Prozess um rechte Gewalt gegen Dilan S.: Angegriffen von Rechtsextremen

Drei Frauen und drei Männer sollen die 17-jährige Dilan S. angegriffen haben. Recherchen zeigen, dass sie Teil einer rechtsoffenen Kneipenszene sind.

Hielt nach dem rassistischen Angriff eine Rede bei einer Demo: die damals 17-jährige Dilan S Foto: Annette Riedl/dpa/picture alliance

BERLIN taz | Sechs Erwachsene gegen eine 17-Jährige Jugendliche, zahlreiche Wartende an einer Straßenbahnhaltestelle schauten zu: Der mutmaßlich rassistisch motivierte Angriff auf Dilan S. an der Berliner Tram-Haltestelle Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg zog bundesweite Berichterstattung nach sich. Am 16. Januar kommt es nun zum Prozess gegen die Angeklagten, die S. am 5. Februar 2022 in der Straßenbahn erst rassistisch beleidigt und dann nach dem Ausstieg gemeinschaftlich bedroht und verprügelt haben sollen.

Die Polizei hatte in einer ersten Meldung zunächst geschrieben, dass S. angegriffen worden sei, weil sie keine Maske getragen hätte. Erst nachdem Dilan S. sich via Instagram aus dem Krankenhaus meldete, korrigierten Polizei und zahlreiche Medien ihre Darstellungen. S. stellte in einem Video teils unter Tränen klar, dass sie zusammengeschlagen worden sei, weil sie eine Ausländerin sei, wie sie damals sagte. Sie sei von zwei Männern festgehalten worden, eine der Frauen und die Männer hätten sie geschlagen, bedroht und rassistisch beleidigt. Im Krankenhaus sei sie wegen einer Gehirnerschütterung, Prellungen und weiteren Verletzungen gewesen.

Das Video ging viral, danach erfuhr S. eine Welle der Solidarität und sprach selbst auf einer Kundgebung der daraufhin gegründeten antifaschistischen „Schaut nicht weg!“-Kampagne. Die Initiative mobilisiert zum Prozess am Montag. Auch Dilan S. hat Un­ter­stüt­ze­r*in­nen aufgefordert, teilzunehmen.

Einige der Angeklagten haben sich nach der großen Aufmerksamkeit selbst in den sozialen Medien geäußert. Dort stritten zumindest drei von ihnen alles ab, teilweise auf Facebook. Zwei waren auch zu Gast in einem Youtube-Format und behaupteten dort, dass sie weder Nazis seien noch S. geschlagen hätten. Eine ominöse weitere und unbeteiligte Passantin habe S. angegriffen.

Das Gericht hat die Anklage der Staatsanwaltschaft dennoch in allen Punkte zugelassen, wohl auch angesichts von Aufnahmen von Überwachungskameras sowie Zeugenaussagen.

Angeklagte kommen aus rechtsoffener Kneipenszene

Nach taz-Recherchen erscheinen auch die Behauptungen der Angeklagten, sich nicht in der rechten Szene zu bewegen, wenig glaubwürdig. Die Männer und Frauen zwischen 24 und 55 Jahren bewegen sich in einem Umfeld zwischen verschiedenen rechtsoffenen Kneipen an der Greifswalder Straße, die auch als Stammkneipen älterer Hooligans des BFC Dynamo gelten.

Wenige Tage vor Prozessbeginn sind zwei der Angeklagten in einer zunächst unscheinbaren Eckkneipe namens „Ariya Lounge“ unweit des damaligen Überfalls anzutreffen. Wortkarg sitzen drei ältere Männer am Tresen, beleuchtet wird der Laden von LED-Lichtschläuchen. Schlauchartig ist auch der Grundriss der Kneipe, am Eingang stehen Glücksspielautomaten, es läuft Radio.

Erst auf dem zweiten Blick spricht die Kneipe ein rechtes Publikum an: Wie in einigen Kneipen der Gegend sind Fanutensilien des Ostberliner Fußballvereins BFC Dynamo aufgehängt, ein vor allem für rechte Hooligans berüchtigter Regionalligist. Auf einem Sticker am Tresen steht „Dynamo Hooligans“, ein anderer beschimpft den fußballerischen Erzfeind Union Berlin als „Fotzen“.

Der nicht gerade deutsch anmutende Name Ariya Lounge bekommt aber vor allem angesichts von Belegschaft und Publikum einen ganz anderen Klang. Inhaberin der Kneipe ist laut Auskunft beim Gewerbeamt seit 2018 Jennifer G., die Hauptangeklagte im Verfahren ist und Dilan S. erst rassistisch beleidigt und dann auf sie eingeprügelt haben soll. Als sie im Weggehen noch von S. gefilmt wurde, brüllte sie „Sharmuta“ in Richtung S., was „Hure“ auf Arabisch heißt.

Angriff in der „Bierquelle“

Die 33-jährige G. ist polizeibekannt. Im November 2021 soll sie nur ein paar Meter von der Ariya Lounge entfernt auffällig geworden sein: In der „Bierquelle“, ebenfalls einer BFC-Stammkneipe, soll sie mit zwei Begleitern eine dort arbeitende Tresenkraft angegriffen haben, wie der Tagesspiegel schrieb. Zu Hilfe kommende Gäste sollen rassistisch beleidigt worden sein.

Überm Tresen hängt eine Plakette in Reichsfarben, auf der in Fraktur „Stammtisch“ steht

Neben G. soll sich an dem damaligen Angriff auch ein gewisser Kevin P. beteiligt haben – ein vielfach vorbestrafter rechter Gewalttäter. 2015 verurteilte ihn das Amtsgericht Tiergarten zu zehn Monaten Haft auf Bewährung, weil er den Hitlergruß gezeigt und linke Demonstranten verprügelt hatte. P. hatte mit weiteren Personen aus der Bierquelle heraus zwei Männer angegriffen, nachdem diese gegen ein Hooligan-Vernetzungstreffen vom Hogesa-Bündnis demonstriert hatten.

Die Bierquelle ist eine verrauchte Eckkneipe mit Billardtisch. An zwei Stammtischen sitzen ältere Dynamo-Fans, teils in Fankleidung. Auch dort kleben BFC-Hooligan-Sticker. Über dem Tresen hängt eine Plakette in Reichsfarben, auf der in Fraktur „Stammtisch“ neben einem Reichsadler steht.

An dem Abend, als die taz vor Ort ist, ist Jennifer G. in keiner der beiden Kneipen anzutreffen. Dafür sind aber zwei weitere Angeklagte in der Ariya Lounge: Der 52-jährige René H. sitzt mit Basecap auf der Glatze vor dem Tresen. Seine Partnerin, Jenny M., 24 Jahre, längere dunkle Haare, steht dahinter. Auch die beiden sind auf einem Video vom Vorfall zu sehen, das Dilan S. nach dem Angriff gefilmt hat.

Nach dem Angriff demonstrierten für Zivilcourage demonstrierten mehrere Hundert Ber­li­ne­r*in­nen Foto: Florian Boillot

Tatsächlich gibt es weitere Hinweise für eine rechtsex­treme Gesinnung und Gewaltbereitschaft der Angeklagten: Einschlägige Erfahrungen mit ihnen hat auch Vincent L. gemacht. Der 25-Jährige ist selbstständiger Web-Developer, aber besser bekannt als Politik-Influencer „Vincent Nr. 5“ mit über 500.000 Followern auf Tiktok. Weil er dort Neonazis beschimpft hat, wurde er auf der Plattform vorübergehend gesperrt. Auf seinem Kanal hatte L. sich auch zum Fall Dilan S. geäußert – nachdem er gesehen hatte, dass einige der mutmaßlichen Tä­te­r*in­nen in den sozialen Medien alles abstritten.

L. sagte damals, dass er sich sicher sei, dass die Angeklagten lügen. Das bekräftigte er nun erneut gegenüber der taz: „Ich habe auf dem Video von Dilan S. zwei der Angreifer wiedererkannt“, sagte er. Es habe sich um Jenny M. und René H. aus der Ariya Lounge gehandelt, an die er sich aufgrund einer Auseinandersetzung vor etwa fünf Jahren erinnere.

Damals sei L. mit zwei Freunden, einer davon migrantisch gelesen, spätnachts in der an die Ecke der Ariya Lounge angrenzenden Thomas-Mann-Straße unterwegs gewesen. Aus dem Nichts seien sie von der gegenüber liegenden Straßenseite bepöbelt worden, schildert L. Dort sei der nun angeklagte René H. gewesen und habe geschrien: „Scheiß K*****, raus aus meinem Land!“ Daraufhin habe L. dem Mann den Mittelfinger gezeigt und die Situation sei eskaliert.

L. schildert, dass H. aggressiv über die Straße auf sie zugekommen sei – seiner Einschätzung nach habe er unter Drogeneinfluss gestanden. H. habe ihn als „Hurensohn“ beschimpft und sinngemäß gefragt, warum er als Deutscher mit einem Ausländer unterwegs sei. Die genaue Wortwahl erinnert L. nicht mehr. Daraufhin sei es zu einer Prügelei gekommen, Anzeigen erstatteten sie damals allerdings nicht – wohl auch, weil die Auseinandersetzung für H. nicht sonderlich gut ausgegangen sein soll.

