Deutsche Reaktion auf Russlands Krieg: Was wurde aus der Zeitenwende?
Vor sechs Monaten verkündete Olaf Scholz die „Zeitenwende“ und 100 Milliarden für die Bundeswehr. Was wurde daraus?
1 „Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen.“
Hat Deutschland dieses Versprechen gehalten und genug getan, um dem Opfer der russischen Aggression zu helfen? Der Tenor in vielen Medien war: Der Kanzler hat versagt. Deutschland hätte zackig Panzer und Haubitzen sofort an die Front liefern müssen, um die Ukraine zu retten. Stattdessen habe Scholz gezögert, getäuscht und geschwiegen. Doch die Debatte um die Lieferung schwerer Waffen war schief. Die Idee, dass es auf ein paar Marder-Panzer ankomme, suggestiv. Die USA haben bis August 2022 für 25 Milliarden Euro Waffen und militärische Ausrüstung geliefert – ein Vielfaches von dem, was alle anderen Länder zusammen nach Kiew exportierten. Faktisch rüsten die USA die Ukraine aus, die Bedeutung des deutschen Beitrags wurde verzerrt und überschätzt. Scholz hat das Tabu, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, gebrochen und gerade jüngst Lieferungen für 500 Million Euro angekündigt. Er hätte von Beginn an klarmachen sollen, welche Waffen Deutschland liefern wird und welche nicht. So wirkte er wie ein Getriebener.
Insgesamt hat sich die Ampel an der erprobten bundesdeutschen Rolle in Kriegen und Krisen orientiert: Man macht bei Militär und Waffen „im Geleitzug“ (Scholz) der Nato mit, drängelt sich aber nicht nach vorne. Dafür setzt die Bundesrepublik ein, wovon sie mehr hat als funktionstüchtige Waffen: Soft Power, Diplomatie und Geld. In Afrika, Asien oder Lateinamerika halten viele den Ukrainekrieg keineswegs für eine Zeitenwende – und sind offen für Russlands Position und für billiges Öl von dort. Die Ampel hat mit konkreten und symbolischen Hilfsangeboten in Indien und Senegal, Indonesien und Südafrika für die Unterstützung der Ukraine geworben. Ein wenig gewürdigter Verdienst.
2 „Wir müssen Putin von seinem Kriegskurs abbringen.“
Dafür sollen die schärfsten Sanktionen aller Zeiten sorgen. Doch der Westen und Russland haben sich in diesem Wirtschaftskrieg bislang gegenseitig unterschätzt: Russland hat nicht mit der Einigkeit des Westens gerechnet, der Westen nicht mit der Resilienz der russischen Wirtschaft. „Die russische Wirtschaft geht derzeit nicht in die Knie und das ist auch nicht zu erwarten“, so der Handelsexperte Rolf Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Dafür seien die Wirtschaft zu stabil und das Finanzpolster zu dick. Putin sitzt so sicher im Chefsessel wie ein Kosak auf dem Pferd.
Der Westen hat Russland vierfache Daumenschrauben angelegt: Russische Banken und Unternehmen sollten von der Finanzierung abgeschnitten und aus dem internationalen Zahlungsverkehrsnetz Swift geschmissen, die Vermögen russischer Oligarchen eingefroren, Hightechgüter nicht mehr nach Russland geliefert werden. Zudem will der Westen als Großkunde keine Energie mehr aus Russland kaufen. Funktioniert das? Den Rauswurf aus Swift können russische Banken und Unternehmen zum Teil umgehen, indem sie Geld auf Treuhandkonten überweisen und es über chinesische und türkische Konten transferieren. Zudem ist die russische Gazprom-Bank weiterhin ans System angeschlossen.
Das Vermögen der russischen Oligarchen einzufrieren, erweist sich als kompliziert, weil die ihre Besitztümer trotz gesetzlicher Pflicht nicht offenlegen, sondern durch undurchsichtige rechtliche und finanziellen Strukturen verschleiern. Von den Hunderten russischen Milliarden, die im Ausland parken, sind laut Finanzministerium in Deutschland bisher gerade mal 4,3 Milliarden eingefroren worden.
