Katina Schubert zur Krise der Linken: „In Berlin muss man radikaler sein“
Ist die Linke noch zu retten? Berlins Parteichefin Schubert über Kakophonie, Sexismus, die Herrschaft der Überväter und das Vorbild Berlin.
taz: Frau Schubert, kurz gefasst in einem Satz: Wofür braucht es die Linke deutschlandweit noch?
Katina Schubert: (überlegt) Die Linke ist die soziale Kraft, die die Interessen auch derjenigen in den Blick nimmt, die wenig verdienen, die gar nichts verdienen, die ausgegrenzt sind, die marginalisiert sind und die ganz normale Beschäftigte sind, die plötzlich feststellen: Bei 7,4 Prozent Inflation bleibt am Ende des Geldes noch sehr viel Monat übrig.
So ergeht es vielen Menschen. Dennoch kann die Linke nicht profitieren, sondern stürzt bei Wahlen ab, zuletzt vor einer Woche in Nordrhein-Westfalen mit 2 Prozent.
Wir haben sehr viele Wähler:innen ans Lager der Nichtwähler:innen verloren, weil es uns in ihren Augen an überzeugenden Lösungsansätzen fehlt. Warum soll man uns wählen, wenn es einem schlecht geht oder man Angst vor der Zukunft hat? Doch nur, wenn man den Eindruck hat, die Partei hat eine Idee, wie es funktionieren kann und wie sie es umsetzen kann.
Die Linke definiert sich schon immer über das Soziale. Und jetzt sagen Sie, die Leute wissen nicht, warum sie sie wählen sollen. Das ist doch eine erschreckende Analyse!
Ja, das ist es. Ich bin ja froh, dass es in Berlin anders ist. Aber in einigen Bundesländern und bundesweit werden wir im Moment zu wenig als die soziale Kraft wahrgenommen. Das ist ein Drama.
Die Kritik an der Linken geht aber weit darüber hinaus: Es gibt sehr viele Stimmen, die sagen, dass die Partei eigentlich tot und das Projekt Die Linke gescheitert ist.
Wäre das so, würden wir hier nicht sitzen.
Naja…
In der Partei gibt es sehr viel Substanz – in den Fraktionen, die wir haben, in den Kommunen vor Ort. Wir machen dort kluge Politik. Aber diese Arbeit wird zu wenig wahrgenommen, stattdessen Vielstimmigkeit und Streit.
Eine Kakophonie?
Auf jeden Fall. Man muss sich ja nur anschauen, wie viele unterschiedliche Verlautbarungen es zum Krieg in der Ukraine gibt! Das muss aufhören. Jetzt geht es darum, das Ganze wieder zusammenzuführen und gemeinsam konsistente Politik zu machen. Vor dieser großen Herausforderung steht der nächste Parteivorstand. Denn wer Kakophonie verbreitet ist für Wählerinnen und Wähler kein interessantes Angebot.
Immerhin dürfte Sahra Wagenknecht nach der krachenden Niederlage in NRW politisch erledigt sein.
Katina Schubert60, ist seit 2016 Landeschefin der Berliner Linkspartei und seit Februar 2021 eine der stellvertretenden Bundesvorsitzenden.
Sie hat selbst gar nicht kandidiert. Sie hatte bei der Bundestagswahl kandidiert und ein schlechtes Ergebnis für NRW eingefahren – was viele Medien leider nicht hindert, die Linke nur über sie wahrzunehmen, obwohl sie schon lange nicht mehr für die Partei spricht.
Was hat noch dazu geführt, dass sich die Linke seit Jahren in einem Abwärtstrend befindet?
Ein großes Problem ist die Struktur. In der Partei sind viele politische Traditionen der Linken zusammengekommen; das Programm – das letzte ist von 2011 – ist sozusagen der Ausfluss eines großen Kompromisses. Doch jetzt müssen wir es auf wichtigen Feldern renovieren, weil die gesellschaftliche Wirklichkeit eine andere ist als vor elf Jahren. Wir haben aber Mitglieder, die betrachten die Partei nicht als einen dynamischen Organismus, der versucht, die Verhältnisse zu verändern, sondern als eine Art Glaubenskongregation mit einer Bibel, die unveränderbar ist. Da müssen wir gemeinsam weitere Schritte gehen.
