Kommentar Merkels Vorsitz-Verzicht: Die Kanzlerin, die nichts wollte
Merkel lässt ein erodierendes Europa und ein sozial gespaltenes Deutschland zurück. Jetzt müssen die vernachlässigten Konflikte auf den Tisch.
M an kann Angela Merkels Kanzlerschaft nicht als gescheitert betrachten. Denn zum Scheitern gehören Ziele. Und die hatte Angela Merkel eigentlich nie. Stets ging es nur darum, den Laden irgendwie am Laufen zu halten. Nicht einmal im Moment ihres Rücktritts ließ die CDU-Politikerin so etwas wie Ansporn erkennen, als ein Journalist sie fragte, was sie denn noch bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft erreichen wolle. Mehr als ein gelangweiltes Lippenbekenntnis zum ohnehin ambitionslosen Koalitionsvertrag gab Merkel nicht. Damit ist klar, dass auch in der Endphase ihrer Regierungszeit nichts Revolutionäres mehr zu erwarten ist.
Das ist typisch für Angela Merkel. Stets fuhr die angezählte Bundeskanzlerin auf Sicht. Und die klaren Entscheidungen, die sie traf, waren häufig falsch. Beispiel Eurokrise: Während Merkel nach Ausbruch der Finanzkrise ab 2008 die deutschen Autobauer mit der Abwrackprämie über Wasser hielt, zwang sie dem Rest Europas während der nachfolgenden Eurokrise einen Sparkurs auf. Vor allem Griechenland wurde in den Ruin getrieben, das Land ist wegen der von Berlin vorangetriebenen Austeritätspolitik auf Generationen zurückgeworfen. Merkel interessierte das nicht. Einen Schuldenschnitt lehnte sie stets ab und ließ den EU-Partner mit Verweis auf die gemeinsamen „Regeln“ in die Rezession abgleiten.
Während sich der Rest der Eurozone auch wegen des deutschen Lohndumpings und des hiesigen Exportfetischismus verschuldete, profitierte Berlin von Niedrigzinsen. Die schwarze Null finanzierte sich quasi von selbst. Anstatt die Demokratisierung und die soziale Ausgestaltung des Euroraums voranzutreiben, verstärkte Merkel die Ungleichgewichte, die ihren Teil zum Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem Kontinent beigetragen haben.
Die ach so wichtigen Regeln spielten aber beim Dieselskandal nur eine untergeordnete Rolle. Die Unternehmen wurden geschont. Nicht nur, dass die Klimakanzlerin in Brüssel seit Jahren niedrigere CO2-Grenzwerte für Kraftfahrzeuge verhindert. Nun will sie auch noch Kommunen erschweren, Fahrverbote zu erlassen. Den Atomausstieg machte Merkel erst teilweise rückgängig, um dann nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima den erneuten Ausstieg zu verkünden.
Eher Pragmatismus als humanistisches Anliegen
Die immer vulgärer werdende Ungleichheit in Deutschland war Merkel eher egal. Die soziale Kahlschlagpolitik ihres Vorgängers Gerhard Schröder im Rahmen der Agenda 2010 lobte die Kanzlerin als „großartige Erfolgsgeschichte“. In ihrer Neujahrsansprache bejubelte Merkel noch die „soziale Marktwirtschaft“, obwohl die sich für Menschen im Niedriglohnsektor, Minijobber und Leiharbeiter eher asozial anfühlt.
Als großer Erfolg Merkels wird bis hin ins linke Lager die Flüchtlingspolitik gelobt. Die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge im Herbst 2015 gilt als großer humanitärer Akt. Die Aktion dürfte allerdings eher Teil ihres typischen Pragmatismus gewesen sein als Ausdruck eines humanistischen Anliegens. Es war, wie Merkel sagen würde, „alternativlos“. Noch wenige Monate zuvor hatte die Kanzlerin einem geflüchteten Kind aus dem Libanon erklärt, man könne nicht alle aufnehmen. Dass viele Migranten unbedingt nach Deutschland wollen, dürfte übrigens auch daran liegen, dass die Bundesrepublik durch die Interessenpolitik Merkels eine der wenigen verbliebenen Wohlstandsinseln in der EU ist.
Bleibt die Frage, warum die Kanzlerin in weiten Teilen des Bürgertums – links wie rechts – so beliebt ist. Vom flüchtlingsfreundlichen Linksmerkelianer bis zum Millionär, der sich freut, dass er unter der aktuellen Regierung kaum mehr Steuern wird zahlen müssen: Alle lieben die Kanzlerin.
Merkels Popularität ist Ausdruck einer müden Konsensgesellschaft. Die unteren 30 Prozent des Landes hat man ohnehin abgeschrieben. Auf politische Verteilungskämpfe hat jenseits von emanzipatorischen Anerkennungsfragen auch keiner mehr Lust. Merkel ist die Kanzlerin jener, die glauben, die Welt sei im Großen und Ganzen in Ordnung und man müsse nur an ein paar Schräubchen drehen und schon sei das Paradies auf Erden erreicht.
Reiche müssen sich endlich am Gemeinwohl beteiligen
Die Realität sieht anders aus. Merkel lässt ein erodierendes Europa und ein sozial gespaltenes Deutschland zurück. Eigentlich muss man für ihren Rücktritt dankbar sein. Mit dem Abgang der Konsenskanzlerin könnten nun endlich all die gesellschaftlichen Konflikte diskutiert werden, die unter der Großen Gesellschaftlichen Koalition unter den Tisch gekehrt wurden.
Man könnte darüber reden, wie eine Eurozone so gestaltet werden kann, dass nicht hauptsächlich Deutschland von ihr profitiert. Wie wir einen Sozialstaat wiederherstellen können, der diesen Namen verdient. Und wie man Reiche in Deutschland und Unternehmen in Europa dazu zwingen kann, sich angemessen an der Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen. Die Zeit des faulen Konsenses ist vorbei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei