Polarisierung in der Corona-Debatte: Moralische Tabuzone

Nach Migration und Klima wird nun die Debatte über Corona polarisiert – gefährlich für die Demokratie und schädlich für zugewanderte Covidpatienten.

Intensivpfleger versorgen einen Covid-19-Patienten

Mi­gran­t*in­nen sind überdurchschnittlich von schweren Covid-19-Verläufen betroffen Foto: Tobias Wuntke/Universitätsklinikum Tübingen/dpa

Bei den Themen Migration, Islam, Klima und nun auch bei Corona fällt eines auf: Vereinfachung und Lagerbildung. Alles oder nichts, schwarz oder weiß, moralisch gegen unmoralisch, gut gegen böse. Exklusivitätsanspruch auf allen Seiten statt Austausch von Argumenten und Offenheit. Verständnis für Komplexität und Ungewissheit sucht man vergeblich auf Twitter und anderen sozialen Medien, unter Journalisten und mittlerweile sogar auch in Freundeskreisen. Für eine Demokratie ist das eine gefährliche Tendenz. Wenn fanatische Stimmen die Deutungshoheit über die wichtigsten Debatten gewinnen, verliert die gesamte Gesellschaft.

Wie weit das reicht, zeigt sich am Beispiel der Debatte über die hohen Zahlen von an Covid-19 erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund auf den Intensivstationen. Laut Bild hat der Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, die Berichterstattung über die hohen Zahlen an schwer erkrankten Patienten mit Migrationshintergrund tabuisiert – aus Angst vor Rassismus.

Darauf angesprochen sagte er, diese Informationen bezögen sich auf einen informellen Austausch mit Chefärzten dreier Kliniken, allgemein lägen solche Daten aus Datenschutzgründen nicht vor. Man merkte ihm sein Unbehagen an. Die Quelle des Unbehagens blieb nicht lange verborgen. Der türkisch-islamische Verband Ditib erhob am nächsten Tag schwere Vorwürfe. Es sei „unredlich und unprofessionell“, die Verantwortung für die Pandemie bei Minderheiten zu suchen. Das ist das typische Muster: Kläger, selbsternannte Opfer und Vogel-Strauß-Politik.

Keine Frage, es ist nicht einfach, über solche Themen zu sprechen, ohne dass Rassisten die Argumente kapern. Jedoch gehört zur Wahrheit auch, dass die AfD trotzdem wenige Tage später das Thema für sich entdeckte. Auf Twitter versuchte die AfD-Bundestagsfraktion die hohen Patientenzahlen mit Migrationshintergrund als Beweis dafür anzuführen, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei. In Bayern hat die AfD bei Kliniken angefragt, wie viele ihrer Coronapatienten einen Migrationshintergrund hätten, um das Ergebnis als Beweis anzuführen, dass Migranten Pandemietreiber seien.

Bestätigung der eigenen Ideologie

Migrationsforscher, Journalisten und Politiker suchten nach Erklärungen, oder besser gesagt, nach einer politisch korrekten Erklärung. Angeführt wurden die sozioökonomische Situation, Sprachbarrieren, beengte Wohnungen. Aspekte wie die engen Familienstrukturen, die in normalen Zeiten Rückhalt geben, sich nun aber zum Nachteil entwickeln können, wurden nicht beleuchtet. Natürlich kann man hier nicht verallgemeinern, allerdings mehren sich Berichte aus Krankenhäusern, die dramatischer nicht sein könnten. Auch in Israel war beispielsweise während der Pandemie deutlich zu beobachten, dass die Hälfte der schwersterkrankten Covid-19-Patienten arabischer Herkunft waren, obwohl nur etwa 20 Prozent der Israelis arabisch sind.

Ebenso zeigen sich statistisch relevante Unterschiede in Bezug auf Vorerkrankungen wie Diabetes und Adipositas, die bei bestimmten Communitys öfter auftreten, aufgrund ihres Essverhaltens und bewegungsarmen Lebensstils. Viele gehen auch selten zum Arzt, sodass Vorerkrankungen unentdeckt bleiben. Auch das Verhältnis zum Staat ist bei Menschen aus autoritären Staaten anders und meist von Misstrauen geprägt. Man erreicht sie schwerer, und das hat in Zeiten der Pandemie schlimme Folgen. Doch genau solche Überlegungen sind kaum zu lesen. Warum?