Zum Beispiel?
Im Programm steht der mühsam ausgehandelte Kompromiss, dass wir die Nato überwinden wollen hin zu einer neuen europäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands. Der Satz ist ja von zeitloser Schönheit. In der aktuellen Auseinandersetzung ist er aber nicht überzeugend, weil außerhalb der Partei nur wenige verstehen, dass man mit dem Aggressor, der ein Land überfällt, eine Friedensordnung anstrebt. Die Leute wollen wissen, was unsere konkrete Idee ist, wie dieser furchtbare Krieg beendet werden kann und wir tatsächlich zu einer europäischen Friedensordnung kommen. Darauf haben wir noch keine überzeugende Antwort, die müssen wir aber schnell erarbeiten.
Das überrascht nicht: So ein Programm braucht ja eine Weile, bis es geschrieben ist.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen von Krieg, Corona oder der Klimakrise finden in unserem Parteiprogramm noch gar nicht statt. Trotzdem gibt es Kräfte in der Partei, die sich beharrlich dagegen wehren, dieses Programm überhaupt nur zu modernisieren, weil sie befürchten, dass wir dann plötzlich für Kampfeinsätze sind oder zu Nato-Knechten werden oder was auch immer. Dabei heißt programmatische Modernisierung ja nicht, dass man sich nach rechts entwickelt, ganz im Gegenteil. Aber man muss doch die aktuellen Prozesse zur Kenntnis nehmen!
Wie schnell muss die Erneuerung der Partei geschehen?
Es wäre vermessen anzunehmen, dass wir schon mit dem Bundesparteitag die große Wende hinkriegen. Aber wir müssen sie einleiten. Im nächsten Jahr sind zum Beispiel die Wahlen in Hessen und Bremen: Unsere Positionen dort zu verteidigen, wird eine ganz große Herausforderung. Die Europawahl 2024 wird dann der erste bundesweite Test, ob es uns gelungen ist, uns zu erneuern. Dort müssen wir mit einer Idee antreten, die Europa ins Zentrum setzt.
Sie haben ein Positionspapier verfasst, zusammen mit sechs anderen Landesvorsitzenden. Es ist überschrieben mit dem Satz „Lasst uns einfach gute Politik machen“. Das klingt ziemlich hilflos.
Ich verstehe es eher als Rückbesinnung auf das, wofür wir eigentlich da sind. Mir geht es um radikale Realpolitik, darum zu schauen, wo sind real existierende Probleme, welchen Instrumentenkasten haben wir, um sie anzupacken, zu lösen und so die Gesellschaft zum Besseren, zum Gerechteren zu transformieren. Das begreife ich unter guter Politik. Und dabei auch zu schauen: Wer sind unsere Bündnispartner:innen? Auf der parlamentarischen Ebene, aber auch im außerparlamentarischen Raum.
Das ist das Berliner Modell. Man sucht sich eine außerparlamentarische progressive Initiative, etwa Deutsche Wohnen enteignen, hängt sich dran und positioniert sich damit links von SPD und Grünen. K ann man in einer Stadt wie Berlin einfach radikaler sein?
In Berlin muss man radikaler sein, weil das politische Angebot und die Möglichkeiten sehr groß sind. Zudem ist Berlin eine wachsende Stadt, in der die Infrastruktur lange nicht mitgewachsen ist. Insofern braucht man da auch eine gewisse Radikalität, um Entwicklungen voranzutreiben. Wir setzen in Berlin darauf, reale Änderungen und Verbesserungen zu erzielen.
Glauben Sie, dass die Linke in Bayern oder Nordrhein-Westfalen mit einer Enteignungs-Kampagne nachhaltigen Erfolg hätte?
Es würde auf kommunaler Ebene auch funktionieren. Keine abstrakte Enteignungskampagne, aber eine konkrete Auseinandersetzung vor Ort, etwa in einer Stadt, in der es große Wohnungsnot und einen klaren Adressaten gibt. Aber eine Partei kann das nicht alleine machen. Es braucht dann schon auch die gesellschaftliche Kraft von unten, die es auch will. Nur darüber lassen sich irgendwann parlamentarische Mehrheiten generieren.
