piwik no script img

Debatte um Grundrechte in BerlinRot-Rot-Grün demonstriert gegen Senat

Der Rechtsausschuss stimmt für ein uneingeschränktes Versammlungsrecht. Die Koalition kritisiert in der Debatte den eigenen Senat scharf.

Absurdistan auf dem Alexanderplatz: Protest am Samstag gegen Aluhüte Foto: reuters

Berlin taz | Opposition zu sein ist auch mal ganz schön – das war zumindest der Eindruck, den die VertreterInnen der Regierungsfraktionen SPD, Linke und Grüne in der Sitzung des Rechtsausschusses am Montagnachmittag vermittelten. Sie äußerten scharfe, geradezu schärfste Kritik am Senat insgesamt, an SPD-Innensenator Andreas Geisel und auch am Verhalten der Berliner Polizei. Es ging um die korrekte Übermittlung von Unterlagen, die Demonstrationen vom Samstag und die Versammlungsfreiheit.

Auf der Tagesordnung stand vor allem deren gänzliche Wiederherstellung sowie die Freiheit der Religionsausübung. Bei Ersterer gilt derzeit, dass Versammlungen nur bis zu einer Obergrenze von 50 Menschen erlaubt sind; ab 25. Mai dürfen es 100 sein. Demonstrationen sind verboten.

Diese Grenze sei „völlig willkürlich“, sagte der Abgeordnete Sebastian Schlüsselburg (Linke). Faktisch sei angesichts der Auflagen das Grundrecht in erheblicher Weise eingeschränkt, erklärte Sven Kohlmeier (SPD). Beide verwiesen als Beispiel auf die Versammlungen am Samstag, sowohl von Anhängern von Verschwörungsideologien als auch von deren Gegnern.

Dabei sei es am Alexanderplatz und rund um dem Rosa-Luxemburg-Platz zu absurden Szenen gekommen, so Kohlmeier. Während in den Schlangen vor den Geschäften oft kein Abstand eingehalten wurde, habe die Polizei unmittelbar daneben deswegen Teilnehmer von Protesten ausgeschlossen und teilweise abgeführt. „Das Grundrecht auf Konsum hatte mehr Gewicht als das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit“, kritisierte Schlüsselburg. Und Kohlmeier betonte in Richtung Innensenator: „Demokratie lebt von Meinungsfreiheit und vom Versammlungsrecht.“

Das Grundrecht auf Konsum hatte mehr Gewicht als das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit

Sebastian Schlüsselburg, Linke

Nur mit Hygienekonzept

Rot-Rot-Grün im Ausschuss forderte deswegen die Aufhebung aller Einschränkungen auf Versammlungsfreiheit in den Coronaverordnungen; die Anmelder eines Protests müssten allerdings ein Hygienekonzept vorlegen und dafür sorgen, dass Abstandsregeln eingehalten werden. Auch die Ausübung der Religion müsse wieder uneingeschränkt möglich sein, unter Beachtung der Abstandsregeln, heißt es in dem Antrag. Er wurde einstimmig von allen Fraktionen angenommen.

Er hoffe, dass der Senat am Dienstag diese Entscheidung als „politisches Votum“ erkennt, sagte Kohlmeier und fügte hinzu: „Die Zeit der Exekutive ist vorbei, der Parlament ist der Gesetzgeber.“

Ob der Senat das auch so wahrnimmt? Innenstaatssekretär Christian Gaebler (SPD) sprach im Ausschuss von einem „Zielkonflikt“ zwischen Grundrechten und Pandemiebekämpfung. Es sei schwierig, große Versammlungen zu kontrollieren, die sich nicht einem Hygienekonzept unterwerfen wollten.

Und wo ist die Kundgebung? Heiteres Durcheinander am Samstag auf dem Alex Foto: dpa

Vielleicht war Gaebler sauer, weil auch er aus der eigenen Partei hart angegangen worden war. „Es ist eine Sauerei, wie der Senat mit dem Parlament umgeht“, hatte Kohlmeier erklärt. Der Grund: Schon vergangenen Mittwoch hatte der Ausschuss über die Versammlungsfreiheit diskutieren wollen. Doch aus formalen Gründen wurde er daran gehindert: Der Senat hatte die Verordnung zu spät übermittelt. Gaebler, zerknirscht: „Den Weg, den die Verfassung vorgibt, werden wir in Zukunft auch sicherstellen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Der Umgang des Staates mit den Rechten seiner Bürger in Zeiten der Pandemie ist sehr aufschlussreich.