Es geht offenbar nicht darum, diese Menschen zu schützen, sondern nur um die Bestätigung der eigenen Ideologie, um moralische Überlegenheit und obsessiv eingeforderte politische Korrektheit. Es ist eine elitäre Debatte mit dem Ziel, aus der eigenen Blase Applaus zu bekommen. Geopfert werden hier wissenschaftliche und journalistische Standards. Dabei könnte eine sachliche und tabufreie Analyse zu Erkenntnissen führen, die Menschenleben rettet. Ein Paradox, wenn man bedenkt, dass diejenigen, die den Anspruch haben, solche Communitys vor Rassismus zu schützen, aus Angst vor Rassismus in Kauf nehmen, dass genau diese Menschen mehr Leid erfahren.

Während Coronaleugner und Impfgegner die Pandemie am liebsten per Dekret für beendet erklären würden, ruft die NoCovid-Gemeinde nach einem immer härteren Lockdown. Leben retten ist ihr Motto, und wer wollte da widersprechen? Aber auch wenn ihre Ziele vernünftig und nachvollziehbar sind, nimmt die Absolutheit der Argumentation ähnlich religiöse Züge an wie die der Coronaverharmoser und -leugner.

Dazwischen liegt ein Minenfeld der moralischen Verwerflichkeit. Die Tatsache, dass wir uns bereits seit Ende November im Lockdown befinden, dass Kinder und Jugendliche mittlerweile seit Monaten nicht in der Schule waren und kaum soziale Kontakte haben, interessiert die NoCovid-Gemeinde nicht. Es wird absolut gedacht, die reine Erwähnung von psychischen Folgen der Schulschließung versteht diese Gruppe als Angriff. Schnell werden kritische Stimmen zu Coronaleugnern, Empathielosen und sogar Mördern abgestempelt. Darunter leiden der Austausch von Argumenten und die Offenheit für neue Denkanstöße.

Fanatiker und Radikale dürfen die Debatte nicht bestimmen

Zuletzt fielen Künstler dieser Debattenkultur zum Opfer. Unter dem Motto #allesdichtmachen versuchten sie auf satirische Weise, die „Notbremse“ zu kritisieren. Von den einen wurden sie dafür gefeiert, von den anderen jedoch an den Pranger gestellt. Die Kritik sei respektlos gegenüber den Coronatoten und bestätige lediglich Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner.

Fanatiker und Radikale dürfen die Debatte nicht bestimmen. Jegliche Kritik zu delegitimieren, weil sie Zustimmung von den Falschen bekommt, ist kein Argument. Die daraus resultierende Sprachlosigkeit ist die beste Voraussetzung für Radikale, Themen exklusiv für sich zu beanspruchen.

Debattieren, streiten, unterschiedliche und sehr verschiedene Meinungen zulassen – all dies bildet das Fundament einer Demokratie. Getragen werden muss es von den Medien, den Politikern, von uns allen. Statt einer moralisch fixierten Haltungselite, die am Leben und Alltag der meisten Menschen vorbeiredet, und auf einer unflektierten politischen Korrektheit beharrt, die Richtung der Diskurse zu überlassen, sollten wir alle wieder Freude daran entwickeln, uns in Frage zu stellen. Offene Debatten sind nicht die Vorstufe zu Rassismus oder gesellschaftlichem Zerfall. Sie helfen zu klären, Unterschiede und Widersprüche auszuhalten, Ängste abzubauen und sich mit Argumenten einen Schlagabtausch zu liefern. Das geht nur in einer offenen Gesellschaft.

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44, ist deutsch-israelischer Diplompsychologe und Autor aus Berlin. 2018 gründeten Mansour MIND prevention (Mansour-Initiative für Demo­kratieförderung und Extremismusprävention), die Workshops zur Extremismusprävention durchführt. Dabei arbeitet er mit Insassen von Justizvollzugsanstalten und mit Geflüchteten. Im Oktober 2020 erschien sein Buch „Solidarisch sein gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass“ in S. Fischer Verlag.

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