Reproduktive Rechte und Feminismus: Von Männern, Frauen und Menschen
Manche Menschen können schwanger werden, andere nicht. Lässt sich das nur mit den Kategorien „Mann“ und „Frau“ erklären?
Welche Rechte haben Menschen, die schwanger werden? Können sie abtreiben, wenn sie das möchten? Und wenn nicht, bekommen sie Geld und Unterstützung? Von wem und wie viel? Verlieren sie aufgrund ihrer Schwangerschaft Möglichkeiten, werden sie stigmatisiert? Können andere gegen ihren Willen über das von ihnen geborene Kind verfügen?
Empfohlener externer Inhalt
Reproduktive Gerechtigkeit ist viel mehr als nur die Möglichkeit zur Abtreibung. Es geht um die Frage, wie wir gerechte Verhältnisse schaffen, wenn der entscheidende Maßstab für Gerechtigkeit, nämlich Gleichheit, nicht gegeben ist. Menschen ohne Uterus haben leicht reden, wenn sie ein Verbot der Abtreibung fordern – sie können nicht ungewollt schwanger werden. Menschen mit Uterus haben wiederum leicht reden, wenn sie Leihmutterschaft verbieten wollen, sie können ihre Kinder ja selbst zur Welt bringen.
Es ist nicht möglich, reproduktive Gerechtigkeit herzustellen, indem man „alle Menschen gleichbehandelt“, wie wir es normalerweise gewohnt sind. Denn im Hinblick auf ihre reproduktiven Fähigkeiten sind die Menschen nun mal nicht gleich.
Patriarchale Gesellschaften lösen dieses Problem bekanntlich über das Konzept Geschlecht: Neugeborene, von denen man aufgrund ihrer Genitalien annehmen kann, dass sie später einmal schwanger werden können, werden in eine eigene Kategorie namens „Frau“ gesteckt, für die die Rechte der normalen Menschen alias „Mann“ (in vielen Sprachen dasselbe Wort) nicht gelten. Auf diese Weise haben Menschen ohne Uterus über Jahrtausende die Schwangerschaften anderer kontrolliert und reglementiert.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Keine Rückschlüsse auf den Körper
Dank des Feminismus gehen diese Zeiten zu Ende. Die „Frauen“ haben sich organisiert, gegen ihre Diskriminierung gekämpft, sich Zugang zu materiellen Ressourcen und Einflussmöglichkeiten erstritten. Heute stellt sich nun die Frage, ob konsequenterweise nicht auch die Zuordnung von Geschlecht und Biologie selbst aufgelöst werden muss.
Darüber sind Feminist:innen derzeit allerdings heillos zerstritten. Die einen gehen davon aus, dass jede Kategorisierung von Menschen aufgrund der reproduktiven Differenz inhärent herrschaftsförmig ist. Sie fordern, Männlichkeit, Weiblichkeit sowie andere geschlechtliche Identitäten als Selbstbezeichnungen zu verstehen, die keinerlei Rückschlüsse auf den Körper der betreffenden Person zulassen. Andere hingegen sind überzeugt, dass ein an die Gebärfähigkeit gebundenes politisches Subjekt namens „Frau“ weiterhin notwendig ist, um die Freiheit von Menschen, die schwanger werden können, zu erkämpfen beziehungsweise zu erhalten.
Tatsächlich ist die Zuordnung von reproduktiver Differenz (kann schwanger werden oder nicht) zur Geschlechterdifferenz (weiblich, männlich, nicht binär) uneindeutig. Auch viele „Frauen“ können ja nicht schwanger werden, wobei das Schwangerwerdenkönnen prinzipiell immer eine Potenzialität ist: Nicht alle Frauen haben einen Uterus, nicht alle Personen mit Uterus können schwanger werden, nicht alle Personen, die schwanger werden können, werden es auch, nicht alle Personen, die schwanger werden, führen die Schwangerschaft auch zu Ende.
Eine neue symbolische Ordnung
Der Verweis auf die Uneindeutigkeit von Biologie ist aber ein schwaches Argument gegen binäre Geschlechterkonzepte. Selbst wenn man nämlich die Kriterien für „korrekte“ Chromosomen, Genitalien und Hormone äußerst streng definiert, fallen immer noch über 98 Prozent aller Neugeborenen exakt in eine von zwei reproduktiven Varianten. Biologische Intersexualität existiert natürlich, aber sie ist nicht der Grund, warum die traditionelle Geschlechterordnung hinterfragt wird. Die allermeisten Menschen, die sich als trans und/oder nicht binär verstehen, tun das, obwohl ihre Körper in reproduktiver Hinsicht vollkommen eindeutig sind.
Eine neue symbolische Ordnung der Geschlechterdifferenzen ist vielmehr notwendig geworden, weil die traditionelle patriarchale Ordnung ihre Legitimität verloren hat. Wenn Frauen individuelle Rechte haben, homosexuelle Paare Familien gründen, In-Vitro-Fertilisation Schwangerschaften ohne Sex ermöglicht und Kinder drei biologische Elternteile haben können, muss zwangsläufig genauer hingeschaut werden: Wovon ist in einem bestimmten Kontext die Rede? Geht es um Frauen? Geht es um Menschen, die schwanger werden können/wollen/waren? Geht es um Menschen, die menstruieren? Geht es um Feminist:innen, also um Menschen, die patriarchale Strukturen bekämpfen? Geht es um „FLINTs“, um Frauen-Lesben-Inter-Nonbinäre-Trans-Personen, also um Menschen, die etwas anderes als traditionelle cis Männlichkeit verkörpern?
Es ist sinnlos, sich darüber zu streiten, welcher dieser Begriffe besser oder schlechter ist, denn die Frage ist: Worüber will ich sprechen und welcher Begriff ist in diesem Kontext der zutreffende? Dass die Begriffe sich vervielfältigen, mit denen wir über das Themenfeld Gender, Geschlechterverhältnisse und Reproduktion sprechen, zerstört nicht etwa das politische Subjekt „Frauen“, wie manche befürchten. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Zeichen dafür, dass die Themen, die Feminist:innen am Herzen liegen, in der politischen Debatte inzwischen einen Grad an Komplexität erreicht haben, der ein differenzierteres Vokabular erfordert als das klassische „Frau-Mann“-Schema, in das die Realität früher gepresst wurde.
Auf eine Frage zuspitzen
„Feminism is the radical notion that women are people“, heißt ein beliebter feministischer Spruch, und das gilt eben – trotz aller biologischen Unterschiede – auch für die Reproduktion: Dass Frauen schwanger werden können, heißt nichts anderes, als dass Menschen schwanger werden können, wenn auch nicht alle.
Erst wenn wir das verstanden haben, können wir reproduktive Gerechtigkeit neu definieren. Indem wir sie dann nämlich auf die Frage zuspitzen, ob die Verhältnisse so sind, dass ein gutes Leben auch für Menschen garantiert ist, die schwanger werden. Denn eine biologische Wahrheit ist ganz unabhängig von sozialen und politischen Veränderungen sicher: Wir alle verdanken unsere Existenz der Tatsache, dass eine andere Person den Embryo, aus dem wir entstanden sind, viele Monate lang in ihrem Uterus zur Reife gebracht hat. Und das ist keine Marginalie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient