piwik no script img

Verfassungsgericht zu Fall Oury JallohAussitzen nach Aktenlage

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Die Karlsruher Richter lehnen neue Ermittlungen im Fall Oury Jalloh ab. Das Urteil markiert den Schlusspunkt von 18 Jahren deutschem Justizversagen.

Gedenken an Oury Jalloh in Dessau im Jahr 2018 Foto: xcitepress/imago

G anze 40 Monate hat das Bundesverfassungsgericht gebraucht um im Fall des 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannten Oury Jalloh zu entscheiden: Die Akten bleiben zu, das Verfahren wird nicht wieder aufgerollt. Normal ist für solche Verfahren ein Bruchteil dieser Zeit – im Schnitt dauern sie etwa ein Jahr. Die Initiative „Gedenken an Oury Jalloh“, die mit dem Bruder des Toten hinter der Verfassungsbeschwerde stand, hatte sich indes auf die Ablehnung eingestellt.

Für sie stellte das Karlsruher Urteil nur einen notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dar. Denn dort will sie das Verfahren neu aufrollen lassen. Dies ist erst dann möglich, wenn der nationale Instanzenweg ausgeschöpft wurde. Das wurde mit der extrem langen Verfahrensdauer verschleppt.

Dass die Karlsruher Richter die Einstellung der Ermittlungen in Sachsen-Anhalt bestätigten, verwundert nicht. Ihr Urteil fusst auf den Akten der Justiz. Und die hat in dem Verfahren von Beginn an fast alles unterlassen, was nötig gewesen wäre, um dem Verdacht eines anderen Tathergangs nachzugehen als einem Suizid Jallohs. Beweismittel, Asservaten, Einsatzprotokolle verschwanden, Videoaufnahmen wurden gelöscht, offene Widersprüche Sachverständiger nicht aufgeklärt, offensichtliche Lügen von Beamten vor Gericht auf sich beruhen gelassen.

Je länger die Liste solcher Versäumnisse wurde, desto mehr fehlt es heute in den Akten an hinreichenden Grundlagen für einen „Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten“, wie es die Verfassungsrichter jetzt feststellten. Die Indizien, die die Initiative in jahrelanger Arbeit sammelte, fanden in die Akten keinen Eingang. Und geht man von der Aktenlage aus, die die Staatsanwaltschaft gesammelt hat, sind weitere Ermittlungen tatsächlich „nicht aussichtsreich“, auch das schreiben die Karlsruher Richter.

Ob am Ende in Straßburg ein anderes Urteil steht, sei dahin gestellt. Doch der Gang dorthin ist die logische Konsequenz aus einem Versagen der deutschen Justiz, das 18 Jahre zurück reicht und heute seinen absehbaren, vorläufigen Schlusspunkt fand.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • Ist es denn wirklich ein "Versagen der deutschen Justiz", wenn genau diese Justiz auf allen verfügbaren Ebenen passiv und aktiv die Beweismittelerhebung unterbindet, manipuliert und in einem Ausmaß uminterpretiert, dass die Aufklärung der Menschenverbrennung in einem deutschen Polizeirevier dadurch für unmöglich erklärt werden kann?

    Oder ist es nicht vielmehr doch eben ein - in diesem Paradebeispiel besonders - offenkundiges System, das genau so funktionieren soll?!



    Und das der "Zeitfaktor" dabei eine entscheidende Rolle spielt, kann man an der absolut unerklärlichen Dauer für eine Entscheidung ablesen, die rein formal begründet wurde. Das ist einfach nur schäbig und menschenverachtend - und der einzige geschichtliche Unterschied: man hat gelernt, Zeit verstreichen zu lassen, um die dann als ein "Argument" missbrauchen zu können.



    Ekelhaft ist da wahrlich ein noch viel zu milder Ausdruck für...

  • Schlimm. Schwer zu verdauen.

  • So ist das eben, die gesamte Exekutive und Judikative welche in diesen Fall verstrickt ist verhält sich genau so wie in einer kriminellen drittwelt Diktatur, soviel zu unserer vorbildhaften, fortschrittlichen Demokratie. Wenn man am Lack kratzt kommt eben doch sofort wieder die rassistische verkommene Fratze dieses Landes hervor.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    Absurdes Theater.

    Die Justiz stellt sich dumm (oder ist das wirklich echt?).

    Ich verbrenne in Polizei"gewahrsam" gefesselt auf feuerfester Matratze in Dessau. Ein Albtraum, das alles. Auch für die Demokratie.

  • Die Ohnmacht, die bei dieser Nachricht entsteht, führt mich zu folgender Vermutung: Im Mittelalter wäre dies ganz einfach geregelt worden, der Henker ist für das Überleben des Gefangenen verantwortlich, stirbt der Gefangene, wird auch der Henker getötet.

    Ich will dort nicht hin zu solch einer Regelung. Aber so wie es hier lief, ist es auch nicht gut.

    • @Brombeertee:

      Der Henker war für das Überleben des Gefangenen verantwortlich?? Ich dachte immer, seine Aufgabe wäre das genaue Gegenteil gewesen...

      • @Samvim:

        erst wenn er dazu den Auftrag hatte

  • Interessant das hier von Suizid gesprochen wird. Dieser Verdacht stand doch gar nie im Raum? Wäre eine grausame Art der Selbsttötung.



    OJ soll the Matratze entweder aus besoffener Selbstüberschätzung oder zur Erregung von Aufmerksamkeit angezündet haben. Nicht in Selbstötungsabsicht.

  • Da nahezu alle Straftaten nach dieser langen Zeit verjährt sind haben Schuldige kaum noch etwas zu befürchten. Egal wie es in Straßburg ausgeht.

    Einst hat ja mal ein Hambuger Innnensenator Maßnahmen bei Gefangenen angeordnet die zum Tode geführt haben. Diese Maßnahmen hat der EGMR als Folter eingestuft und verboten. Das hat natürlich am Tod der Geschädigten nichts geändert.

    Und dieser Innnensenator wurde nicht irgendwie geschasst oder zur Rechenschaft gezogen.



    Dieser Innensenator ist heute ... Bundeskanzler.

    • @Bolzkopf:

      Da ist einiges aber so nicht richtig:



      Mord - und der wird ja, zumindest der Polizei, vorgeworfen - verjährt nicht. Und der Bundesolaf war es nicht, der den Brechmitteleinsatz angeordnet hat: Zum einen weil er da schon nicht mehr Innensenator war sondern Schill, zum anderen, weil ein Senator sowas garnicht anordnen kann. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat darüber auch gar kein Urteil gefällt sondern über einen Fall sehr viel früher aus NRW (glücklicherweise ohne Tote).



      Es stimmt: Aufgrund der Stellung des BVerfG ist es wohl tatsächlich relativ egal was in Straßburg entschieden wird (vor allem, weil man dort auch nichts anderes entscheiden wird)

  • Ich habe vom BVerfG immer viel gehalten. Gerade bröckelt meine Meinung.

    • @Besorgte_Bürger:

      Guten Morgen! Ich lese seit Jahren regelmäßig die aktuellen Entscheidungen auf der BVerfG-Website und halte von diesem Gericht nicht viel.