Antirassistisches Werk „Nancy Cunards Negro“: Die Avantgarde schlägt zurück

Nancy Cunard initiierte mit schwarzen Autor:Innen die erste Geschichte afroamerikanischer Kultur. Sie zu lesen lohnt bis heute.

Nancy Cunard in Lederjacke

Nancy Cunard im Jahr 1932 in Harlem Foto: Bettmann/getty

Zwei Gemälde von de Chirico, zwei Tanguys, eine Gouache von Picabia, Zeichnungen von Wyndham Lewis – ein kleiner Ausschnitt dessen, was an Werken in der Wohnung von Nancy Cunard hängt, die sie 1920 unweit der Kathedrale Notre Dame bezogen hat und zu einem Maschinenraum der künstlerischen Avantgarde jener Zeit gestalten sollte, als Paris Weltmetropole der Kultur war; bei der Britin gehen die wichtigsten Figuren von Vortizismus, Dadaismus, Kubismus ein und aus, entweder war sie mit ihnen freundschaftlich verbunden oder sie förderte sie, indem sie Bücher veröffentlichte und Ausstellungen organisieren half.

Karl Bruckmaier (Hg.): „Nancy Cunards Negro“. Aus dem Englischen von Isa­bel­la und Karl Bruckmaier. Kursbuch Edition, Hamburg 2020, 277 Seiten, 25 Euro

Im Paris jener Zeit entsteht auch ein Kult um afrikanischen „Primitivismus“, Cunards Erkennungszeichen waren afrikanische Armreifen, die sie zu Dutzenden um ihre dünnen Arme geschlungen hatte.

Wer über Nancy Cunard (1896 bis 1965) schreibt, kommt ins Aufzählen, so zahllos sind ihre künstlerischen Kontakte, so gewieft sind ihre Netzwerkfähigkeiten, so ausgeprägt ist ihr furchtloser Wille, voranzugehen als Publizistin, It-Girl und politische Aktivistin.

Aufgewachsen ist sie als Tochter der schwerreichen Reedereifamilie Cunard, in einem der wohlhabendsten Upperclass-Häuser Großbritanniens. Ihr stand ein sorgloses High-Society-Leben offen, gegen das sie schon als Heranwachsende rebellierte; insbesondere gegen ihre Eltern, die weder Zeit noch Zuneigung für ihr Kind aufbrachten, und allgemein gegen die strengen Sitten der britischen Elite.

Wohlstand und Verwahrlosung

Aus patriotischem Pflichtbewusstsein arbeitete Cunard im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester, organisierte Lesungen für verwundete Soldaten. Mutmaßlich wurde sie aus der Bahn geworfen, als ihr Geliebter im Ersten Weltkrieg fiel. Jazz, der um 1917/18 in Großbritannien ankam, Alkohol und diverse Liebschaften lenkten vom Leid ab.

Bei Cunard findet alles gleichzeitig statt, ihre Loslösung von der Familie, die Selbstverwirklichung als Protagonistin von Kunst und Literatur in Paris und das Ausscheren aus den gesellschaftlichen Konventionen mithilfe von Jazz. Dies macht es für Chronisten ihres Lebens schwer, den Überblick zu behalten. Beim Aufzählen droht zudem das Nachbeten des männlichen Kanons, so männlich, wie die Geschichte zu Cunards Lebzeiten und noch lange danach dominiert war.

Sicherlich einer der Gründe, warum die Britin hierzulande kaum Erwähnung findet, obwohl sich in ihrer abenteuerlichen Vita viele Krisen und Konflikte des totalitären 20. Jahrhunderts spiegeln, genau wie ihre Versuche der Befreiung von diesem Alb. Eine Annäherung an die Rastlose wagt der Münchner Autor Karl Bruckmaier: „Nancy Cunards Negro“ ist seine stark gekürzte deutsche Auswahl der 1934 von Cunard veröffentlichten Anthologie „Negro“.

Erste Anthologie über schwarze Kulturgeschichte

Es war dies die erste, zusammen mit schwarzen Autor:Innen gestaltete ethnografische Geschichte der afroamerikanischen Diaspora und Kultur. Cunard initiierte das Projekt, finanzierte es, gab es heraus. Sie steuerte dafür selbst Reportagen bei, recherchierte in Harlem und schrieb darüber, akquirierte Essays von W. E. B. Du Bois, Langston Hughes, Countee Cullen, Zora Neale Hurston. Aber auch André Breton und die surrealistische Gruppe sowie der Komponist George Antheil schrieben Texte, Samuel Beckett übersetzte sie aus dem Englischen ins Französische.

„Unser sogenanntes Afroamerika weist Hautfarben in jeglicher Schattierung auf. Und das ‚weiße Amerika‘? Nun, lilienweiß ist es nicht. Der Vermischungsprozess hat vor zwei Jahrhunderten begonnen und […] er wird nie aufhören. Was die Schwarzen untereinander eint, ist nicht eine Frage des Blutes, […] wir müssen von einer psy­cho­logischen Gemeinsamkeit reden, die gebildet wird aus kollektiven Erinnerungen, Verletzungen, Zielen.“

Was der Soziologe und Bürgerrechtler Du Bois, erster afroamerikanischer Doktorand überhaupt, in seinem programmatischen Aufsatz „Das Schwarze Amerika“ für Cunards Anthologie skizziert, bereichert auch heutige Debatten. Bei seiner Erstveröffentlichung war es ein radikales Statement, weil Du Bois selbstbewusst gesellschaftliche Gleichberechtigung einfordert, zugleich die ­damals praktizierte Segregation als verlogen demaskiert und den völkischen Begriff der „Rassenschande“ ad ­absurdum führt.

