: „Wer kann, sollte mitmachen“
Seit fast zwei Jahrzehnten steht Frank Bsirske an der Spitze der Gewerkschaft Verdi. Jetzt tritt er ab, zieht Bilanz – und ruft dazu auf, Fridays for Future zu unterstützen
Interview Anja Krüger und Pascal Beucker
taz: Herr Bsirske, was machen Sie am 20. September, dem Klimastreiktag?
Frank Bsirske: Ich habe eine Aufsichtsratssitzung. Sowie die vorbei ist, folge ich dem Aufruf von Fridays for Future und gehe demonstrieren.
Ihre Unterstützung für Fridays for Future überrascht etwas. Schließlich galt Verdi bisher nicht gerade als Speerspitze der Ökobewegung.
Ich denke, dass sich mit Fridays for Future eine wirklich beeindruckende neue Jugendbewegung auf den Weg gemacht hat. Zu Recht fordern die jungen Menschen ein, dass gegen den menschheitsbedrohenden Klimawandel energischer gehandelt wird, als das bislang der Fall ist.
Verdi organisiert die Beschäftigen in den Kohlekraftwerken, die um ihre Arbeitsplätze bangen. Sehen Sie da keinen Zielkonflikt?
Es stimmt, wir organisieren die Kolleginnen und Kollegen in den Kraftwerken, sowohl im Bereich der Steinkohle- wie der Braunkohleverstromung. Zugleich haben wir bereits auf dem Bundeskongress 2015 beschlossen, möglichst schnell aus der Kohleverstromung auszusteigen. Das ist unsere gemeinsame Beschlusslage. Elementare Voraussetzung, um einen beschleunigten Ausstieg gesellschaftlich bewältigen zu können, ist aber, dass er sozial verträglich erfolgen muss. Die Kolleginnen und Kollegen in den Kraftwerken, aber auch im Tagebau müssen davor geschützt werden, arbeitslos zu werden und ins Bergfreie zu fallen. Da sind wir bei der Frage, wie der Strukturwandel gestaltet wird. Die Kohlekommission hat dazu eine gute Vorlage gegeben. Jetzt wird es darauf ankommen dafür zu sorgen, dass die Bundesregierung ihr eins zu eins folgt.
Im Gegensatz zur Kohlekommission fordert Fridays for Future allerdings den Kohleausstieg nicht erst 2038, sondern schon 2030. Gehen Sie da mit?
Aus meiner Sicht ist es absolut gerechtfertigt, Fridays for Future gewerkschaftlich zu unterstützen – und zwar auch dann, wenn man sich jetzt nicht mit jeder einzelnen Forderung, die dort diskutiert wird, identifizieren kann. Aber die Hauptrichtung stimmt. Druck auf die Politik zu machen, mehr zu tun: bei Gebäuden, Verkehr und Landwirtschaft. Der Energiebereich ist ja bisher der einzige, der geliefert hat. Verdi unterstützt das Ziel, bis 2038 aus der Kohle auszusteigen. Wenn möglich, kann das auch schneller gehen. Aber selbst der Ausstieg 2038 ist keineswegs ein Selbstläufer. Die Voraussetzungen dafür sind erst zu schaffen. Daran muss gearbeitet werden.
Mit „Voraussetzungen“ meinen Sie die soziale Frage?
Nicht nur. Zu den Voraussetzungen für einen erfolgreichen Kohleausstieg gehört auch die Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Ein wichtiger Baustein dafür ist die notwendige Synchronisierung des Ausstiegs aus der Kohle und des Ausbaus erneuerbarer Energien mit dem Ausbau der Netze. Wir sind in einem Prozess der Umstellung auf eine dezentrale Energieerzeugung. Das verlangt auch die entsprechenden Netzkapazitäten, insbesondere auf der Ebene der Verteilnetze. Daran muss wirklich energisch gearbeitet werden. Genauso wie es dazu gehört, die Bezahlbarkeit des Stroms sicherzustellen. Gerät die in Gefahr, dann wird die Akzeptanz gesellschaftlich verlorengehen. Das würde es gefährden, die notwendigen Schritte zur Bekämpfung des Klimawandels erfolgreich gehen zu können. Insofern gehört das Ökologische und das Soziale zusammen, wenn man das, was wir hinkriegen müssen, erfolgreich bewältigen will.
