Arabischer Frühling und Feminismus: Eine sexuelle Revolution

Der Arabische Frühling hat einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel angestoßen, eine Demokratisierung von unten. Die braucht allerdings noch Zeit.

Tunesierinnen von EnaZeda bei einer Demonstration in Tunis

Tunesierinnen von EnaZeda demonstrieren in Tunis im November vergangenen Jahres Foto: Mohammed Hammi/sima/action press

BERLIN taz | Das Islamische Gelehrtengremium der Al-Azhar-Universität in Kairo kündigte im Juli 2020 eine außergewöhnliche Kampagne an: Prediger*innen sollten künftig die sexuelle Belästigung von Frauen als unmoralisch verurteilen – unabhängig davon, wie eine Frau gekleidet sei.

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Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit und markiert einen gravierenden Wandel im sunnitischen Religionsdiskurs. Seit dem Aufstieg des Islamismus in den achtziger Jahren ist Tugendhaftigkeit eng verbunden mit dem Kopftuch. Frauen, die keines tragen, gelten als Ursache von sexueller Belästigung.

Die Al-Azhar, die wichtigste Institution im sunnitischen Islam, findet Gehör in der muslimischen Welt. Was ihre Gelehrten sagen, hat Pflichtcharakter für viele Muslim*innen weltweit. Sie betrachtet jetzt sexuelle Belästigung als aggressiven Akt betrachtet und verharmlost sie nicht mehr als sexuell motivierte Tat. Das ist der Zusammenarbeit mit weltlichen sowie mit islamisch-feministischen Gruppen geschuldet.

Der Schritt folgt einer Sensibilisierung der Bevölkerungen sowie einer neuen Gesetzgebung in vielen arabischen Ländern, die Gefängnisstrafen für sexuelle Belästigung vorsehen, was sich unter anderem die arabische MeToo-Bewegung auf die Rechnung schreiben kann. Der ägyptische Nationalrat für Frauen bedankte sich denn auch öffentlich bei der Al-Azhar für die Unterstützung.

Unterstützung von „männlichen Feministen“

Das Beispiel macht Hoffnung. Zwar hat eine Demokratisierung in den meisten post-revolutionären arabischen Staaten auf der Ebene des politischen Systems nicht stattgefunden. Wer aber den Blick auf die „Politik von unten“ richtet, stellt fest: Auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft – von der Familie über den Arbeitsplatz bis hin zu staatlichen Ämtern – ist eine Demokratisierung angestoßen worden. Dieser kulturelle und soziale Wertewandel ist eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft der arabischen Revolution. Er führt die Gesellschaften nachhaltig in Richtung mehr Demokratie und Freiheit.

Zwei Indizien weisen auf einen solchen Wandel hin: Erstens findet eine sexuelle Revolution statt, die sich der Vorreiterschaft der Frauen- und der Jugendbewegung verdankt. Unterstützt wird die arabische feministische Bewegung mittlerweile von ‚männlichen Feministen‘. In den aktuellen Umbrüchen sehen diese Aktivist*innen Chancen für eine Befreiung der traditionellen Rolle der Männer als Ernährer und emotionsloses Familienoberhaupt, was den Boden bereitet für mehr Macht- und Ressourcenverteilung sowie für mehr Gleichberechtigung.

Auch wenn diese Aktivist*innen weitgehend fromme Muslim*innen und Christ*innen sind, befürworten sie doch einen weltlichen demokratischen Staat und stützen sich dabei auf die Leitideen der Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts.

Seit den Umbrüchen von 2011 sind in Ländern wie Ägypten, Tunesien, Libyen oder Irak verstärkt kulturelle, soziale und künstlerische Initiativen entstanden, die religiöse oder gesellschaftliche Tabus brechen, Sexualnormen hinterfragen und alternative Lebensmodelle anbieten. Sie kämpfen für mehr Repräsentation von Frauen in der Politik, für sexuelle Selbstbestimmung, für die Ächtung von Gewalt gegen Frauen und Männer und fordern Strafen für Belästigung. Die Zahl der Frauen, die allein leben, allein Kinder erziehen und ins Ausland reisen, oder Männer, die ihre Haare wachsen lassen sowie öffentlich über ihre Verletzlichkeit oder Homosexualität sprechen, ist enorm gestiegen.

Neue Verfassungen und Reform islamischen Familienrechts

Die angestoßenen Debatten zeigen Wirkung auch über die revolutionären Staaten hinaus: Die Repräsentation von Frauen in den Parlamenten arabischer Ländern ist zwischen 2005 und 2019 von 7 auf 19 Prozent gestiegen. In Tunesien ist sie von 12 auf 24,9 Prozent, im Sudan von 9 auf 24 Prozent, im Irak von 10,8 auf 26,4 Prozent, in Libyen von 2 auf 16 Prozent und in Ägypten von 2 auf 15 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: Weltweit liegt der Anteil der Frauen in Parlamenten bei 25 Prozent.

Auch die neuen Verfassungen von 2014 in Ägypten und Tunesien zeigen einen Wandel, gewähren sie Frauen doch erstmals weitgehend rechtliche Gleichberechtigung. In Marokko ist 2016 das islamische Familienrecht dahingehend reformiert worden, dass beide Eheleute gleiche Rechte und die gleiche Verantwortung haben.

In Jordanien, im Jemen und im Libanon gelten seit 2016 Gesetze, die harte Gefängnisstrafen vorsehen für sogenannte Ehrenmorde sowie für Vergewaltigung. Selbst in Saudi-Arabien sind Reformen im Gange, die Frauen mehr Rechte gewähren.

Zweites Indiz für einen Wertewandel ist die steigende Säkularisierung der arabischen Gesellschaften: Christliche Kirchen und islamische Institutionen, die sich in vielen Fällen an die Seite der autoritären Kräfte gestellt haben, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Auch der politische Islam ist in großen Teilen der Bevölkerung in Misskredit geraten. Die Grausamkeiten des IS in Irak und Syrien und islamistische Anschläge haben bei den meisten Muslim*innen zu großem Erschrecken geführt.

Gewaltverherrlichung aus Büchern gestrichen

Auch die nichtmilitante Muslimbruderschaft hat in ihrer kurzen Regierungszeit in Ägypten (Januar 2012 bis Juli 2013) bewiesen, dass ihr Slogan Islam ist die Lösung eine leere Formel ist. Ihre Drohung mit einem Bürgerkrieg, ihr Versprechen, ägyptische Märtyrer in den Syrienkrieg zu schicken oder ihre Ablehnung der UN-Frauenrechtskonventionen haben zu breiter Ablehnung seitens der Bevölkerung geführt. Ähnliches lässt sich in Tunesien beobachten, wo die Islamisten vergeblich versucht haben, die Polygamie wieder einzuführen.

Zugleich gibt es sowohl staatlichen als auch gesellschaftlichen Druck auf religiöse Bildungsinstitutionen, ihre Curricula von extremistischen Gedanken zu reinigen und für Toleranz und Pluralismus zu werben. Die Al-Azhar etwa hat viele Passagen aus Büchern gestrichen, die Gewalt im Namen der Religion verherrlichten. Intellektuelle rufen zu einer klaren Trennung von Religion und Staat auf und finden im TV sowie auf sozialen Medien reichlich Gehör.

Die Araber*innen werden ihr Ziel hoffentlich erreichen, aber – das haben die letzten zehn Jahre gezeigt – auch nicht von heute auf morgen. Noch ist die Revolution ganz am Anfang.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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