Neues Selbstbewusstsein

„Negro“ ist auch deswegen ein wichtiges Buch, weil es Schwarze eben nicht nur als Opfer der Geschichte darstellt, sondern ihren Beitrag zu Kultur und Gesellschaft hervorhebt und das neue Selbstbewusstsein von Künstlergruppen wie der Harlem Renaissance dokumentiert. Zwischen den Essays und Reportagen finden sich immer wieder Gedichte: Etwa „Schlechte Zeiten“ von Jonathan H. Brooks, das in acht lakonischen Zeilen darstellt, wie ein heruntergekommener Mann würdevoll zur Kirche geht. Nicht nur um Rassismus geht es in den Texten, die wirtschaftlichen Entbehrungen der Großen Depression und ihre Folgen für die Schwarzen in den USA werden überdeutlich.

„Negro“ ist ein historisches Buch, in dem Schwarze Menschen von sich selbst als „Negroes“ schreiben. Es ist ein Steinbruch an Gesellschaftsdiagnostik, Reportagen, historischen Einordnungen aus den USA, es sucht auch in der Karibik und in Afrika nach Spuren und gibt fortschrittliche Diskurse über Schwarze in Europa wieder; deren kulturelle Hervorbringungen sorgten in Frankreich nach dem Wahnsinn des Ersten Weltkriegs für liberaleres Alltagsleben. Wenn George Antheil etwa in seinem Text „Die Spirale – eine Methode zur Beschreibung schwarzer Musik“ schreibt, diese „erinnerte uns daran, dass wir noch im Besitz unserer Körper waren, dass kein Geschoss uns zerfetzt hatte …“

In Europa löst Jazz frenetische Tanzmoden aus. Andererseits stieß die neue Musik auf krasse sexualisierte Ängste und auf krudeste ideologische Ablehnung. Konzerte wurden von Anfang an als Ausdruck von „Entartung“ und „Kulturbolschewismus“ von Rechtskonservativen und Faschisten gebrandmarkt und gestürmt. Diesen nicht unwichtigen Aspekt lässt Bruckmaier in seinem Vorwort beiseite, stattdessen zieht er eine Verbindung zur rassistischen Alltagsgewalt in den USA der Gegenwart.

Akt der Befreiung

1926 lernte Nancy Cunard den afroamerikanischen Jazzmusiker Henry Chowder kennen, mit dem sie während des langen Entstehungsprozesses von „Negro“ auch liiert war. In seinem Text „Ich schlage jetzt zurück“ erinnert sich Chowder an die Unruhen von 1919, die in 30 US-Städten ausgebrochen waren, nachdem ein junger Schwarzer von Weißen am Lake Michigan in Chicago umgebracht worden war, weil er an einem „für Weiße“ reservierten Strand gebadet hatte. Nicht zum ersten Mal in der US-Geschichte wehrten sich Schwarze gegen rassistische Gewalt, zum ersten Mal aber mit physischer Gegengewalt. In Chowders Text wirkt dieser Akt der Befreiung comicmäßig überzeichnet.

Für die Liaison mit Chowder büßte Cunard. Paparazzi verfolgten sie bei ihren Reisen in die USA auf Schritt und Tritt und schrieben tägliche Bulletins über „die Rassenschande der Upper­class-Schickse“. Die rechte Hearst-Pres­se initiierte 1932 eine Desinfor­ma­tions­kam­pagne, wonach Cunard und der (kommunistische) afroamerikanische Schauspieler Paul Robeson ein Paar seien. Auch in Großbritannien wird Cunard wegen ihres „Colored Friend“ Chowder in den Medien auf rüdeste, heute unvorstellbare Weise beleidigt. Ihre eigene Familie distanziert sich öffentlich von ihr, Freunde wenden sich ab.

Als „Negro“ 1934 in großformatiger Originalausgabe schließlich erscheint, misst es stolze 855 Seiten und umfasst 200 Texte von mehr als 150 Autor:Innen, dazu sind unzählige Illustrationen und Fotos enthalten. Es bekommt einige gute Rezensionen und wird von der afroamerikanischen Community mit großer Sympathie aufgenommen, trotzdem gerät es bald in Vergessenheit. Cunard überwirft sich mit Chowder, nach 1935 wird sie all ihre Aktivitäten auf den beginnenden Spanischen Bürgerkrieg richten, für anarchistische und trotzkistische Flüchtlinge in Frankreich sorgen und gegen Faschisten mobil machen. Sie stirbt 1965 in Frankreich verarmt und weitgehend vergessen.

Die deutsche Fassung enthält 33 Texte aus dem Original, dazu ein Kurzporträt über Cunard, biografische Hinweise über die Autor:Innen und ein Fotoessay des Künstlers Olaf Unverzart. Als „kühnes Unterfangen“ bezeichnet der Herausgeber in seinem Vorwort Cunards Buchprojekt, „mit Negro der ganzen Welt zu beweisen, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu großen kulturellen Leistungen fähig sind“. Nancy Cunard hat zu Lebzeiten wenig Solidarität für ihr Projekt erfahren. Über sie ist mit diesem Buch längst nicht alles gesagt. Aber ein Anfang ist nun gemacht.

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