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Steigende LebenshaltungskostenWider die Verzichtslogik

Kommentar von Jan Schroeder

Abstriche müssen nur die machen, die sich keinen Urlaub mehr leisten können. Wer Solidarität will, muss den Kampf für höhere Löhne vorantreiben.

Die Erhöhung der Preise könnte die Gesellschaft noch stärker spalten Foto: Marijan Murat/dpa

O b Sie es wussten oder nicht. Sie haben im vergangenen Jahr etwa einen Monat umsonst gearbeitet. Tag für Tag ohne Bezahlung. Das jedenfalls bedeutet die Inflationsrate von 7,3 Prozent ganz real – ohne Lohnerhöhung und nach offizieller Statistik, die mit Vorsicht zu genießen ist. Sicher, wer ausreichend Immobilien, Aktien oder Kryptowährung besitzt, zuckt jetzt womöglich mit den Schultern, denn diesen Vermögenswerten macht die Inflation meist wenig aus.

Preise von Immobilien etwa steigen in der Regel mit dem allgemeinen Preisanstieg in der Gesellschaft, und Kapital lässt sich in lukrativere Anlageoptionen verschieben, Aktien von Rheinmetall zurzeit beispielsweise. Wenn Sie zu den glücklichen Besitzenden gehören, sind Sie im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung unter Umständen um einige zusätzliche Monatsgehälter reicher geworden, ohne dafür mehr zu arbeiten.

Im Kapitalismus gibt es kein „Wir“ – weder beim Thema Inflation noch beim Umgang mit ihr. Bei höheren Gas-, Öl und Flugpreisen verzichten nicht alle, sondern nur jene, die sich dann kein Auto, keinen Urlaub und keine Flüge mehr leisten können. Wer etwa Preissteigerung als Mittel im Kampf gegen den Klimawandel anpreist, sollte sich nicht wundern, wenn jener Bevölkerungsteil, der davon wirklich betroffen ist, demnächst rechts wählt.

Für Reiche ist jede Krise eine lukrative Investmentmöglichkeit, für den Rest ohne Kapital eine Gelegenheit sich nolens volens zu überlegen, wo man Abstriche macht. Die Erhöhung des Leitzinses bei der US-Notenbank Fed und die Vorbereitung der EZB auf einen ähnlichen Schritt bedeuten, dass man sich auf eine längerfristige Inflation einstellt und womöglich – ähnlich wie bei der Stagflation in den 1970er Jahren – einen sinkenden Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt.

Angesichts der 100 Milliarden, die mal eben für die Aufrüstung lockergemacht werden, ist das Entlastungspaket der Bundesregierung bestenfalls Aktionismus. Schlimmstenfalls aber gibt sie damit zu verstehen, nichts wirklich gegen Inflation und ihre andauernden Auswirkungen tun zu wollen. Nach dem Krieg wird die Inflation allerdings das bestimmende Thema bleiben. Für die Mittel- und Unterschicht schürt sie schon jetzt Unsicherheit und Zukunftsängste.

Die Inflation kam vor dem Krieg

Die Inflation ist dem Krieg vorangegangen und wird auch nicht so schnell wieder verschwinden. Bereits Mitte letzten Jahres war weltweit ein merklicher Preisanstieg zu spüren, befeuert durch die Lockdown-Politik vieler Staaten während der Pandemie, die Produktivitätsrückgänge und Probleme bei den weltweiten Lieferketten verursacht hat. Jetzt scheinbar tugendhaft Verzicht zu predigen, ist zynisch. Verzichten muss die Mehrheit der Bevölkerung sowieso – kurzfristige Entlastungen hin oder her.

Dass „gemeinsamer“ Verzicht solidarisch mache, könnte weltfremder nicht sein. Spätestens die letzten beiden Jahre sollten vom Gegenteil überzeugt haben. Der französische Soziologe Émile Durkheim hätte sich während der Coronapandemie, in der schon ausreichend „solidarischer“ Verzicht verordnet wurde, auf traurige Weise in seiner Annahme zunehmender gesellschaftlicher Anomie oder, um es salopp auszudrücken, Asozialität in der Moderne bestätigt gesehen:

Die weltweit angestiegene Selbstmordrate, die psychischen Krankheiten und der Alkohol- und Drogenmissbrauch wären ihm Indikatoren gesellschaftlicher Desintegration gewesen, vom gegenseitigen Hass, den Befürworter wie Gegner der Impfkampagne aufeinander gerichtet haben, ganz zu schweigen. Solidarität wäre nur im gemeinsamen Eintreten für bessere Lebensbedingungen für alle zu haben, angefangen durch zivilgesellschaftliche Organisierung im Kampf um höhere Löhne und niedrigere Mieten.

Das aber ist nur möglich wider jede Verzichtslogik. Verzicht oder gar ein „Ende des endlosen Wachstums“ wie Greta Thunberg auf Grundlage des Kapitalismus zu fordern, bedeutet für Verelendung einzutreten und buchstäblich auf die Freiheit zu verzichten, Gesellschaft über ihren mangelhaften Istzustand hinauszutreiben. Kapitalismus ist eine Tretmühle, in der es ohne Wachstum nicht gleich bleibt, sondern rückwärts geht.