Ohne Bürgerbewegung können sie als Partei gar kein Thema mehr durchzusetzen?
Die großen Veränderungen, die sich in der Bundesrepublik vollzogen haben, sind immer auf gesellschaftlichen Druck entstanden, der von unten gewachsen ist, ob es um Atomkraft oder Arbeitszeitverkürzung geht. Eine lebendige Demokratie lebt auch von einer Zivilgesellschaft, die ihre Interessen in die eigene Hand nimmt und nicht nur wartet, bis von oben alles gemacht wird. Als Partei können wir überall Debatten lostreten. Aber die Frage ist: Wird aus einer Debatte eine gesellschaftliche Macht? Setzt sie die Adressaten so unter Druck, dass sie damit umgehen müssen? Das schafft im Moment keine einzige Partei alleine. Das geht nur mit aufgeweckter Zivilgesellschaft, mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.
Das heißt, Sie brauchen eine Zivilgesellschaft, die die Partei als solche aufweckt, damit die Partei wieder groß wird.
Nee, nee, die Partei begreift sich ja als Teil derselben. Viele unserer Mitglieder engagieren sich auch in Initiativen, Gewerkschaften oder Vereinen. Und umgekehrt sind ja auch viele Aktivist:innen in den Parteien, weil sie genau wissen, dass das die Transformationsriemen in den parlamentarischen Raum sind.
Bei den Grünen läuft es doch genauso – und da funktioniert es.
Im Prinzip ist es bei ihnen ein ähnliches Modell.
Aber wieso stehen die Grünen jetzt bei 18 Prozent in NRW und Sie bei 2?
Den Grünen kommt jetzt zupass, dass sie vor allem über das Umwelt- und Klimathema wahrgenommen werden und das die Probleme sind, die am drängendsten für viele Menschen sind. Dazu kommt, dass die Grünen als einzige Partei von dieser Bundesregierung profitieren, auch weil sie das überzeugendste Personal haben. Das haben wir derzeit in der Form nicht.
Hat die Linke das Klimathema verpasst?
Wir haben kluge Vorschläge für die sozial-ökologische Transformation und dafür, wie soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit miteinander gedacht und versöhnt werden können. Das Problem ist auch hier die Vielstimmigkeit aus der Partei. Da gibt es welche, die sagen: „Ihr wollt ja nur grüner als die Grünen sein – und das ist alles Quatsch. Jetzt gucken wir mal lieber nach den Industriearbeitern.“ Diese politische Inkonsistenz ist ein großes Problem.
Mit welchem Thema könnte sich die Linke gegenüber den Grünen und der SPD profilieren?
Mit der Rekommunalisierung etwa. Ein Ziel wäre, zum Beispiel die gesamte Energiewirtschaft in Gemeineigentum zurück zu holen – das ist eine Riesenaufgabe, schließlich sind ja viele Stadtwerke privatisiert worden. Das Öffentliche zu stärken, also zentrale Pfeiler der öffentlichen Daseinsvorsorge den privaten Gewinninteressen zu entziehen, ist ein Thema, das politisch viel zu wenig thematisiert wird. Das ist aber nötig in solchen Krisenzeiten, um eine höhere Resilienz zu erzielen. Wir müssen Abschied nehmen von der neoliberalen Doktrin, damit auch die Kommunen auf dem Feld wieder handlungsfähig werden. Das ist keine linke Spinnerei, sondern eine Reaktion auf objektiv vorhandene Probleme, weil dieser real existierende Kapitalismus an seinen eigenen Wurzeln sägt.
Die Linke hat noch mehr Probleme, zum Beispiel die Debatte um Sexismus und sexuelle Übergriffe. Hat Sie das überrascht?
Nein, die Heftigkeit hat mich überrascht und ich verurteile diese Vorfälle. Dass Linke keine besseren Menschen sind, ist mir natürlich bekannt. Strukturen toxischer Männlichkeit aufzubrechen bedeutet sehr viel Arbeit. Was nun offengelegt wurde, lässt ja die Vermutung zu, dass da im Verborgenen noch mehr schlummert. Die Landesverbände ergreifen jetzt Maßnahmen und schaffen entsprechende Strukturen für Betroffene. Wir hatten letztes Jahr eine entsprechende Beschlussfassung über die Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle. Jetzt schaffen wir noch eine externe Anlaufstelle für Betroffene von explizit sexistischen Übergriffen oder Beleidigungen. Und natürlich müssen wir die Debatte über Sexismus in den eigenen Reihen ehrlich führen.