Empfindlich trifft Russland hingegen der Lieferstopp des Westens von Hightechgütern und Ersatzteilen. Die Produktion von Pkw ist in Russland um fast 90 Prozent eingebrochen. Die russische Fluggesellschaft Aeroflot muss neue Flugzeuge als Ersatzteillager für die Flotte ausschlachten. Hier springt China nicht als Ersatz ein, denn für seine Techkonzerne ist der russische Markt unwichtiger als der US-amerikanische. Mit den USA möchte man es sich nicht verscherzen. Die wiederum haben bislang darauf verzichtet, Staaten zu sanktionieren, die Produkte mit US-Komponenten an Russland verkaufen. Solche Sekundärsanktionen sind aber als Verschärfung denkbar, genauso wie Handelsblockaden.
Und Gas, Öl, Kohle? „Die für Russland schmerzhaftesten Sanktionen, nämlich die auf Energie, tun uns ebenfalls am meisten weh, zumal sie unterlaufen werden“, so Langhammer. Russland profitiert von hohen Weltmarktpreisen für Gas, Öl und Kohle. China, Indien und die Türkei steigerten ihre Importe. Dabei muss Russland auch Abstriche machen. China nutzt die russische Zwangslage aus und drückt den Preis zu seinen Gunsten.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der Effekt der Sanktionen? Die russische Wirtschaft ist laut IWF um 6 Prozent geschrumpft, weniger als erwartet. Die Inflation liegt bei unter 15 Prozent. Sanktionen wirken aber, wie die Beispiele Südafrika und Iran zeigen, nur langfristig. Und nur wenn die Sanktionsfront nicht aufweicht. Deutschland fällt dabei die Rolle als europäischer Moderator zu. Scholz und die Ampel müssen den europäischen Laden zusammenhalten, Konzessionen an wankelmütige Staaten wie Ungarn machen, und die Zustimmung im eigenen Land für die Sanktionen bewahren. Ein Drahtseilakt.
3 „Wir müssen verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa übergreift.“
Putin verfolgt einen neoimperialen Plan, der über die Ukraine hinausreicht. Ein russischer Angriff auf Nato-Staaten wie Litauen ist unwahrscheinlich, ausschließen lässt sich nach dem 24. Februar aber nichts mehr. Hat Scholz genug getan, um eine Ausweitung zu verhindern? Die Nato setzt auf Abschreckung. Schweden und Finnland werden Nato-Mitglieder. Die schnelle Nato-Eingreiftruppe wird von derzeit 40.000 SoldatInnen auf 300.000 aufgestockt. Das hat große Auswirkungen auf Deutschland. Die deutsch geführte Nato-Battlegroup in Litauen umfasst derzeit 1.600 SoldatInnen – davon zwei Drittel Bundeswehrangehörige. Künftig sollen für Abschreckung im Baltikum mehr als zehnmal so viele deutsche SoldatInnen sorgen – 15.000, als Teil der schnellen Eingreiftruppe. Ab 2026 sollen Bundeswehrtruppen in zehn Tagen kampfbereit sein, wenn Nato-Territorium bedroht wird. De facto wird Deutschland militärische Schutzmacht für das Baltikum gegen mögliche russische Angriffe. Das ist eine neue Rolle für Berlin: nicht mehr „im Geleitzug“, sondern weit vorne.
4 „Wir müssen deutlich mehr in unsere Sicherheit investieren.“
100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – diese Botschaft riss die Unionsfraktion von den Sitzen und wirkte international. Die Ankündigung war politisch das richtige Signal – Deutschland handelt. Die Taube wird zum Falken. Fachlich ist sie unbegründet. Die ordentliche Ausrüstung der Bundeswehr scheiterte bislang weniger am Geld – der Wehretat liegt bei 50,3 Milliarden Euro – als am undurchsichtigen, bürokratischen Beschaffungswesen. Geld in diese dunklen Kanäle zu pumpen, halten Wehrexperten für schwierig und mahnen eine Reform des Beschaffungswesens als Voraussetzung für Zuwendungen an. Unklar ist auch die zukünftige Rolle der Bundeswehr. Von der Landesverteidigungsarmee wurde auf schnelle Eingreiftruppe gepolt, die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, die Truppe verkleinert. Der Angriff auf die Ukraine zeigt, dass Landesverteidigung doch nicht so out ist. Neben systemischen Reformen steht auch eine strategische Neuaufstellung an. Erst die Zukunft wird zeigen, ob die 100 Milliarden sinnvoll investiert wurden oder teure Symbolpolitik waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein