Manifest des Britischen Müllismus: Stilvoll scheitern in der Kunstwelt

Jenseits von Networking: Der britische Künstler Scott King kommt mit dem „Debrist Manifesto“ zum Festival „The Sun Machine Is Coming Down“ ins Berliner ICC.

Scott King in Scooter-Boy Polohemd

Galionsfigur des Müllismus: der britische Künstler Scott King Foto: Norbert Schoerner

„Nie etwas zu Ende bringen. Erste und wichtigste Regel des Müllismus.“ In Zeiten, in denen Galeristen Kunstwerke so anpreisen, damit sie auf ihren Instagram-Accounts besser sichtbar sind, wirkt ein auf Papier gedrucktes Manifest über das Scheitern in der Kunst, das dem allgemeinen Marketingdelirium analog den Spiegel vorhält, höchst skurril.

Und dennoch: „The Debrist Manifesto“, das Müllismus-Manifest, ohne Weiteres proklamiert vom britischen Künstler und Grafiker Scott King, ist unterhaltsam zu lesen, obwohl es in Teilen wie eine Lebenshilfefibel angelegt ist, die Auswege aus der permanenten künstlerischen Selbstausbeutung und Abhängigkeit von Gatekeepern aufzeigt.

Schon von seiner simplen Aufmachung her, außen schwarze Schrift auf leuchtend rotem Grund, innen ausschließlich Text, einige Fußnoten und keinerlei Bildmaterial, wirkt die Publikation wie eine raffinierte Neubearbeitung von Herman Melvilles „Bartleby“-Novelle, dessen Diktum „I prefer not to“ Scott King als positiven Befreiungsschlag neu inszeniert.

Eingeführte Formen kapern

Wer sich aus dem Kunstbetrieb ausklinkt, so der Brite, erkämpft sich neue Freiräume. „Ich interpretiere die Textform Manifest nicht als doktrinäre Polemik, auch wenn mein Text Spuren davon enthält“, erklärt King der taz. „Ich habe mich eher an die situationistische Strategie des detournement angelehnt: eine eingeführte Form – das Manifest – kapern, um damit allgemein verständlich zu kommunizieren. Das finde ich zugänglicher, als Kunst in einer Galerie auszustellen.“

Scott King: „The Debrist Manifesto“, Cornerhouse Publications, Manchester, 2021, 48 Seiten.

Lecture Performance, bis zum 17. Oktober täglich im ICC/Berlin, Tickets hier.

Umso schöner, dass King seine Ideen nun auch hierzulande zur Sprache bringt. Er ist zum Festival „The Sun Is Coming Down“ im Berliner ICC eingeladen, das nach einer Zeile aus dem Bowie-Song „Memory of a free Festival“ benannt ist, und Pop, Literatur und Kunst deckungsgleich bringen möchte. King wird täglich sein Manifest lesen. In Audioaufnahmen klingt seine sonore Stimme so trocken wie ein Ingwer­keks, man darf also gespannt auf die Performance sein.

Auf der Manifest-Rückseite hat King eine Checkliste zum Ankreuzen abgedruckt, wie man sie auch auf Formularen findet: „Kein Selbstvertrauen“, „Erschöpft“, „Isoliert“, „Impulsiv“ und weitere Zuschreibungen aus der Selbst­optimierungshölle sind aufgelistet. Wer mehr als zehn Begriffe ankreuzt, eigne sich als Debrist, behauptet das Kleingedruckte.

Zen-Nihilismus

„Müllismus ist eine Form von Zen-Nihilismus“, behauptet wiederum Scott King. „Ich mache keinen platten Protest gegen den Kunstbetrieb, Müllismus lässt einfach die Influencer hinter sich. Wenn sie sich von ihnen unabhängig machen, lernen Künst­le­r:in­nen, sich und ihr Scheitern zu akzeptieren, und hören auf, unerfüllbare Wünsche zu stillen. Es wird nur besser, wenn sie stur weitermachen, egal, wo immer sie auch damit landen.“

Sein Antrieb, das Manifest zu schreiben, sei eine tiefe, durch fehlgeleitete Kommunikationen ausgelöste Frustration gewesen, erklärt King. Im Verlauf der Niederschrift sei diese immer mehr einer Schaffensfreude gewichen. Die Konventionen des Kunstbetriebs sind ihm zwar schon lange ein Gräuel, auch er hat unzählige halbfertige Projekte in der Schublade; und doch zapft er aus den widrigen Umständen der Künstlerexistenz immer wieder nützliche Ideen ab.