Heiko S., bekannt für Hitlergruß und Körperverletzung

Offiziell wollten weder Polizei, noch Staatsanwaltschaft oder Innenbehörde etwas zu einem möglichen rechtsex­tremen Hintergrund der Angeklagten sagen. Geführt wurden die Ermittlungen laut Innenbehörde aber von der für Rechtsextremismus zuständigen Abteilung des polizeilichen Staatsschutzes.

Darüber hinaus war aus Sicherheitskreisen zu erfahren, dass ein weiterer Angeklagter, der rund zwei Meter große Heiko S., bereits polizeibekannt ist. Der 44-jährige S. hat auf dem Video eine Glatze. Gegen ihn wurde bereits wegen politisch motivierter Straftaten ermittelt – wegen eines Hitlergrußes sowie Körperverletzung. Am Tattag soll er zusammen mit den anderen angeklagten Männern alkoholisiert in einer Kneipe festgenommen worden sein – gut möglich, dass es die Ariya Lounge war.

Auch die antifaschistische Initiative hinter der „Schaut-Nicht-Weg!“-Kampagne ordnet die Angriffe klar rechts ein und kann aufgrund ihrer jahrelangen antifaschistischen Recherchen erklären, warum rechte Strukturen hier derart etabliert sind: „Der Kiez rund um die Greifwalder Straße, das Hanns-Eisler-Viertel und der Erich-Weinert-Kiez, waren in den 90er Jahren eine Hochburg der Freiheitlichen Arbeiter Partei (FAP). Es wurde Propaganda verteilt und Angriffe verübt“, sagt Martin Stein von der Kampagne.

Anfang der Nullerjahre hätten sich dann Kameradschaftsstrukturen gebildet wie die Nationalen Aktivisten Prenzlauer Berg (NAPB) und es sei wiederum zu Übergriffen gekommen. „Was sich nach Auflösung von rechten Strukturen seither im Kiez gehalten hat, ist eine rechte Schläger- und Trinkerszene, die zum Großteil dem BFC Dynamo zuzuordnen ist“, so Stein.

„Last Resort für Nazis“

Es handele sich oftmals um Männer 50 aufwärts, die hier seit mehreren Jahrzehnten sozial verankert sind und die Gegend auch aufgrund ihrer kameradschaftlichen Beziehungen als ihren Kiez begreifen. Laut Stein entwickelten sich ab Mitte der Nullerjahre Kneipen wie die „Bierbar 160“ oder die „Eastside Sportsbar“ zu beliebten Anlaufpunkten der lokalen rechten Kneipenszene und waren regelmäßig Ausgangspunkt für rechte Bedrohungen. Vor etwa sechs Jahren hätten die rechtsoffenen Kneipen jedoch dichtgemacht.

„Kneipen wie die Ariya Lounge sind das Last Resort von Nazis über 50, die dort schon seit Jahrzehnten relativ unbehelligt Leute bedrohen“, so Stein. Nach dem Übergriff auf Dilan S. habe es mehrere Rückmeldungen aus der Nachbarschaft und den sozialen Medien gegeben, die darauf hinwiesen, dass sich dort regelmäßig Neonazis treffen. Es sei Aufgabe der Zivilgesellschaft, gegen die Ariya Lounge vorzugehen.

Die „Schaut-Nicht-Weg“-Kampagne begleitet Dilan S. auch nächsten Montag vor das Amtsgericht. Im Aufruf heißt es: „Supportet Dilan während des Prozesses! Geht mit in den Gerichtssaal und überlasst den Fa­schis­t:in­nen dort keine Plätze!“

Lisa Jani, Sprecherin des Amtsgerichts Tiergarten, sagte der taz, dass den sechs Angeklagten gefährliche Körperverletzung, Beleidigung und Beihilfe zu gefährlicher Körperverletzung angelastet werden. Neben der Hauptangeklagten G. ist wegen Körperverletzung noch eine 55-jährige Cornelia R. angeklagt. Jennifer M., René H. und Heiko S. werden Beihilfe und teils rassistische Beleidigungen vorgeworfen. Eine mutmaßliche rassistische Motivation spielt laut Jani eine erschwerende Rolle bei der Strafzumessung.

In dem Verfahren, für das bislang nur ein Tag angesetzt ist, sollen auch 10 Zeugen gehört werden. Eine davon ist Dilan S. selbst.

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