Können Sie jungen Frauen guten Gewissens empfehlen, sich in linken Strukturen zu organisieren?
Ich möchte eine Partei, in der sich alle engagieren können, die für alle ein angstfreier Raum ist und in der Sexismus keinen Platz hat. Dafür müssen wir auch die männerdominierten Seilschaften aufbrechen. Dieses System Partei und Parteipolitik ist leider immer noch ein sehr männliches.
Generell?
Viele Abläufe sind familienfeindlich, etwa was die Uhrzeit von Sitzungen betrifft. Und auch wenn das in der Linken nicht mehr ganz so auffällig ist, ist es tendenziell doch auch hier so, dass eher die Frauen versuchen müssen, die Vereinbarkeit mit der Familie herzustellen. Wobei: Wir haben jetzt gerade in der Fraktion viele junge Väter, die dann auch schon mal sagen: „Das passt nicht mehr um diese Uhrzeit.“
Es gab ja viele starke Männerfiguren in der Linken. Gregor Gysi etwa hat es für Berlin und im Bund immer wieder gerichtet. Hat die Partei es nicht geschafft, diese Überväter zu ersetzen?
Solche Figuren sind einerseits gut für eine Partei, weil sie milieuübergreifend eine Identifikation schaffen können für Wähler:innen. Sie sind zugleich ein Problem, weil man den Diskurs dann immer so organisieren muss, dass man sie nicht in Frage stellt. Das ist für Linke ganz schwierig. Ich glaube, eine Partei ist gut beraten, wenn sie keinen Übervater braucht und versucht, möglichst viele kluge Leute in Positionen zu bringen, die in der Lage sind, linke Politik gut zu erklären und umzusetzen. In Berlin sind wir da unter anderem mit Katja Kipping, Klaus Lederer und Lena Kreck gut aufgestellt.
Glauben Sie, die Linke kann ohne eine neue, besonders prominente Figur aus dieser Krise herausfinden?
Es ist genauso wichtig, dass das Programm stimmt, dass die Performance stimmt, dass das, was vorgetragen wird, auch überzeugend und mitreißend ist. Die neue Parteiführung muss ein funktionierendes Team bilden, es muss miteinander harmonieren. Da geht es nicht um Strömungen oder um geografische Zugehörigkeiten. Und ob das dann berühmte Leute sind oder nicht, das ist erst mal eine zweitrangige Frage.
Müssen Sie das auch sagen, weil gerade niemand in Sicht ist, der zur neuen Gallionsfigur taugen würde?
Wichtig ist nach meiner Erfahrung wirklich, dass die Spitze gut zusammenarbeitet, untereinander, mit den Ländern, den Fraktionen und der kommunalen Ebene.
Der Berliner Landesverband ist relativ glimpflich aus der Abgeordnetenhauswahl im September 2021 rausgekommen. Was unterscheidet ihn von anderen Landesverbänden, die jetzt so verprügelt werden bei den Wahlen?
Wir sind in der Metropole in einer besseren Position als in einem großen Flächenland; dort ist politische Beteiligung viel aufwändiger. Dazu kommt: Wir haben den heterogensten Landesverband, den man haben kann. Wir haben immer noch wirklich starke Hochburgen im Ostteil der Stadt, neue im Westen und eben eher auch Gebiete, wo wir gerade mal 5 Prozent holen. Trotz dieser Spreizung haben wir ein Politikmanagement, das allen ihren Raum lässt. Deshalb steht am Ende ein in der Regel geschlossenes Auftreten des Landesverbandes. Das ist wichtig, denn zerstrittene Parteien werden nicht gewählt. Das ist das Einmaleins des Wahlkämpfers.
Was kann die Bundespartei von der Berliner Linken lernen?
Pluralität als Chance ansehen, aber trotzdem auch Entscheidungen treffen und diese dann gemeinsam vertreten.
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