Insekten essen: Nicht die Nahrung der Zukunft

Sechs Beine, schmackhaft und gesund: Die UN findet, Insekten sind ein gutes und klimafreundliches Mittel gegen den Welthunger. Aber stimmt das?

Gebratene Insekten werden in Myanmar an einem Straßenstand angeboten

Auch nicht viel umweltfreundlicher als Hühnchen? In Myanmar werden Grillen am Straßenrand angeboten Foto: harish-shivaraman/unsplash

BERLIN taz | Zu Insekten hatte ich schon immer ein gutes Verhältnis. Deswegen war ich begeistert, als ich das erste Mal davon hörte: Sie zu essen könne das Welternährungsproblem lösen und den Klimawandel eindämmen. So heißt es etwa in einem Aufsehen erregenden Bericht der UN-Welternährungsorganisation FAO von 2013. Als gesunde und CO2-arme Nährstoffquellen sollen sie nämlich deutlich weniger Wasser, Land und Futter verbrauchen als Vieh.

Grillen, heißt es, setzen Futter doppelt so effizient in Körpermasse um wie Hühner und zwölfmal so gut wie Rinder. Schließlich sind sie wechselwarm und brauchen keine Energie zur Erhaltung ihrer Körpertemperatur. Zudem sind Insekten sehr nahrhaft und enthalten teils viel Protein. Daher, so die These, könnten sie konventionelles Fleisch auf nachhaltige Weise ersetzen. Laut FAO verursacht die aktuelle Nutztierhaltung nämlich fast 15 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen; andere Berechnungen kommen auf teils noch deutlich höhere Werte.

Ich beschloss, mich des Themas Entomophagie, so der Fachbegriff für den Insektenverzehr, anzunehmen. Mein Interesse führte mich nach Südostasien – ich wollte wissen, wie man dort Insekten isst. Ich forschte jahrelang, führte viele Interviews, probierte unzählige Insekten und vernetzte mich in der internationalen Szene. Inzwischen muss ich sagen: Die Idee von der Insektenlösung war zu gut, um wahr zu sein.

Aber sie wirkt: Medien stürzen sich aufs Thema, Wis­sen­schaft­le­r*in­nen haben extra eine neue Fachzeitschrift gegründet, staatliche Institutionen passen ihre Lebensmittelvorschriften an. Und nicht zuletzt schießen seit einigen Jahren Insektenfirmen wie Pilze aus dem Boden. Über 200 sind es schon, und immer öfter tauchen Grillen, Mehlwürmer und Heuschrecken in den Verkaufsregalen auf. „Wir repräsentieren eine wachsende Ernährungsrevolution […] für unsere Kinder und den Planeten“, heißt es auf der Website von US-Insektensnackanbieter Chapul.

Eigentlich ist auch so schon genug für alle da

Noch handelt es sich um eine ausgesprochene Nische, aber manche Marktforschungsinstitute schätzen den Umsatz des Sektors für 2023 auf über 1 Milliarde US-Dollar, 2030 sollen es bereits 8 Milliarden sein. Konzerne wie Nestlé, Cargill und PepsiCo halten ein Auge auf den wachsenden Markt. Auch die Bill and Melinda Gates Stiftung hat sich an der Finanzierung von Pionierunternehmen beteiligt.

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Was hierzulande verrückt und neu wirkt, ist es in Wirklichkeit gar nicht. Das vor allem im Westen verbreitete Nahrungstabu ist geschichtlich gesehen eine Ausnahme, Insektengenuss die Regel. Auf den Festen der alten Griechen und Römer reichte man regelmäßig fette Larven, und Aristoteles höchstpersönlich hat Rezepte für die Zubereitung von Zikaden hinterlassen. In Deutschland, Luxemburg und Frankreich wurden Maikäfer sogar bis ins 20. Jahrhundert verspeist. Und nicht zuletzt isst man anderswo bis heute Insekten, und zwar bei über 3.000 Ethnien in 130 zumeist tropischen Ländern, wie die Forscherin Julieta Ramos-Elorduy ermittelte. Die FAO schätzt, allerdings ohne solide Datengrundlage, dass es weltweit 2 Milliarden Menschen sind. Gesichert hingegen ist, dass inzwischen rund 2.000 essbare Arten bekannt sind, darunter Heuschrecken in Mexiko, Mopane-Raupen in Botswana und Wasserkäfer in China.

Anders als im Diskurs oft impliziert, bilden Insekten aber keine homogene Masse von Proteinlieferanten. Vielmehr repräsentieren sie eine unglaubliche Vielfalt: Je nach Art, Lebensraum, Futter, Entwicklungsstadium und Zubereitungsweise besitzen sie ganz unterschiedliche Nährwerte und auch geschmackliche Eigenschaften. Dasselbe gilt für die Auswirkungen auf die Umwelt. So ist die in Südostasien besonders beliebte Riesenwasserwanze ein Karnivore und ihr Verzehr damit wohl nicht so nachhaltig, wie man meinen könnte.

Die ersten zwei Sätze des FAO-Reports lauten: „Es gilt als unstrittig, dass die Erde bis 2050 neun Milliarden Menschen beherbergen wird. Um sie versorgen zu können, muss sich die aktuelle Nahrungsproduktion fast verdoppeln.“ Damit wird unterschlagen, dass eigentlich genug Nahrung für alle da ist. Zu dieser Einschätzung kommt selbst eine andere UN-Institution, das Welternährungsprogramm, das die weltweite Zahl der Hungernden auf aktuell 821 Millionen schätzt. „Über 90 Prozent von ihnen sind schlicht zu arm, um genug Nahrung zu kaufen“, erläutert Eric Holt Giménez, Agrarökonom und Geschäftsführer der NGO Food First. An solchen strukturellen Ungleichheiten können auch Insekten, so lecker und vielversprechend sie ernährungsphysiologisch sein mögen, nichts ändern.