Fridays for Future rufen für den 20. September zu einem „globalen Klimastreik“ auf. Rufen Sie auch zum Streik auf?
So einfach zum Streik aufrufen kann ich nicht. Aber ich rufe diejenigen, die es können, dazu auf, sich an den Aktionen am 20. September zu beteiligen. Auch wenn nicht jeder seine Arbeit wird unterbrechen können: Wer kann, sollte ausstempeln und mitmachen. Wir müssen dazu beitragen, dass die Sensibilität gegenüber den Gefahren des Klimawandels weiter steigt. Auch die Sensibilität in den Betrieben. Und die Bereitschaft der Menschen, sich aktiv einzumischen in Sachen Klimawandel.
Drei Tage nach dem „Klimastreik“ werden Sie auf dem Verdi-Bundeskongress in Leipzig ihre letzte Rede als Vorsitzender halten. Sind Sie froh, dass es dann vorbei ist?
Frank Bsirske
ist 67 Jahre alt und steht seit der Gründung 2001 an der Spitze von Verdi. Nach dem Studium arbeitete er für die SPD-nahen Falken, später für die Grünen in Hannover. Ab 1997 war er für die Stadt Hannover tätig. Im Jahr 2000 wurde das Grünen-Mitglied Vorsitzender der ÖTV, der größten der fünf Einzelgewerkschaften, die zu Verdi fusioniert sind.
Zu behaupten, es falle mir leicht aufzuhören, wäre gelogen. Ich bin ja mit Leib und Seele Gewerkschafter und habe meine Arbeit leidenschaftlich gern gemacht. Und dabei viel gelernt. Das war eine wirklich große, herausfordernde, aber auch wunderbare Aufgabe. Ich habe aber vor langer Zeit bereits die Entscheidung getroffen, nicht noch mal zu kandidieren. Nach fast zwei Jahrzehnten an der Spitze erst der ÖTV, dann von Verdi ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um abzutreten.
Gibt es schon Pläne für die Zeit danach?
Ich werde ganz sicher ein politisch engagierter Mensch bleiben. Wie sich das in den nächsten Jahren konkretisiert, wird sich zeigen. Ich bin da ganz gelassen und lasse die Dinge auf mich zukommen. Außerdem gibt es noch so viel Interessantes zu lesen.
Wie ist es denn mit einem Wechsel in die Politik? Wenn ihr Höhenflug anhält, werden die Grünen demnächst viele Jobs in Ministerien zu besetzen haben.
Die Grünen zeichnen sich durch eine Menge hochqualifizierter Persönlichkeiten aus. Insofern besteht da kein Mangel an guten Kandidatinnen und Kandidaten für Ministerämter oder herausgehobene gesellschaftliche Positionen.
Als Sie im Jahr 2000 an die Spitze der ÖTV gewählt wurden, galt das als Sensation. Bis heute sind Sie der einzige Grüne geblieben, der einer DGB-Gewerkschaft vorsteht. Wie erklären Sie sich das?
Das sollten Sie besser die Kolleginnen und Kollegen in den anderen Gewerkschaften fragen.
Nun ja, Ihr designierter Nachfolger, Frank Werneke, hat nun auch wieder das ansonsten übliche SPD-Parteibuch.
Verdi ist eine politische Organisation, nicht aber der verlängerte Arm irgendeiner Partei egal welcher Couleur. Ich bin nicht Verdi-Vorsitzender, weil ich Grüner bin. Und falls er vom Kongress gewählt wird, dann wird Frank Werneke nicht deswegen mein Nachfolger, weil er Sozialdemokrat ist, sondern ein Gewerkschafter, der für eine konsequente Interessenvertretung der Mitglieder sowie für eine kluge und zukunftsfähige Gewerkschaftspolitik steht.
Finden Sie es denn nicht eigentümlich, dass die Führungen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften die letzten sozialdemokratischen Bastionen der Republik zu sein scheinen?
