Ex-Sozialrichter über Ungleichheit: „Unser Sozialsystem ist ungerecht“

Eltern fordern einen Freibetrag für Sozialabgaben. Jürgen Borchert erklärt im Interview, warum das alle Menschen in Deutschland interessieren sollte.

Ein als Spiderman verkleidetes Kind hängt kopfüber vom Arm eines Elternteils.

Verkehrte Welt: „Je mehr jemand verdient, desto geringer ist die Beitragslast Foto: Dalia Baum/plainpicture

taz: Herr Borchert, Sie unterstützen Eltern, die einen Freibetrag bei den Sozialbeiträgen fordern. Das Bundesverfassungsgericht wird sich demnächst mit der Klage dazu befassen. Warum ist dieses Verfahren auch für Kinderlose interessant?

Jürgen Borchert: Es geht um den Skandal, dass der deutsche Sozialstaat von unten nach oben umverteilt. Die Reichen werden geschont, während die normalen Arbeitnehmer enorm belastet werden. Diese Verteilungsfehler verschärfen sich bei den Familien.

Wieso?

ist pensionierter Sozialrichter. Von ihm stammt das Buch „Sozialstaatsdämmerung“ (2014)

Eigentlich ist festgelegt, dass es ein Existenzminimum gibt, das nicht durch Abzüge belastet werden darf. Bei den Einkommenssteuern gibt es deswegen Freibeträge, die pro Jahr für einen Erwachsenen 9.408 Euro und für ein Kind 7.812 Euro betragen. Für eine vierköpfige Familie beläuft sich dieses steuerliche Existenzminimum also auf 34.440 Euro im Jahr. Bei den Sozialbeiträgen gibt es aber keine Freibeträge. Schon der erste Euro wird belastet. Ergebnis: Eine vierköpfige Familie mit einem Jahreseinkommen von 35.000 Euro brutto kommt nur auf 31.203 Euro netto – und da ist das Kindergeld schon eingerechnet. Die Familie hat also 3.237 Euro weniger, als ihr eigentlich zusteht, wenn man das Existenzminimum ernst nimmt.

Aber wenn Eltern entlastet werden, müssen Kinderlose höhere Beiträge zahlen. Dies wird häufig als „Bestrafung Kinderloser“ gegeißelt.

Nein. Das Ziel ist, die Ungerechtigkeiten bei den Sozialabgaben zu beheben.

Welche sind das?

Unser Sozialsystem ist gleich aus fünf Gründen ungerecht. Erstens: Nur Arbeitnehmer müssen Sozialabgaben zahlen. Gut verdienende Selbstständige, Beamte, Richter und Abgeordnete bleiben verschont. Zweitens ist die Beitragslast von knapp 40 Prozent enorm und treibt einen brutalen Keil zwischen Brutto- und Nettolohn. Drittens muss man selbst für das Existenzminimum Sozialabgaben zahlen.

Viertens ist der Beitragssatz immer gleich hoch, egal ob man 1.000 oder 5.000 Euro verdient. Und fünftens gibt es die Beitragsbemessungsgrenze. Wer mindestens 6.900 Euro im Monat verdient, muss für jeden zusätzlichen Euro nichts mehr in die Sozialkassen einzahlen. Je mehr jemand verdient, desto geringer ist die Beitragslast.

Das Grundgesetz postuliert in Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Eigentlich müsste es doch verfassungswidrig sein, dass Arbeitnehmer deutlich mehr zahlen müssen als andere Bevölkerungsgruppen.

Das stimmt. Aber nur theoretisch. Das Gleichheitsprinzip ist wie ein Messer ohne Heft und Schneide, weil es einen großen Ermessensspielraum für den Gesetzgeber gibt. Artikel 3 wird erst scharf gestellt, wenn man ihn mit Artikel 6 kombiniert, in dem es heißt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“

Der Wortlaut macht klar, dass Familien nicht benachteiligt werden dürfen. Dies passiert aber gerade. Seit 1964 ist die Kinderarmut um das 16fache gestiegen – obwohl sich die Geburtenzahlen halbierten. Heute wächst jedes vierte Kind in Armut auf. Die Hauptursache ist die Verdoppelung der Sozialbeiträge. Das Bundesverfassungsgericht muss ein Machtwort sprechen.

Wann rechnen Sie mit einem Urteil?

Bis zum 16. März 2020 hatten Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, die Länder, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Wirtschaftsinstitute und Verbände Zeit, ihre Stellungnahmen einzureichen. Mit einem Urteil rechne ich ab Frühjahr 2021.

Falls das Bundesverfassungsgericht beschließt, dass das jetzige Sozialsystem mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist – was passiert dann?

Es würde die Chance bestehen, eine BürgerFAIRversicherung einzuführen. Millionäre, Selbstständige, Beamte und Angestellte würden alle in die gleiche Kasse einzahlen – und zwar progressiv nach ihrem jeweiligen Einkommen. Gleichzeitig würden die Leistungen nach Bedarf verteilt. Genau das macht einen funktionierenden Sozialstaat aus, ohne den es keine lebensfähige Demokratie geben kann.

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