Von diesem Leben

Christina von Braun verknüpft in „Geschlecht“ eigenes biografisches Erzählen mit sozialen Entwicklungen. In großem Bogen erzählt sie ihre Selbstwerdung

Christina von Braun Foto: Detlev Schilke

Von Patricia Hecht

Der schlichte Titel „Geschlecht“ verweist auf Zweierlei. Familiengeschlecht kann er bedeuten – das der Familie von Braun, die aus altem schlesischen Adel stammt. Und soziales und biologisches Geschlecht kann er bedeuten – ebenfalls naheliegend: Die Autorin ist Christina von Braun, feministische Schriftstellerin, Filmemacherin und Gründerin des ersten Studiengangs Gender Studies in Deutschland. Um beides, Familie und die Umwälzungen innerhalb der Geschlechterverhältnisse im 20. Jahrhundert, geht es in der Autobiografie, die von Braun nun vorgelegt hat.

Allein von Brauns Familiengeschichte ist außergewöhnlich: Großvater Magnus von Braun leitet ab 1917 das erste zentrale Presseamt des Kaiserreichs, Onkel Wernher von Braun ist Raketeningenieur und kollaboriert mit den Nazis. Später arbeitet er bei der Nasa und ist maßgeblich am Erfolg der Mondlandung beteiligt. Christina von Brauns Vater ist Spitzendiplomat in Rom und New York, später Protokollchef des Auswärtigen Amts in Bonn.

„Den berühmten Männern meiner Familie wurden schon einige Bücher gewidmet“, schreibt Christina von Braun und beruft sich auf die Frauen, von denen auch einige geistige Erbschaften hinterlassen haben. Die sind zum Teil schriftlich notiert – wenn auch nicht wie bei den Männern in Form von Memoiren, sondern eher in Tagebüchern und Briefen. Die Großmutter Hildegard Margis etwa ist politisch aktiv in Frauenverbänden, sie stirbt im Widerstand. Auf sie beruft sich Christina von Braun: Um das feministische Vermächtnis geht es, persönlich wie gesellschaftlich. Denn im 20. Jahrhundert, schreibt von Braun, habe sich „eine geistige Genealogie der Frauen herausgebildet“.

Anders als etwa Annie Ernaux, die in ihren persönlichen Erinnerungen forscht, „um rückblickend die Prozesse ihrer Zeit zu erkennen“, verwebt von Braun eigenes biografisches Erzählen direkt mit sozialen Entwicklungen, „die weit über die Existenz einzelner Frauen hinausgehen“. Von Braun beschreibt ihr Leben als paradigmatisch für die elementaren Veränderungen, die ihre Generation von Frauen im kurzen 20. Jahrhundert erlebte und mitprägte: „Wenn ich meine Geschichte erzähle, berichte ich zugleich von anderen dieser Generation.“

Ja und nein, könnte man sagen. Repräsentativ nämlich ist von Brauns Familiengeschichte gerade nicht – vor allem nicht in Bezug auf Klasse, die eine merkwürdige Leerstelle in der Erzählung hinterlässt. Denn der Habitus, das Kosmopolitische ist von Braun in die Wiege gelegt: Sie wächst im Vatikan, in London und Sankt Peter-Ording auf, mit 18 geht sie zum Studium nach New York. Bald pendelt sie zwischen den USA und Deutschland, später lebt sie zwölf Jahre in Paris, bevor sie sich in Berlin niederlässt.

Schon mit Anfang 20 bewegt sie sich mühelos in der New Yorker Upper Class: „Ich wurde in ein Geschehen geworfen, das aus Empfängen, Abendeinladungen und Bällen bestand.“ Lyndon B. Johnson trifft sie persönlich, genau wie Dalí und den Papst. Zwar hätten sie die Erfahrungen dieser Jahre „von diesem Leben“ kuriert, schreibt sie – doch mitgegeben hat es ihr zweifellos viel. Völlig selbstverständlich bewegt sich von Braun in einer politischen und intellektuellen Elite, ohne offenbar je daran zu zweifeln, diesen Platz auch ausfüllen zu können. Auch persönliche und berufliche Kontakte stellen sich scheinbar wie von selbst her. Ein Leben wie ihres steht wenigen Menschen offen – und es verwundert, dass sie das kaum reflektiert.

Repräsentativ ist von Brauns Familiengeschichte gerade nicht – vor allem nicht in Bezug auf Klasse

Früh beginnt sie, journalistisch zu arbeiten. Die Themen, die sie sich erschließt, sind vielfältig und auch im Rückblick faszinierend, Ausgangspunkt für Recherchen sind oft eigene Erfahrungen – das Hungern etwa, mit dem sie als zeitweilige Internatsschülerin „eine Form von Selbstermächtigung“ erlebte und das sie später thematisierte, indem sie den Hungerstreik als kollektive politische Waffe etwa der Suffragetten untersuchte.

Ab den 1970er Jahren stehen Geschlechterfragen im Zentrum ihrer Arbeiten, die bald vor allem aus Filmen bestehen. Mehr als 50 sind es heute, Dokumentationen, Porträts und filmische Essays auch über Kulturgeschichte, die französisch geprägte Psychoanalyse, Linguistik und Antisemitismusforschung. In Frankreich wie in Deutschland hält sie Kontakt zur feministischen künstlerischen Avantgarde und Bewegung, ein kleiner Seitenhieb auf Alice Schwarzer fehlt nicht: „Alle waren erleichtert, nicht mehr mit (ihr) zu tun zu haben.“ Als Aktivistin jedoch versteht sich von Braun nie – vielmehr als Forscherin, die verstehen will, „wie es überhaupt zu dieser Geschlechterordnung gekommen war und warum sie dabei war, sich aufzulösen“.

Denn das ist, was von Braun, die seit Ende der 80er Jahre an internationalen Universitäten lehrt und 1997 die Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität eröffnet, in einem großen Bogen beschreibt: ihre Selbstwerdung und die kontinuierliche Veränderung des Ichs innerhalb und im Kampf gegen die alte Ordnung. In der neuen ist die Frau nicht mehr das „andere Geschlecht“ wie noch bei Simone de Beauvoir, den Bezug auf das „Eigentliche“ braucht es nicht mehr. Es mag optimistisch sein – doch rückblickend, schreibt von Braun, könnte unser Zeitalter als das in die Geschichte eingehen, „in dem eine Handvoll starker Männer das Unternehmen Patriarchat an die Wand fuhr“.

Christina von Braun: „Geschlecht“. Propyläen Verlag, Berlin 2021, 363 Seiten, 24 Euro