Steigende Lebenshaltungskosten: Wider die Verzichtslogik

Abstriche müssen nur die machen, die sich keinen Urlaub mehr leisten können. Wer Solidarität will, muss den Kampf für höhere Löhne vorantreiben.

Ein Mitarbeiter nimmt einen 5-Euro-Schein aus einer Einkaufskasse

Die Erhöhung der Preise könnte die Gesellschaft noch stärker spalten Foto: Marijan Murat/dpa

Ob Sie es wussten oder nicht. Sie haben im vergangenen Jahr etwa einen Monat umsonst gearbeitet. Tag für Tag ohne Bezahlung. Das jedenfalls bedeutet die Inflationsrate von 7,3 Prozent ganz real – ohne Lohnerhöhung und nach offizieller Statistik, die mit Vorsicht zu genießen ist. Sicher, wer ausreichend Immobilien, Aktien oder Kryptowährung besitzt, zuckt jetzt womöglich mit den Schultern, denn diesen Vermögenswerten macht die Inflation meist wenig aus.

Preise von Immobilien etwa steigen in der Regel mit dem allgemeinen Preisanstieg in der Gesellschaft, und Kapital lässt sich in lukrativere Anlageoptionen verschieben, Aktien von Rheinmetall zurzeit beispielsweise. Wenn Sie zu den glücklichen Besitzenden gehören, sind Sie im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung unter Umständen um einige zusätzliche Monatsgehälter reicher geworden, ohne dafür mehr zu arbeiten.

Im Kapitalismus gibt es kein „Wir“ – weder beim Thema Inflation noch beim Umgang mit ihr. Bei höheren Gas-, Öl und Flugpreisen verzichten nicht alle, sondern nur jene, die sich dann kein Auto, keinen Urlaub und keine Flüge mehr leisten können. Wer etwa Preissteigerung als Mittel im Kampf gegen den Klimawandel anpreist, sollte sich nicht wundern, wenn jener Bevölkerungsteil, der davon wirklich betroffen ist, demnächst rechts wählt.

Für Reiche ist jede Krise eine lukrative Investmentmöglichkeit, für den Rest ohne Kapital eine Gelegenheit sich nolens volens zu überlegen, wo man Abstriche macht. Die Erhöhung des Leitzinses bei der US-Notenbank Fed und die Vorbereitung der EZB auf einen ähnlichen Schritt bedeuten, dass man sich auf eine längerfristige Inflation einstellt und womöglich – ähnlich wie bei der Stagflation in den 1970er Jahren – einen sinkenden Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt.

Angesichts der 100 Milliarden, die mal eben für die Aufrüstung lockergemacht werden, ist das Entlastungspaket der Bundesregierung bestenfalls Aktionismus. Schlimmstenfalls aber gibt sie damit zu verstehen, nichts wirklich gegen Inflation und ihre andauernden Auswirkungen tun zu wollen. Nach dem Krieg wird die Inflation allerdings das bestimmende Thema bleiben. Für die Mittel- und Unterschicht schürt sie schon jetzt Unsicherheit und Zukunftsängste.

Die Inflation kam vor dem Krieg

Die Inflation ist dem Krieg vorangegangen und wird auch nicht so schnell wieder verschwinden. Bereits Mitte letzten Jahres war weltweit ein merklicher Preisanstieg zu spüren, befeuert durch die Lockdown-Politik vieler Staaten während der Pandemie, die Produktivitätsrückgänge und Probleme bei den weltweiten Lieferketten verursacht hat. Jetzt scheinbar tugendhaft Verzicht zu predigen, ist zynisch. Verzichten muss die Mehrheit der Bevölkerung sowieso – kurzfristige Entlastungen hin oder her.

Dass „gemeinsamer“ Verzicht solidarisch mache, könnte weltfremder nicht sein. Spätestens die letzten beiden Jahre sollten vom Gegenteil überzeugt haben. Der französische Soziologe Émile Durkheim hätte sich während der Coronapandemie, in der schon ausreichend „solidarischer“ Verzicht verordnet wurde, auf traurige Weise in seiner Annahme zunehmender gesellschaftlicher Anomie oder, um es salopp auszudrücken, Asozialität in der Moderne bestätigt gesehen:

Die weltweit angestiegene Selbstmordrate, die psychischen Krankheiten und der Alkohol- und Drogenmissbrauch wären ihm Indikatoren gesellschaftlicher Desintegration gewesen, vom gegenseitigen Hass, den Befürworter wie Gegner der Impfkampagne aufeinander gerichtet haben, ganz zu schweigen. Solidarität wäre nur im gemeinsamen Eintreten für bessere Lebensbedingungen für alle zu haben, angefangen durch zivilgesellschaftliche Organisierung im Kampf um höhere Löhne und niedrigere Mieten.

Das aber ist nur möglich wider jede Verzichtslogik. Verzicht oder gar ein „Ende des endlosen Wachstums“ wie Greta Thunberg auf Grundlage des Kapitalismus zu fordern, bedeutet für Verelendung einzutreten und buchstäblich auf die Freiheit zu verzichten, Gesellschaft über ihren mangelhaften Istzustand hinauszutreiben. Kapitalismus ist eine Tretmühle, in der es ohne Wachstum nicht gleich bleibt, sondern rückwärts geht.

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