    Am 14. Mai wurde in Bezug auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Bürger gegen den ausdrücklichen Protest des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber die staatliche Begründungspflicht für Grundrechtseingriffe faktisch ausgesetzt.



    Ohne eine rechtsstaatlichen Prinzipien genügende Begründung beschloss der Bundestag mit dem zweiten Pandemieschutzgesetz, dass künftig u.a. bundesweit personenbezogene Daten von nicht infizierten Bürgern nach erfolgter negativer Testung (SARS-CoV und SARS-CoV-2) staatlich erfasst und an das Gesundheitsminister Spahn unterstellte Robert-Koch-Institut weitergeleitet werden müssen (Spahn will auch Daten von Nicht-Infizierten).

    Für die Aufklärung muss jetzt ein anderer Kontrollmechanismus des Rechtsstaates funktionieren, nämlich die Kontrolle durch die Medien.

  • 9G
    97663 (Profil gelöscht)

    Während man die Baumärkte wieder öffnet, bleiben unter R2G die Grundrechte massiv eingeschränkt. Das ist unerträglich. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für fortbestehende Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, nur Vorwände. Und das durch eine angeblich fortschrittliche Regierung. Notverordnungen, entmachtete Parlamente, die „bitten und appellieren“, Bürger, die verhaftet werden, weil sie ihre Grundrechte wahrnehmen. Eine Schande!

    • @97663 (Profil gelöscht):

      ???



      Die Baumärkte waren in Berlin die ganze Zeit offen.

      War ja auch sinnvoll. Wenn die Heizung ausfällt oder das Bett zusammenbricht, sollte man die Möglichkeit haben, sie reparieren zu können.

  • "Es sei schwierig, große Versammlungen zu kontrollieren, die sich nicht einem Hygienekonzept unterwerfen wollten."

    Wenn Christian Gaebler von einem 'Zielkonflikt' sprich, so hat er recht. Und die Taz-Autoren sollten sich ihrer Verantwortung bewußt sein, die sie als Multiplikatoren haben, wenn sie in ihren Texten die Risiken von Massendemonstrationen ausblenden.

    Guter Journalismus sollte eine kritische Distanz zum Lockerungs-Überbietungswettbewerb der Parteien haben. Die Pandemie ist nicht vorbei! Und es genügt auch nicht, die 2 Worte "1,50m" und "Hygienekonzept" zur eigenen Entlastung irgendwo im Text fallen zu lassen.

    Wer an die 1,50 m Sicherheitsabstandes bei Großdemonstrationen glaubt, der hat gute Chancen, seelig zu werden. Wie war das noch mit den Corona-Parties am 1. Mai in Kreuzberg? Long ago. Kritischer Journalismus hätte klarzustellen, daß diese sog. Hygienekonzepte unrealistisch sind, und sei es auch nur wegen der unvermeidlichen Zuschauer und Gaffer, die am Straßenrand eng an eng stehen, wie am letzten Wochenende.

    Der Senat sollte sich nicht unter Druck setzen lassen, er sollte seine Entscheidungen nach der aktuellen Risikobewertung treffen - und anvisiert war Juni. Wir dürfen unsere bisherigen (teuer erkauften) Erfolge in der Bekämpfung der Pandemiebe nicht leichtfertig auf Spiel setzen, weil die Parteien mit (riskanten) Versprechungen in bestimmten Milieus punkten wollen.

    "Dr. Hans Kluge (WHO) warnt, dass es in Europa zu einer zweiten, tödlichen Coronavirus-Welle kommen könnte. (…) Er mahnte, die Europäer stünden an einer Weggabelung, es liege in der Verantwortung der Einzelnen und der Gemeinschaften, wie es weitergeht, also ob Covid-19 beschränkt werden könne oder ob die Staaten erneut Lockdowns verhängen müssen. Dem Telegraph sagte er, es sei jetzt nicht die Zeit für Feste, sondern der Vorbereitungen, die Pandemie sei nicht vorbei."

    www.heise.de/tp/fe...om.beitrag.beitrag

    • @Weber:

      Das Thema Ihres Kommentars ist nicht das Thema des Artikels.

      Außerdem klingt in dem Artikel schon deutlich an, das die Kritik sich vor allem auf die Willkür bei den Lockerungen bezieht.



      Und darauf , das sich die Exekutive keine Mühe macht, die Wahrung der Grund(!)rechte verhältnismäßig sicherzustellen.



      Da ist immer noch zu viel Willkür und die Exekutive ignoriert immer noch die Volksvertreter.

      Ich finde, das ist schon viel Inhalt für einen so kurzen Artikel.

  • Endlich tut sich was vernünftiges!