„You’re My Favourite Artist“ heißt etwa ein Song, dessen Text King 2013 verfasst hat, nachdem ihn eine ihm unbekannte Kuratorin in New York penetrant als „ihren Lieblingskünstler“ angepriesen hatte, so wie alle anderen von ihr vertretenen Künst­le­r:in­nen auch. Müllismus ist nun eine Abrechnung mit strategischen Bekanntschaften, ungeschriebenen Smalltalk-Gesetzen und dem Druck des Gut-vernetzt-Seins. „Un-Networking ist der beste Freund der Müllisten.“

Scooter Boy mit Lambretta

Aufgewachsen nahe Leeds, widmete der 1970 Geborene seine Jugend der Scooter-Boys-Subkultur, einer raueren nordenglischen Variante der Mods. Hauptsächlich habe er Platten gesammelt und gebrauchte Motoroller frisiert, mehr oder weniger legal, so King. Die Bildsprache von Pop hat ihn dabei nachhaltig geprägt. Schriftzüge und Farblackierungen von Lambretta-Motorrollern waren seine erste Schule der Ästhetik.

Für eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen schuf er im Jahr 2019 die Nachbildung der Fassade des Hauses Barton Street 77 im Viertel Macclesfield von Manchester aus Linoleum: An dieser Adresse wohnte einst Joy-Division-Sänger Ian Curtis. „Im Werk der aus der Arbeiterklasse stammenden Band geht es zugleich um Alltägliches und Außergewöhnliches“, das habe er mit seinem Werk und dem dafür verwendeten Material zum Ausdruck bringen wollen.

King kommt selbst aus kleinen Verhältnissen und schaffte es an die Hochschule von Hull, danach arbeitete er eine Weile als Art-Director beim britischen Magazin ID. Er gestaltete Cover für das Popduo Pet Shop Boys. Anfang der nuller Jahre betreut er die Kampagne für die Bürgermeisterkandidatur von Malcolm McLaren in London, ein Fehlschlag, denn McLaren zog diese wieder zurück.

Komische Grauzone

Erfolge und Miss­erfolge, beides kennt Scott King. „Meine künstlerische Arbeit befindet sich in einer komischen Grauzone, niemals richtig Kunst, niemals richtig Grafikdesign. Zwischenräume haben mich immer am meisten interessiert“, hat er einmal in einem Interview gesagt.

Das Manifest zu schreiben sei für ihn ein bisschen wie ein Exorzismus gewesen. Vielleicht ist „The Debrist Manifesto“ sogar eine Intervention, mit der der 51-Jährige einem Gegensatzpaar von Friedrich Nietzsche nahekommt: In „Geburt der Tragödie“ unterscheidet jener zwischen den Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen als ewigen Formen von Kunst und Dasein. Das eine als Prinzip positiver Zwecksetzungen und manifester Vernunft. Das andere als seine Negation.

In Scott Kings Müllismus-Manifest vermischen sich diese beiden Aspekte ständig, Aktionismus wird von Hürden behindert, King betont das so sehr, dass die Negation irgendwann in ihr Gegenteil umschlägt, wie der Ramsch als Durchmarsch beim Kartenspiel Skat. „Keine Lösung für Probleme zu finden löst Selbstzweifel aus“, steht an einer Stelle im Manifest. „Es ist aber gesund, wenn man permanent Selbstzweifeln ausgesetzt ist. Man wird davon schlauer.“

Aus Kings Forderungskatalog spricht auch idealistischer Trotz, der ihn im superkapitalistischen Post-Brexit-Nationalismus des Großbritannien der Gegenwart zum Fremdkörper werden lässt. Der Musikkritiker und Künstler Michael Bracewell hat diese spezifische Form der antibritischen und zugleich surrealistischen Außenseiterhaltung seiner Heimat in einer Ahnenreihe von EM Forster bis Malcolm McLaren festgemacht. Scott King darf dazu gezählt werden.

„Mein Manifest reflektiert die Atmosphäre in Großbritannien nach dem Brexit mit. Der Alltag ist deprimierend. Die Regierung Johnson lügt in einer Tour. Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, ‚wollten ihr Land zurück‘. Jetzt haben sie ihr Land zurück, aber mit Benzinmangel und zu wenig Lastwagenfahrer:innen. Als Folge sind die Supermarktregale leer und zu Weihnachten gibt es keinen Truthahn. Ein idiotischer Akt von Selbstzerstörung.“

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