Ein Blick in die Zukunft: Thailand

Das wurde mir zum ersten Mal in Thailand klar, einem Land mit reicher Insektenesskultur und gleichzeitig Vorreiter ihrer modernen Kommerzialisierung. Es gilt deswegen in der internationalen Entomophagie-Szene oft als Vorbild. Ich stand auf einem großen Markt an der Grenze zu Kambodscha und beobachtete, wie Kinderarbeit im dortigen Insektenbusiness ganz normal ist. Von da an begann ich, kritischere Fragen zu stellen, und erfuhr immer mehr über die Widersprüche.

Viele wild gesammelte Arten sind in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gegenden Thailands selten geworden. Das führt im Zusammenspiel mit der vor allem in den Städten steigenden Nachfrage zu immer höheren Preisen, die arme Menschen nicht zahlen können. Hochwertige und auch vor Ort geschätzte Insekten werden aus ärmeren Nachbarländern wie Laos und Kambodscha in die urbanen Zentren Thailands exportiert. Der lukrative und weiter wachsende Insektenmarkt bietet zwar neue Einnahmequellen und hat einigen armen Leuten Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet – zunächst. Zunehmend aber setzt sich eine kleine Zahl von Profiteuren deutlich ab, darunter millionenschwere Geschäftsleute.

Eine ältere Insektensammlerin im Nordosten Thailands formulierte es so: „Wenn Unternehmen massenweise Insekten von uns aufkaufen, hat die nächste Generation hier nicht mehr genug zu essen. Heutzutage werden alle möglichen natürlichen Ressourcen immer knapper, weil sie für den Verkauf eingesammelt werden.“

Laut der Studie „Entomophagy and Power“ profitieren vom wachsenden Insektenhandel auch international zunehmend privilegierte Menschen. Online vertriebene Insektenprodukte kosten zudem durchschnittlich 25 US-Dollar pro 30-Gramm-Portion und sind somit für einen Großteil der Weltbevölkerung unerschwinglich.

Kein großer Unterschied zur Hühnerhaltung

Thailand ist auch Pionier bei der Zucht von Insekten. Es gibt nach Schätzungen der Universität Khon Kaen und des Landwirtschaftsministeriums etwa 20.000 Grillenfarmen, allesamt in den letzten gut zwei Jahrzehnten entstanden. Die dort produzierten Tiere sind zwar deutlich günstiger als wild gesammelten Insekten, aber immer noch teurer als Fleisch. Höchster Kostenfaktor ist das Futter. Es wird industriell gefertigt und muss proteinreich sein, wenn die Grillen schnell wachsen sollen. Daher enthält es neben importiertem Soja auch Fischmehl – ein ökologisch hochproblematischer Zusatz.

Eine 2017 veröffentlichte Messung des ökologischen Fußabdrucks thailändischer Grillenfarmen ergab dennoch, dass dieser etwas kleiner ist als der konventioneller Hühnerzuchten. Der Unterschied sei zwar gering, könne jedoch durch eine Intensivierung erhöht werden. Das wiederum aber, schreibt das internationale Forscherinnenteam, „könnte Klein­bäue­r*in­nen marginalisieren und weniger sozio-ökonomische Vorteile aufweisen, da größere Zuchtanlagen viel mehr Startkapital erfordern“. Dass die Insektenzucht kein Allheilmittel ist, zeigte auch 2015 die Studie „Crickets Are Not a Free Lunch“. Die Nachhaltigkeitswerte der dabei analysierten Grillenzuchten waren nicht besser als die von Hühnerfarmen.

Hinzu kommt, dass die Grillen nicht nur vor Ort verzehrt, sondern zunehmend auch – wohl recht energieaufwendig – zu Mehl verarbeitet und anschließend durch die halbe Welt transportiert werden. Das lohnt sich wegen der niedrigeren Lohnkosten: Im Vergleich zu kanadischem ist Grillenmehl aus Thailand bis zu dreimal so günstig. Im Westen wird es dann zur Zutat etwa von Energieriegeln. Die zumeist von Menschen gegessen werden, die eher mit Übergewicht zu kämpfen haben als mit Proteinmangel. Häufig ersetzen Insekten in der Praxis also überhaupt kein Fleisch.

Es kommt deswegen darauf an, wie sich der Sektor weiter entwickelt. Noch weiß niemand, ob die Massenzucht von Insekten ähnliche Probleme mit sich bringt wie die konventionelle Viehzucht: Krankheiten, Antibiotika, Tierquälerei. Viele Firmen setzen zunehmend auf lokale, nachhaltige Produktion. Durch die Snacks, sagen sie, wollten sie die Kundschaft lediglich ans Insektenessen gewöhnen und ihr dann zunehmend auch Fleisch ersetzende Hauptnahrungsmittel anbieten.

Keine wundersamen Eigenschaften

Auch die Preise sollen durch Automatisierung sinken – und die Produkte so aus ihrem teuren Nischendasein holen. Während manche glauben, dass der Markt die Dinge so regeln wird, sehen andere genau im Wirtschaftssystem das eigentliche Problem.

Ich bin mir inzwischen sicher: Selbst die effizientesten Lebensmittel – noch nachhaltiger als Insekten sind ohnehin pflanzliche – können auf unsoziale und ökologisch destruktive Weise hergestellt und konsumiert werden. Das heißt nicht, dass es eine schlechte Idee wäre, Insekten zu essen. Aber sie besitzen keine wundersamen Eigenschaften, die unsere globalen Krisen wegzaubern.

Transparenzhinweis: Andrew Müller ist Erstautor der im Artikel genannten Studie „Entomophagy and Power“.

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