Ich habe immer zuallererst als Gewerkschafter gehandelt. Und wer immer in den deutschen Gewerkschaften Verantwortung an der Spitze übernimmt, ist gut beraten, das genauso zu machen. Die deutschen Gewerkschaften sind keine politischen Richtungsgewerkschaften, sondern Einheitsgewerkschaften. Und das ist gut so.
Wie haben sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für gewerkschaftliche Arbeit in den Bsirske-Jahren verändert?
Als ich anfing, sangen nicht nur die Arbeitgeberverbände mit Inbrunst das Hohelied des Neoliberalismus mit seinem falschen Wohlstandsversprechen für alle, sondern leider sogar Mitglieder der seinerzeitigen rot-grünen Regierung. Ich habe Zeiten erlebt, wo ich selbst vielen in der grünen Bundestagsfraktion als Persona non grata galt.
Wann war das?
Auf dem Höhepunkt der Agenda-2010-Zeit. Damals herrschte noch allseits eine geradezu religiöse Marktgläubigkeit in Verbindung mit einem ungebremsten Deregulierungsfuror und einer schier maßlosen Profitgier. Das hat uns ins Desaster der Finanzkrise geführt. Mit der kam dann die Sozialisierung der Verluste. Was von diesem ideologischen Fiasko bleibt: Die soziale Ungleichheit ist heute ungleich größer als noch vor zwei Jahrzehnten. Das ist sehr bitter.
Was war Ihre größte Niederlage als Gewerkschaftschef?
Dass es uns nicht gelungen ist, die Agenda 2010 zu verhindern – und mit ihr die Entsicherung von Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das eigene Leben nicht planen zu können, das hat proletarische Lebensverhältnisse über viele Jahrzehnte negativ charakterisiert. Also nicht zu wissen, ob man am Ende des Monats mit dem Lohn, den man für den Verkauf seiner Arbeitskraft bekommt, noch über die Runden kommen wird; nicht zu wissen, ob man demnächst noch einen Job hat oder nicht. Diese Unsicherheit ist für Millionen von Menschen zurückgekehrt in Gestalt von befristeten Arbeitsverhältnissen, Scheinselbstständigkeit, Scheinwerkverträgen, Minijobs, Midijobs, Leiharbeit, Niedriglöhnen und Armutsrenten im Alter.
Als Sie 2001 den Verdi-Vorsitz übernahmen, lag die Tarifbindung für die Beschäftigten in den westlichen Bundesländern noch bei 71 Prozent und im Osten Deutschlands bei 56. Heutzutage liegt sie im Westen nur noch bei 56 und im Osten bei 45 Prozent. Eine dramatische Entwicklung, oder?
Ja, die Erosion der Tarifbindung ist in der Tat besorgniserregend. Ein Riesenproblem für viele Beschäftigte, denn Tarifverträge schützen. Das Entlohnungsniveau in Betrieben mit Tarifvertrag liegt zehn, zwanzig oder dreißig Prozent über dem in nichttarifgebundenen Unternehmen. Dazu kommen bessere Arbeitsbedingungen. Insofern ist es eine erstrangige Aufgabe für alle Gewerkschaften in Deutschland, daran zu arbeiten, die Tarifbindung wieder zu stärken.
Aber wie soll das gelingen?
Aus meiner Sicht muss daran sowohl von unten als auch von oben gearbeitet werden. Von unten, indem wir organisieren, organisieren, organisieren, auf die Menschen zugehen und sie vom Sinn gewerkschaftlicher Organisierung überzeugen: Gemeinsam können wir als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr erreichen als jede und jeder für sich allein. Dazu Gewerkschaft. Das ist überhaupt die Voraussetzung dafür, in Konflikte über die Verhinderung von Tarifflucht gehen zu können. Von den 129 Streiks, die Verdi im letzten Jahr durchgeführt hat, kreiste ein Großteil um die Frage der Tarifbindung. Das zeigt, wie wichtig der Schutz durch Tarifverträge ist.
Und von oben?
