Konfliktforscher über Proteste im ÖPNV: „Wir brauchen dosierte Aggressivität“
Politische Bewegungen nutzen Busse und Bahnen noch zu wenig für ihren Protest. Davon ist der Marburger Konfliktforscher Johannes Becker überzeugt.
taz: Herr Becker, 1955 weigerte sich Rosa Parks als schwarze Frau, ihren Sitzplatz im Bus einem weißen Fahrgast zu überlassen und löste damit die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA aus. Das ist eines der bekanntesten Ereignisse, bei dem öffentliche Verkehrsmittel als Orte und Objekte für soziale Kämpfe genutzt wurden. Haben Sie selbst auch Erfahrung mit Protesten in Bussen oder Bahnen gemacht?
Johannes M. Becker: Ja, 1991 fuhr ich mit meinen (Ost-)Berliner Studierenden im Zug nach Paris. Als wir durch Lothringen kamen, wurden wir angehalten. Durch den Zug liefen Bergarbeiter in ihrer Kluft. Sie erklärten uns, dass ihre Zeche geschlossen werden sollte. Was war das Besondere an dieser Zugbesetzung? Wir konnten nicht raus und die Bergarbeiter haben ihre Macht eindrücklich genutzt, um ihre Informationen direkt an uns loszubringen.
Jahrgang 1952, ist Politologe und Friedensforscher. Von 1992 bis 2017 war er Privatdozent an der Uni Marburg.
Heutzutage ist die Klimabewegung der präsenteste Protest. Anders als Rosa Parks steht sie keinem Gegner direkt, persönlich, gegenüber. Kann sie die öffentlichen Verkehrsmittel für ihre Zwecke nutzen?
In Frankreich zum Beispiel hat die Gelbwesten-Bewegung 2019 angefangen, Kreisverkehre zu blockieren, um gegen die kräftige Spritpreis-Erhöhung bei einem gleichzeitig in der Fläche weitgehend geschlagenen ÖPNV zu protestieren. Aber als einer der Sprecher der Bürgerinnen-Initiative Verkehrswende hier in Marburg finde ich, wir nutzen Busse und Bahnen noch zu wenig. Ich glaube, dass da ungeheuerliche Chancen sind.
Werden Bus und Bahn heute in Deutschland für soziale Kämpfe genutzt?
Mir fallen zwei sehr verschiedene Beispiele ein. Erstens: Die Bundeswehr hatte neulich die Werbeflächen in Marburg in Bussen und Haltestellenhäuschen gekauft, um junge Menschen anzuwerben. Ich habe dafür plädiert, dass wir als Friedensbewegung selbst diese Flächen ankaufen und dann polemisch-sachlich argumentieren, dass, wer dafür wirbt, dass junge Menschen diese Armee als „normalen“ Arbeitgeber sehen, nicht die ganze Realität darstellt. Das zweite sind die Tarifkämpfe im öffentlichen Verkehr: In diesen Wochen drohen die Lokführer:innen hierzulande mit Streiks, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern. Und die Lokführergewerkschaft nutzt ihren Zugang zum Führerstand, also ihre Macht darüber, ob die Züge fahren oder nicht, als Schlüsselinstrument.
Ist ziviler Ungehorsam bei solchen Protesten legitim?
Auf jeden Fall, wenn der Staat sich uneinsichtig zeigt, was die Interessen der Masse der Bevölkerung anbelangt. Ich habe kein Verständnis dafür, dass man anderen Leuten die Autoscheiben einschlägt, geschweige denn, sie physisch angreift. Aber Straßenblockaden – verglichen mit den Schweinereien, die die Autos bei uns in den Städten anrichten, was Abgase und was Lärm anbelangt, sind das doch vernachlässigbare Faktoren.
Was halten Sie von ostentativem Bahnfahren ohne Fahrschein?
Das finde ich auch gut. Und ich bin ein unbedingter Verfechter des kostenfreien ÖPNV. ÖPNV ist meiner Ansicht nach ein Grundrecht, denken Sie an die 20 Prozent der Menschen, die unter oder an der Armutsgrenze leben. ÖPNV muss billig und berechenbar sein, wie für die Einwohner in der Schweiz zum Beispiel. Da fährt bis ins kleinste Tal hinein der Postbus auf die Sekunde. Bei uns fahren manche Eltern die Kinder mit dem Auto in die Schule, weil die sonst um halb sieben an der Bushaltestelle stehen müssten, um um acht Uhr im Unterricht zu sein.
Ist Fahren ohne gültiges Ticket dagegen effektiv?
Schwarzfahren ist effektiv, weil es auf das Problem hinweist, dass sich einige Leute den Verkehr einfach nicht leisten können. Ich bewundere Menschen, die das tun. Wer ein paar Mal erwischt worden ist, wird vorbestraft. Da muss man schon ein starkes Rückgrat haben. Alles, was auf die großen Missstände in diesem reichen Land hinweist, unterstütze ich.
Wie kommt es zu solchen Missständen, die ja schon lange bekannt sind?
Die letzten Vorstandsleute der Deutschen Bahn kamen aus Luftfahrt- und Autoindustrie. Da wird Klassenkampf von oben betrieben. Marx sagt: ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein.‘ Wenn der Bahnvorstand nie mit einem Zug morgens nach Frankfurt in die Zentrale fährt, sieht er auch nicht, wie dieser um acht Uhr aussieht. Es müssen Leute in den Vorstand, die aus den Gewerkschaften kommen, die von der Pike auf dieses Handwerk gelernt haben und die wissen, wie der Alltag in einem Zug oder in einem Bus ist.
Wo bleibt der Aufruhr vor allem von den benachteiligten Menschen?
Das ist eine der Schlüsselfragen. Weil unser System ihnen eingebläut hat, dass jeder und jede individuell für ihre Lage verantwortlich ist. Sie fragen nicht: Stimmt vielleicht etwas an dem großen System nicht? Auch bei unserer Bürgerinitiative sind wir ausnahmslos Intellektuelle.
Brauchen soziale Bewegungen mehr Aggressivität?
Ja, wir brauchen dosierte Aggressivität. Ziviler Ungehorsam führt immer zu ungeheuerlich viel Aufmerksamkeit. Ohne Aufmerksamkeit kommen Sie nicht an die Hirne der Menschen heran und dann kommen Sie auch nicht an die Herzen der Menschen heran.
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