Weniger Protest gegen G7-Treffen: Gebremste Gipfelstürmerei

Der G7-Gipfel müsste gar nicht im abgeschiedenen Elmau stattfinden. Denn die globalisierungskritische Protestbewegung ist erlahmt. Was sind die Gründe?

Schloss Elmau in idyllischer Alpenkulisse

Viele Protestierende werden sich wohl nicht hierher verirren: Schloss Elmau Foto: Sven Hoppe/dpa

Auch dieses Mal waren es 50.000 Gullydeckel, die von der Polizei an der Straße zum Schloss ­Elmau festgeklebt wurden. Anschläge und Straßenbarrikaden sollte das bei früheren Gipfeln erschweren. Heute geht es nur noch um Anschläge, denn ernsthafte Blockaden erwartet keiner mehr.

Bei der Konferenz der Welthandelsorganisation WTO 1999 in Seattle war das noch anders. Kein Gullydeckel war da sicher vor der „Bewegung der Bewegungen“, die plötzlich auf die Straße drängte. Sie verkündete, dass eine „andere Welt möglich“ sei als die sich langsam aufblätternde Globalisierung. ­Seattle, Genua, Prag, Evian oder Heiligendamm – Hunderttausende machten sich auf, die Treffen der Mächtigen lahmzulegen. Ins Bewegungsgedächtnis sind die Proteste als epische Tage eingegangen.

„Multitude“ oder „Subalterne“, das waren Begriffe aus der Theorie, mit denen manche die neue, globale Massenbewegung zu fassen versuchten. Spürt man ihren Ideen nach, landet man im mexikanischen Urwald 1994, als die indigene Zapatista-Guerilla ihre frohe Botschaft der Machtergreifung von unten verkündete. Schwarz maskiert und radikal in der Sache, aber sanft im Wesen und modern im Geist, bot sie Impulse für eine neue Phase sozialer Kämpfe, die im Norden und Süden der Welt gleich gepolt waren. Dem Gegner gaben sie einen Namen: Neoliberalismus. Den Begriff hatten Ökonomen schon vorher entwickelt. Jetzt rückte er ins Zentrum.

Das Schlagwort verband Erklärungs- mit Strahlkraft und Identitätsstiftung, seine „verkürzte Kapitalismuskritik“ störte zunächst nur wenige. Akteure wie Attac, Peoples Global Action, Ya Basta oder La Via Campesina wurden geboren und machten gemeinsame Sache mit Gewerkschaften, Kirchen, Umweltverbänden, Autonomen. Sie wollten, dass Öl und Gas in der Erde bleiben, Tierarten nicht ausgerottet werden, Konzerne wie Nike ihre indonesischen Näherinnen nicht länger schinden, Fonds und ihre Eigner nicht immer mehr Reichtum anhäufen und Staaten ihre Sozialleistungen nicht immer weiter abwickeln.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Ein im Glauben an seine Überlegenheit entgrenzter Markt sollte wieder eingehegt werden, zum Wohl von Mensch und Natur. Aktueller könnte eine Agenda kaum sein. Massen, die mit ihr zu den Gipfeln ziehen, gibt es aber keine mehr. „Die Kette ist abgerissen. Es gibt keine kollektive Identität als globalisierungskritische Bewegung mehr“, sagt der Protestforscher Simon Theune.

Das hat auch mit den Gipfeln selbst zu tun. Einst waren sie Inszenierungen der Gastgeber, die so taten, als würde eine Handvoll Mächtiger die Probleme der Welt lösen. Das gelang nie. Gleichwohl atmeten die Gipfel die Anmaßung einer Weltregierung aus. Warum aber sollten sie solchen Einfluss auf die Geschicke der Menschheit nehmen dürfen? Im Globalen Süden hatte die G8 schließlich keiner gewählt. Der Pomp der Treffen befeuerte den Unmut noch, wenn etwa Berlusconi 2001 monarchengleich den Bewohnern Genuas verbot, während der Gipfeltage ihre Unterhosen zum Trocknen herauszuhängen.

Die erste, heiße Phase der Gipfelstürmerei endete da schon wieder. 300.000 De­mons­tran­t*in­nen kamen nach Genua, doch am Ende war Carlo Giuliani erschossen, die Polizei hatte in der Diaz-Schule gewütet und in der Bolzenato-Kaserne gefoltert. Beiden Seiten wurde klar: So geht es nicht weiter.

Die Regierenden verzichteten vorerst auf die Zurschaustellung der Treffen, schrumpften die Angriffsfläche, indem sie sich ins Entlegene zurückzogen: die schottischen Highlands, die Rocky Mountains oder eben Schloss Elmau. Eine G8-Ausrichtung in einer Metropole traute sich nach Genua nur noch Russland, 2006. Zur Sitzblockade nach Sankt Petersburg zu reisen, um am Ende im Gulag zu landen, wagte schließlich keiner.

Auch im Politischen verschob sich das Gefüge: In der Finanzkrise ab 2008, in der Pandemie oder nun in der Klimakrise zerrann die einst so eiserne Marktgläubigkeit. Das Kapital griff Teile der Kritik auf. IWF und Weltbank holten die Zivilgesellschaft an den Tisch. Beim Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos durfte der niederländische Anti­armuts­aktivist Rutger Bregman vom Podium den mit 1.500 Privatjets eingeflogenen Managern verraten, was die globalen Probleme löst: „Steuern, Steuern, Steuern – alles andere hier ist Bullshit.“ 2021 beschloss die OECD eine globale Mindeststeuer für transnationale Konzerne, laut Attac „Stückwerk im Interesse der reichen Staaten“. Doch vieles von dem, was die Proteste von Seattle oder Genua aufbrachten, ist heute allgemein akzeptiert. Regulierung gilt nicht mehr als Teufelszeug.