Der Kampf für die Tarifbindung muss aus meiner Sicht von oben von der Politik unterstützt werden. Schlüsselbedeutung hat dabei die Tatsache, dass die öffentlichen Haushalte jedes Jahr 400 bis 500 Milliarden Euro an Aufträgen vergeben. Die Forderung der DGB-Gewerkschaften ist hier ganz klar: dass öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben werden dürfen, die tarifgebunden sind oder die den repräsentativen Tarifvertrag der jeweiligen Branche anwenden. Um der fatalen Tendenz zur Erosion des Tarifsystems entgegenzuwirken, sollte es außerdem einfacher gemacht werden, Tarifverträge für allgemeingültig zu erklären.
Ist der Ruf nach der Politik nicht auch ein Ausdruck der Schwäche der Gewerkschaftsbewegung?
Ich habe bewusst nicht die Verantwortung in Richtung Politik abgeschoben, sondern gesagt, dass wir selbst hier gefordert sind, von unten an der Stärkung der Tarifbindung zu arbeiten. Deswegen auch mein Hinweis darauf, dass ein Großteil der Streiks des letzten Jahres diesem Ziel galt. Genauso gehört zur Wahrheit, dass es nicht ausreicht, wenn die Politik immer wieder Lobreden auf die Tarifautonomie hält, dem aber keine Taten folgen. Insofern sind die an die Politik gerichteten Forderungen eine notwendige und sinnvolle Ergänzung unseres Kampfes.
Aber sinkt nicht die Kampfkraft der Gewerkschaften kontinuierlich? Bei der Gründung 2001 hatte Verdi noch mehr als 2,8 Millionen Mitglieder, heute sind es etwa 1,9 Millionen. Im gesamten DGB sank die Mitgliederzahl von rund 7,9 Millionen auf unter 6 Millionen.
Nur damit kein falsches Bild über die Kampfkraft von Verdi entsteht: Es gibt praktisch keinen Tag, ohne dass in irgendeinem Organisationsbereich von Verdi gestreikt wird. Die letzte Woche, in der kein Streik stattgefunden hat, war die 52. Kalenderwoche des Jahres 2015. Das war zwischen Weihnachten und Neujahr. Das ändert gleichwohl nichts daran, dass die Mitgliederentwicklung eine elementare Herausforderung für die deutsche Gewerkschaftsbewegung ist. Die Zahlen, die Sie genannt haben, unterstreichen nur die Dramatik und die Dringlichkeit, dieses Problem mit hoher Priorität anzugehen. Da gibt es überhaupt nichts kleinzureden.
Könnte es nicht sein, dass nicht nur das Zeitalter der Sozialdemokratie, sondern auch der Gewerkschaften zu Ende geht?
Das Grundanliegen der organisierten Arbeiterbewegung war und ist, die kapitalistische Marktwirtschaft zu regulieren, sozial einzubetten und die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen nicht einfach den Marktkräften zu überlassen. Das ist eine Notwendigkeit, an der sich nichts geändert hat. Wozu sind Gewerkschaften da und was macht sie aus? Sie sind Selbsthilfeorganisation der Erwerbstätigen. Sie sind Tarifkartell, um die Konkurrenz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer untereinander zu überwinden, und sie sind politische Organisationen, um Einfluss auf staatliches Handeln, auf die Politik und auf die Öffentlichkeit zu nehmen. All das ist hochaktuell.
Ein hoher Anspruch. Aber was ist davon Sein, was eher Schein?
Es zeigt sich doch sehr deutlich, wie unverzichtbar es ist, genau diese Aufgaben unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen auch tatsächlich wahrzunehmen. Wir haben zwar keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, aber allen Grund selbstbewusst zu sein im Hinblick auf den Sinn und die Zukunftsfähigkeit gewerkschaftlicher Organisierung.
Nicht nur Sie haben Ihren Rückzug angekündigt, sondern auch Angela Merkel. Bei ihr dauert es aber wohl noch etwas länger. Wenn Sie einen Wunsch bei der Bundeskanzlerin frei hätten, was würden Sie sich wünschen?
Können es auch drei sein?
Na gut.
Also dann: energische Schritte zur Bekämpfung des Klimawandels, entschiedener Kurswechsel in der Rentenpolitik und eine nachhaltige Stärkung der Tarifbindung. Das auf die Agenda zu heben, das würde ich mir wünschen.
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