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11 Kommentare

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  • "Kapitalismus ist eine Tretmühle, in der es ohne Wachstum nicht gleich bleibt, sondern rückwärts geht."

    Wenn das so stimmen sollte, dann wird es vielleicht Zeit aus der Tretmühle herauszutreten. Wenn der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt, dann brauchen wir Schaufeln, um die Gülle zu verteilen und kein Rad, das den Haufen um sich selbst rührt.

  • "Die Erhöhung des Leitzinses bei der US-Notenbank Fed und die Vorbereitung der EZB auf einen ähnlichen Schritt bedeuten, dass man sich auf eine längerfristige Inflation einstellt und womöglich – ähnlich wie bei der Stagflation in den 1970er Jahren – einen sinkenden Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt."



    Nun ist aber die Leitzinserhöhung ein Schritt der eben gerade der Dämpfung der Inflation, also dem Schutz des "Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung" dient, während er für Börsen und Konjunktur wegen steigender Kapitalkosten negativ wirkt.



    Die Parole "wider jede Verzichtslogik" führt derzeit in eine Welt mit über 2,7° Erwärmung bis 2100. Die Grenze der Anpassungsfähigkeit menschlicher Zivilisation liegt bei höchstens 2°. Die Forderung nach einem 'Weiter so', nach Kapitalismus, Wachstum und billiger fossiler Energie ist mittelfristig weder im Interesse 'der Reichen', noch der relativ oder absolut Armen.

  • "Wer etwa Preissteigerung als Mittel im Kampf gegen den Klimawandel anpreist, sollte sich nicht wundern, wenn jener Bevölkerungsteil, der davon wirklich betroffen ist, demnächst rechts wählt."



    Sollte man also fossile Energie billig halten um Stimmen für Rechts (vielleicht) zu verhindern? Oder sollte man vielleicht einfach mal damit aufhören das Wählen von Rechtsradikalen als Protest zu verharmlosen und damit zu entschuldigen, dass die so Wählenden die Konsequenz ihres Handelns nicht vollends bewusst sei. Wer rechts wählt ist auch rechts. Punkt.



    Es bleibt keine Zeit mehr die Klimakatastrophe durch langsames Umsteuern schmerzfrei aufzuhalten. Wir können nicht weiterhin die Ressourcen von 2,5 Planeten verbrauchen und glauben, dass das ohne Folgen bliebe. Zu glauben, dass die notwendigen Umsteuerungen allein von 'den Reichen' und Rheinmetall-Shareholdern zu bewältigen wären, während die relativ Armen der Industrieländer ihren Lebensstandard ohne Abstriche aufrecht erhalten könnten ist ein Irrtum und dass viele "sich dann kein Auto, keinen Urlaub und keine Flüge mehr leisten können" ist schlichte Notwendigkeit.

  • "wer ausreichend Immobilien, Aktien oder Kryptowährung besitzt, zuckt jetzt womöglich mit den Schultern"



    Ist das so? Sicher, Rheinmetall hat durch Kriegsbeginn und die Scholz`schen 100 Mrd. extrem gewonnen. Gut für die die den Krieg schon vor dem 24. Februar kommen sahen. Ob ein Plus von über 150% fundamental gerechtfertigt ist bleibt aber abzuwarten. Jetzt noch long einzusteigen dürfte mutig sein. Anders als die Rüstung hat der DAX aber YTD rund 14% verloren, nicht zuletzt durch den Krieg und den inflationsbedingt absehbar steigenden Leitzins. Letzterer wirkt sich derzeit auch auf den Immobilienmarkt aus. Wer seine Immobilie noch nicht abbezahlt hat, könnte demnächst mit kräftig gestiegenen Zinsen konfrontiert sein. Und auch die Zeichen auf eine Blase mehren sich, die Bundesbank sieht Überbewertungen von bis zu 40%, auch hier droht ein böses Erwachen.



    www.tagesschau.de/...lienblase-101.html

  • Das ist ein wirklich guter Artikel, der die Mechanismen unseren derzeitigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems gut skizziert und zusammenfasst.



    Schon ein paar Prozent hinter dem Minus beim Wirtschaftswachstum bedeuten in Deutschland Verelendung und Armut für Hunderttausende, gar Millionen. Selbst in der Boomphase des Wachstums in den 2010er Jahren, waren die Tafeln überrannt und Hunderttausende Wohnungs- und Obdachlos. Die Verteilungsmechanismen wirken halt so, dass als erstes die Gewinne der Kapitalisten bedient werden und dann der Rest. Wenn nach den Gewinnen nichts mehr übrig bleibt, dann hat der Rest halt Pech gehabt. Ob es für die Butter aufs Brot reicht oder nicht - da kennt ein Milliardär kein Pardon!

    • @TeeTS:

      "Schon ein paar Prozent hinter dem Minus beim Wirtschaftswachstum bedeuten in Deutschland Verelendung und Armut für Hunderttausende, gar Millionen"



      OMG! Wir müssten leben wie 2020, oder wenn´s ganz extrem kommt wie 2010. Armut, Obdachlosigkeit und Hungersnöte drohen! Hoffentlich schickt die UN das WFP in deutsche Vorstädte.

