr hat. Wegner sollte genau deshalb auch diese Urteile heranziehen, um Aussagen über die Qualität der Gewalt zu machen. Denn diese einzuordnen und zu bewerten, das muss er schon den Rich­te­r*in­nen überlassen.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Wegner aus einem Gefühl heraus dramatisiert. In der Debatte um den Görlitzer Park hatte er behauptet, dass Dealer dort Minderjährige in die Prostitution treiben würden – die Polizei hatte dazu keine Erkenntnisse.

Fußball mit der Feuerwehr

Wegner tut auch den Einsatzkräften keinen Gefallen, wenn er sie mit dem Gefühl in die kommende Silvesternacht schickt, dass es da draußen welche gibt, die ihnen nach dem Leben trachten. Damit fällt er auch weit hinter die bisherigen, beim zweiten Gipfel beschlossenen Maßnahmen zurück: Inzwischen haben sich Feuerwehrleute und Jugendliche in den Bezirken zum Fußballspiel und Austausch getroffen. Wegner allerdings hat sich gedanklich nicht vom Tag eins nach der Silvesternacht hinwegbewegt.

Seine Aussage, dass Jugendliche auch den Tod Anderer in Kauf nähmen, nutzte Wegner am Dienstag dazu, um die Notwendigkeit für Repressionen zu untermauern. Die Polizei werde an Silvester Recht und Gesetz auf den Straßen durchsetzen, kündigte der Regierungschef an. Das klang scharf. Aber auch etwas vage.

Wegner unterstrich daneben auch die Bedeutung der Prävention. Hier bezog er sich auf die Expertise aus der Jugendhilfe, zitierte Aussagen von Fachleuten, legte seine eigenen Erkenntnisgewinne dar. „Ich will, dass Berlin ein Chancenlabor ist für junge Menschen“, sagte er. Kein Kind, kein Jugendlicher solle zurückbleiben. Was er zur Prävention sagte, klang deutlich informierter und weniger aufgeregt, Wegner wirkte sicherer.

Prävention ist wohl mehr sein Ding. Er sollte den Schwerpunkt darauf legen. Und aufhören, mit nicht gedeckten Behauptungen Dringlichkeit für Repressionen herbeizureden. Denn die können leicht gerade aufgebautes Vertrauen wieder zerstören.

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Uta Schleiermacher
Redakteurin für Bildung und Feminismus in der taz-Berlin-Redaktion
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5 Kommentare

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  • "Allerdings stand bei keiner dieser Verhandlungen bisher im Raum, dass im Rahmen der Silvesterkrawalle ein Tatverdächtiger willentlich der Tod von Menschen in Kauf genommen hätte. Das ist deshalb so klar, weil bei Verdacht auf versuchten Totschlag der Fall vor einem Schwurgericht beim Landgericht angeklagt wird."

    Falsch.

    Bei einem versuchten Totschlag ist der Totschlag die eigentlich beabsichtigte Tat, die nicht gelingt.

    Den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen, heißt, deren Tod als "Kollateralschaden" zu akzeptieren.

    Das ist das, wovon Wegner spricht.

    Da der zentrale Punkt dieser Wegner -Kritik falsch ist, läuft natürlich auch der Rest ins Leere.

  • Minderjährige drogenabhängige Prostituierte gab es in Berlin schon vor 50 Jahren (Christiane F.). Nicht gut.

  • Gerichtsurteile sind für eine solche Einschätzung nicht zu gebrauchen, da nur ein geringer Zeil der Straftaten überhaupt zur Anklage gekommen ist. Angesichts eines brennenden Buses unter bewohnten Wohnungen ist die Einschätzung des Bürgermeisters wohl richtig. Wenn Raketen auf Einsatzorte abgeschossen werden, dann ist das einfach gefährlich. Da gibt es nix zu beschönigen.

  • Wenn man große Böller und Raketen auf Einsatzkräfte und deren Fahrzeuge wirft/schießt, nimmt man selbstverständlich schwere Verletzungen oder gar den Tod der Personen in Kauf.

    Ob das jetzt im Einzelfall gerichtsfest dokumentiert werden kann und am Ende gar ein solches Urteil steht, steht auf einem anderen Blatt.

  • „Ich will, dass Berlin ein Chancenlabor ist für junge Menschen“, sagte er. Kein Kind, kein Jugendlicher solle zurückbleiben." Schöne Worte. Es fehlen nur noch die Taten: sofortige Rücknahme der drastischen Kürzungen bei den Angeboten für Kinder und Jugendliche.



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