Afrika nach Staatsstreich in Niger: Die Putsche sind erst der Anfang

In der Phase der Umwälzungen: Eine neue Generation will ein selbstbewusstes Afrika entstehen lassen, das sich vom kolonialen Erbe emanzipiert.

Ein Mann hält in einer protestierenden Menge in Niger ein Schild hoch: A Dieu la France

Die Anhänger der Putschisten wenden sich auch gegen das aus ihrer Sicht „arrogante“ Frankreich Foto: Mahamadou Hamidou/reuters

Als Nigers Militärputsch gerade begonnen hatte, seufzte ein damit befasster Diplomat: „Der beste Ausgang wäre, wie so oft in Westafrika, wenn es einfach folgenlos bliebe.“ Der Seufzer war nachvollziehbar. Aber gut eine Woche später ist klar: Er bleibt nicht folgenlos. Und das ist gut so.

Afrika erlebt momentan eine jener tiefen Umwälzungen, die etwa alle 30 Jahre den Kontinent erschüttern, um den Preis oft schweren Leids. In den 1960er Jahren räumte Europa seine Kolonialreiche; innerhalb von rund zehn Jahren wurden fast alle Kolonialgebiete unabhängig. Doch die jungen Staaten waren meist schlechte Kopien der vorherigen Kolonien und gingen mit wenigen Ausnahmen keinen eigenen Weg.

In den 1990er Jahren wurden diese Staatsgebilde reihenweise von der eigenen Bevölkerung abgeräumt; Einparteienregime wurden von Mehrparteiensystemen abgelöst oder auch von Rebellengruppen. Doch die „zweite Befreiung“ wurde meist von den alten Eliten gekapert – sie kleideten alten Autoritarismus in ein neues demokratischeres Gewand, während Afrika zugleich als benachteiligter Akteur in die neoliberale Globalisierung hineingezogen wurde und die Spielräume der Politik immer enger wurden.

Nun, in den 2020er Jahren, will eine neue Generation auch die unansehnlich gewordenen demokratisch-liberalen Fassaden beiseite schieben und ein selbstbewusstes Afrika entstehen lassen, das sich in jeder Hinsicht vom kolonialen Erbe emanzipiert – ausgehend vom kulturellen Selbstverständnis über die ökonomische Einbindung bis hin zu den politischen Systemen. Sie kennt die Kolo­nial­zeit nicht einmal mehr aus den Erzählungen der Eltern. Sie kann sich gar nicht mehr positiv oder negativ gegenüber der Kolo­nial­erfahrung definieren. Sie will eigene afrikanische Erfahrungen und schafft sie notfalls selbst.

Von Sudan bis Senegal, mit den ­Sahel-Putschländern dazwischen, zieht diese „dritte Befreiung“ eine Schneise der Aufmüpfigkeit quer durch den Kontinent. Von Kamerun bis Uganda, von Simbabwe bis Nigeria steigt die Ungeduld mit starrsinnigen Alten, die nicht den Platz räumen. Irgendwann wird auch in Südafrika die Generation, die Nelson Mandela nur noch als Mythos kennt, den ANC als kraftlosen Schatten seiner selbst auf den Müllhaufen der Geschichte befördern.

Eine neue Generation will ein selbstbewusstes Afrika entstehen lassen, das sich in jeder Hinsicht vom kolonialen Erbe emanzipiert

Wie schon in der Vergangenheit ist die Erschütterung in den ehemaligen französischen Kolonialgebieten kurzfristig am heftigsten. Anders als Großbritannien hielt Frankreich in den 1960er Jahren krampfhaft an seinen Kolonien fest. Es führte in Algerien die blutigsten Abwehrkriege, es setzte in den bisherigen Provinzen von Französisch-Westafrika und -Zentralafrika möglichst loyale Subjekte als neue Herren der neuen Staaten ein und zog dort die Strippen: Aus Besatzungstruppen wurden Eingreiftruppen, aus Verwaltern wurden Berater, die alte Kolonialwährung CFA-Franc blieb und wurde weiter aus Paris geführt, ebenso wie die Sprache, das Schulwesen, das Rechtssystem, die Wirtschaft, das kulturelle und intellektuelle Leben.

Erst ab den 1990er Jahren änderte sich das allmählich, aber bis heute hat Frankreich in Afrika die Überheblichkeit nicht abgelegt, die es beispielsweise bis zuletzt selbstverständlich machte, dass Frankreich seine Militäroperationen in Mali nicht vorab mit Mali absprach.

Es ist keine Überraschung, dass die neue Generation der 2020er Jahre vor allem mit diesem Frankreich und seinen afrikanischen Freunden ein Problem hat. Aber Afrikas neue Umwälzung geht viel tiefer. Eine Wahrnehmung hat sich festgesetzt, dass Afrika immer das Opfer der Krisen der anderen ist. Afrika litt unter den globalen Shutdowns infolge der Coronapandemie, obwohl Afrika nicht an ­Covid-19 schuld war – eigene Seuchen sind in Afrika viel verheerender, aber das kümmert den Rest der Welt kaum.

Eigenen Rhythmus kreieren

Afrika leidet unter der globalen Lebensmittelkrise infolge des Ukraine-Kriegs, obwohl Afrika daran nicht schuld ist – eigene Kriege sind in Afrika viel verheerender, aber das kümmert den Rest der Welt kaum. Manchmal sorgt sich der Rest der Welt um Menschenrechte in Afrika, aber nimmt das Massensterben bei der Flucht vor afrikanischen Missständen Richtung Europa achselzuckend hin.

Wie lange soll Afrika noch nach dem Rhythmus der anderen tanzen? Und wo ist Raum für neue Führungsgestalten oder Teilhabemöglichkeiten, die einen eigenen Rhythmus kreieren, damit Afrika endlich auf eigener Grundlage an der globalisierten Welt teilnimmt? Das sind die Grundfragen hinter Nigers Putsch, der in Afrika eine Grundsatzdebatte losgetreten hat, die in keinem Verhältnis zu seinen relativ banalen Gründen steht. Die schlechteste Antwort darauf wäre, dass das „einfach folgenlos“ bliebe.

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