Auch die Klimabewegung ließ die Gipfel links liegen und blockiert seither lieber Kohlegruben

Für Teile der sozialen Bewegungen – von dem penetrant mitzutagen trachtenden Sänger Bono bis zu großen NGOs und Gewerkschaften – waren die Gipfel Adressat politischer Appelle. Andere hielten davon nichts. Sie wollten symbolträchtige Blockaden, etwa das Dissent!-Netzwerk oder die Interventionistische Linke. Dann änderte sich das Kalkül: Die Gipfelblockaden verschlangen enorme Ressourcen. Drei Jahre etwa strickte das Protestbündnis von Heiligendamm an seiner unvergessenen 5-Finger-Offensive. Gleichzeitig enttäuschten die Ergebnisse der Gipfel reihenweise jene, die mit konstruktiven Appellen bestimmte Beschlüsse herbeizudemonstrieren erhofften.

„Viele verloren das Vertrauen in die Möglichkeit, das große Ganze ändern zu können“, sagt der Theoretiker John Holloway. Das Lokale wurde dafür umso wichtiger. Ressourcen flossen in dezentrale Alltagskämpfe, etwa gegen Zwangsräumungen. Eins der neuen Zauberwörter dabei ist der „Munizipalismus“. Entstanden in Spanien, beschreibt er den Schulterschluss progressiver Stadtregierungen mit lokalen sozialen Bewegungen. Im Migrationsbereich etwa wurde so der Gedanke der „Solidarity Cities“ oder des „Urban Citizenship“ groß. Auch die Klimabewegung ging in die Fläche. Ihre letzte wirkliche Gipfelmobilisierung war Kopenhagen 2009. Die Proteste waren groß, die Repression heftig, die Ergebnisse der Tagung ein einziger Flop. Und so ließ auch die Klimabewegung die Gipfel weitgehend links liegen und blockiert seither lieber Kohlegruben.

Mit dem Erfolg der Populisten in Europa nach 2015 kam hinzu, dass diese die Kritik am Globalen immer stärker nationalistisch kontaminierten. „Globalisten“ – eine imaginierte vaterlandslose Elite als Gegner von Volk und Nation – verkörpern heute die am eifrigsten bemühte Hassfigur von Gestalten wie Le Pen oder Orbán. Das macht die Räume für linke Globalisierungskritik eng. Der Fokus auf das unbelastete Lokale liegt so noch mal näher.

Die Riots von Seattle, Genua oder Rostock/Heiligendamm 2007 werden gern unter der Formel verbucht, dass in ihnen „aufschien, dass eine andere Welt möglich ist“. Das Ehrliche an dieser Deutung ist, dass sie das wohl größte Versäumnis implizit benennt: das fehlende Wie. Ideen dazu gab es, keine Frage: direkte Demokratie, wie sie die „Assembleas“ wollten; große Dauerversammlungen 2011 während der Finanzkrise auf dem Syntagma-Platz in Athen; als 15-M in Spanien; als Occupy Wall Street in New York. „Die standen alle im Zusammenhang mit den Themen der Gipfelproteste“, sagt der Publizist Dario Azzellini.

Lang ist auch die Liste ökonomischer Reformvorschläge: Vermögensteuer, Finanzmarktregulierung, Degrowth, Dekarbonisierung, Grundeinkommen, Rückkehr des Staates in verwaiste Bereiche wie Wohnen, Bildung, Gesundheit, Mobilität. Doch was fehlt, ist eine übergeordnete Idee, eine Erzählung, wie es heute so gern heißt, aus einem Guss, und: ein Name. Was soll das Andere, das Bessere in seiner Gesamtheit sein, wie kann es heißen? Für welche Idee gehen Menschen, jenseits von Abwehrkämpfen und Partikularem, in Massen auf die Straße?

In Lateinamerika haben mehrere linke Regierungen des vergangenen Jahrzehnts ihre Anhänger enttäuscht, auch wenn letzthin Chile und Kolumbien wieder links wählten. In Europa hängt den Sozialdemokratien ihre neoliberale Wende bis heute nach. Neue linke Parteien wie Podemos in Spanien profitierten davon nur bedingt. Das Vakuum zeigt sich auch beim Ukrai­ne­krieg. Was genau soll eine breit anschlussfähige linke Antikriegsposition hier sein? Anders als beim Afghanistan- oder Irakkrieg ist die Lage so kompliziert, dass bisher eine solche nicht in Sicht ist.

Doch auch jenseits davon fehlt eine Idee mit Strahlkraft. Die Zeit für sie wäre nicht schlecht. Das Versprechen des Neoliberalismus – individueller Wohlstand durch eigene Leistung ohne einen angeblich störenden Staat – ist heute zunehmend diskreditiert durch Inflation, Finanzkrisen, Klimakrise. Viele sehen die Zukunft eher düster, trauen dem Wirtschaftssystem sozialen Ausgleich und die ökologische Wende nicht mehr zu. Doch ein alternatives Projekt ist nicht in Sicht. „Das Alte stirbt, das Neue kann nicht geboren werden“, schrieb Antonio Gramsci. Das passt auf diese Zeit.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.