  • Ich glaube nicht, dass Kapitalismus ohne Wachstum rückwarts geht. Kapitalismus ohne Wachstum heisst das Platzen von Finanzblasen. Staatspleiten, Hyperinflation... Wenn das mit Rückwärts gemeints ist, dann stimmt das. Aber dann haben wir ein Worst Case Szenario erwischt. Das letzte Mal gabs WW2.

    Mit Wachstum wird es nichts hingegen mit Nachhaltigkeit, Klimawandel stoppen ect. Wenn es auf der Lebenserhaltenden Seite Ökosystem schwieriger wird, Menschen hungern und existentiell bedroht sind haben wir auch ein Worst Case Szenario.

    Bleibt halt ein Wachstumsstop ohne Kapitalismus. Dafür bräuchte es wohl einen kompletten Finanzreset, ähnlich wie es ihn vor der Gründung der BRD mit der D-Mark gab. Annuliert man alles, gibts keine Blasen die platzen. Ändert man den freien Markt - Börse und Bitcoin sind nicht notwendig für das libertäre - gibts eine Chance in meinen Augen. Bleibt ne Menge Überzeugungsarbeit. Nach wie vor sitzt die Kalte Krieg Propaganda hart in den Köpfen der Menschen. Entweder Kapitalismus oder Kommunismus.

    Wissenschaftlicher Fortschritt bedarf auch vor allem nur einer Sache, nämlich Forschern. Eine weitere Lüge ist es doch, dass uns Kapitalismus und Zins mit Wirtschaftswachstum die technischen Neuerungen gebracht haben. Das hat die Wissenschaft gemacht und für die braucht es auch keine Aktien.

    Jetzt tut sich ja mal rein gar nichts im Bewusstsein der Menschen. Also wird die Lösung drei auch keine mit dem Wechsel in einen nicht wachstumsbasierten freien Markt.

    Um noch Hoffnungsvoll zu sein, bleibt die KI. Mit Technologie Explosion. Keine der informatischen Auswertungen zur Technologie Explosion hat aber die Natur und die begrenzten Ressourcen beinhaltet. Und federführend in KI sind Meta/Alphabet/OpenAI/Chinesische Player. Alles keine Pferde auf die ich setzen mag.

    Es bleibt spannend. Wer geht zuerst down. Ich oder der Kapitalismus. Fingers crossed, Augen zu und durch.

    • 4G
      43421 (Profil gelöscht)
      @SimpleForest:

      "Eine weitere Lüge ist es doch, dass uns Kapitalismus und Zins mit Wirtschaftswachstum die technischen Neuerungen gebracht haben. Das hat die Wissenschaft gemacht und für die braucht es auch keine Aktien."

      Richtig, aber vielleicht sollte man auch bedenken, was der wahrscheinlich alles Kapitalismus verhindert hat, denn sämtliche Neuerungen müssen in einem solchen System Gewinn abwerfen, bei dem es nicht darauf ankommt, ob die Neuerung sinnvoll ist oder ob sie wirkt. Das lässt sich m.E. etwa bei der Pharma-Industrie sehr gut nachvollziehen.

  • Bausch und Bogen. Einige Bewohner*innen Nordafrikas können derzeit noch viel weniger auf erschwinglichen Weizen verzichten als Frau Sommer auf ihren Malle-Flug. Und die wahrscheinlich weniger darauf als Herr Blackrock auf sein Zweitflugzeug.

    Ich denke, da müssen wir alle etwas ran. In der Natur des Kapitalismus liegt es, dass die Habenden dafür sorgen können, dass die Nichthabenden zuerst verzichten.

    Aber FDP wählen tun dann alle. Warum nur. Weil sie sich um die alleinerziehende Friseurin sorgen, die vor lauter EEG verarmt?

  • RS
    Ria Sauter

    Ja, sicher werden sie dann rechts wählen.



    Hilft zwar nicht, soll aber als Denkzettel verstanden werden.



    Das wird die übrigen Parteien nicht wirklich interessieren.

    Endlich ist der Zudammenhang auch in der TAZ angekommen.

    1 Brötchen kostet bei den ganz Backketten 1 Euro.

    Wie hoch ist die Mindestrente usw.?

  • Warum höhere Löhne alleine der Irrweg sind.

    Kostensteigerungen immer durch höhere Löhne zu kompensieren ist ein Irrweg und führt in eine nicht endete Lohn- Preisspirale.



    Die Inflation muss gestoppt werden, die Negativzinsen müssen beendet werden, Geld muss wieder einen stabilen Wert haben. Nur so stoppen wir die permanenten Preissteigerungen.



    Sicher, jetzt ist eine Lohnanpassung notwendig und die Lücke zu vorher aufzuholen, aber so darf es nicht weitergehen.



    Auch die Rentner mit ihrer knappen Rente, welche auch vom Ersparten leben, sind die Dummen bei einer so hohen Inflation. Und viele aus der unteren Mittelschicht rutschen jetzt wegen der Folgen der Inflation in die Armut ab.