Kolumne Lügenleser: Das Schweigen ist deutlich hörbar

Der CDU fällt auf Twitter deutlich mehr zu Rezo ein als zum Mord an ihrem Parteifreund. Rechtsextremismus interessiert sie nicht.

Ein Portrait vom ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten W. Lübcke (CDU) steht beim Friedensgottesdienst ·

Nach dem Mord an Lübcke: Politiker tun so, als würde sie Rechtsextremismus interessieren Foto: dpa

Zahlen sind trocken und nervtötend. Zumindest für jemanden wie mich, der bereits während der Grundschule den Matheunterricht größtenteils damit verbrachte, heimlich zu lesen. Zahlen sind langweilig. Sie schaffen es selten, das Ausmaß wirklich darzustellen. Es ist kein Wunder, dass das Foto des zweijährigen Alan Kurdi, der im September 2015 ertrank und an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde, medial wesentlich mehr Aufmerksamkeit erregte als die Zahl 4.054. Dabei handelt es sich um die geschätzte Zahl der 2015 ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer. Dass sie in Wirklichkeit viel höher liegen dürfte, erklärt sich von selbst. Aber hey, es sind halt Zahlen, und die sind nun mal abstrakt!

Und dennoch leben wir in einem Land, das besonders stolz auf seine Bürokratie und seine Genauigkeit ist. Man könnte annehmen, Zahlen sind Fakten. Zahlen sind unumstößliche Beweise, sind etwas, über das man nicht mehr diskutieren muss, solange sie einmal aufgestellt beziehungsweise erhoben wurden. Vergangenes Wochenende war mal wieder Zeit für solche Zahlenspiele. Das Bundesamt für Verfassungsschutz kündigte seinen Jahresbericht zu rechtsextremen Gewalttaten in Deutschland an.

Unter Berufung auf die Bild am Sonntag berichteten Nachrichtenagenturen wie AFP oder das Flagschiff der deutschen Nachrichtenlandschaft, die „Tagesschau“, über die gestiegenen – guess what? – Zahlen. Statt 28 erfasster Gewalttaten im Jahr 2017 waren es im Jahr 2018 bereits 48 solcher Delikte. Sapperlott! Achtundvierzig.

Nicht einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin scheinen diese extrem niedrigen Zahlen merkwürdig vorgekommen zu sein. Sie wurden einfach veröffentlicht. Weil sie uns im Endeffekt nichts sagen. Dabei hatte es 2017 bereits 1.054 rechte Gewalttaten gegeben. Erst am Montag äußerte die „Tagesschau“ sich dann, korrigierte den Fehler. Zahlen eben, da kann man schon mal durcheinander kommen.

Eine ganze Menge

Bock auf noch mehr Zahlen? 2018 gab es 860 „fremdenfeindliche Gewalttaten“. Das sind 2,35 pro Tag. Die Dunkelziffer und von der Polizei ignorierten Vorfälle nicht eingerechnet. Dazu kommen 246 rassistische, 49 antisemitische und 65 antimuslimische Gewalttaten. Falls sie bei all den Zahlen etwas abgeschaltet haben, hier noch mal etwas emotionaler aufbereitet: Das ist verdammt noch mal eine ganze Menge! Es ist eine Zahl, die mit keiner politischen Ideologie in diesem Land zu vergleichen ist und dafür sorgen müsste, dass die gesamte Gesellschaft aufsteht und sich schützend vor all die tausenden Opfer stellt. Aber Pustekuchen.

Nun ist das Thema momentan mal wieder aktuell, gezwungenermaßen. Mit dem Mord am Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sehen sich Politiker gerade gezwungen, für ein paar Tage so zu tun, als würde sie die Problematik interessieren. Auch dazu gibt es selbstverständlich ein paar deutliche Zahlen. Als der YouTuber Rezo kurz vor der Europawahl ein Video ins Netz stellte, in dem er die CDU kritisierte, hatte das laut Zählung der Seite „Volksverpetzer“ 358 Tweets von CDU-Accounts zur Folge. Als ein Parteimitglied der CDU, vermutlich von einem Attentäter mit Verbindungen zu rechten Terrorgruppen wie Combat 18, auf seiner eigenen Terrasse hingerichtet wurde, äußerten sich seine Kollegen dazu in dem sozialen Netzwerk ganze 26-mal.

Vielleicht hätte es etwas geholfen, wenn sie ein Foto von Lübcke geliefert bekommen hätten, wie er in seinem eigenen Blut liegt und um sein Leben ringt. Diese 26 Tweets sind ein einfaches Beispiel dafür, wie Zahlen für ein ohrenbetäubendes Schweigen stehen können. All der Floskeln und erwartbaren Äußerungen der Politik zum Trotz. Und dieses Schweigen wird deutlich gehört in der rechten Szene. Es ist vergleichbar mit einer Zahl. Denn die Gefahr für all die vom Verfassungsschutz und der Polizei seit Jahrzehnten an der langen Leine gehaltenen Neonazis – liegt nach wie vor bei null.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.