Özil, Gündoğan und Erdoğan: Wie konnte das bloß passieren?

Ein Bild, ein Shitstorm: Warum haben die Nationalspieler Özil und Gündoğan so gehandelt? Eine Suche nach Antworten in ihrer Heimat, dem Ruhrpott.

Ilkay Gündogan, Recep Tayyip Erdoğan und ein Trikot

Das hätte er wohl besser gelassen: Ilkay Gündogan und Recep Tayyip Erdoğan Foto: dpa

GELSENKIRCHEN/BOCHUM taz | Eine Überlegung: Was, wenn Mesut Özil und İlkay Gündoğan, Jahrgang 1988 und 1990, zehn Jahre später auf die Welt gekommen wären? Hätten sie ihre Kindheit und frühe Jugend auf Bolzplätzen in Gelsenkirchen verbracht? Hätten sie erst mit 14 Jahren begonnen, für Schalke und Bochum zu spielen? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wären sie bereits mit sechs oder sieben Jahren von einem Scout des FC Schalke 04 oder des VfB Stuttgart entdeckt worden, wären von diesem Moment an hinter den Wänden eines Fußballinternats, zumindest aber in den längst professionalisierten Strukturen der Nachwuchsarbeit ihres Vereins verschwunden.

Sie wären frühzeitig geschult worden im Umgang mit Social Media, mit Journalisten, hätten Berater beschäftigt; ihre Vereine und bald auch der DFB hätten sie rundum betreut und nicht ohne Medienexperten vor Kameras treten lassen. Sie wären bereits mit 18 glatt gewesen wie der Rücken einer Kegelrobbe.

Hätten sich Mesut Özil und İlkay Gündoğan, Jahrgang 1998 und 2000, also etwa nicht am 13. Mai 2018, nur wenige Wochen vor der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan getroffen? Hätten sie die Einladung, die sie in London erreichte, ausgeschlagen? Oder hätten sie wenigstens darauf verzichtet, Erdoğan Trikots mit ihren Unterschriften zu überreichen? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich sogar: erst recht nicht.

Die Debatte über das Foto, das zwei deutsche Nationalspieler mit türkischen Wurzeln zusammen mit Erdoğan zeigt, ist zu einer über Mangel an Integration geworden. Es kann natürlich sein, dass Özil und Gündoğan politisch von Erdoğan überzeugt sind, und auch, dass es Teile ihrer Community gibt, die den Auftritt gut fanden. Es muss Spielern der deutschen Nationalmannschaft zudem möglich sein, sich zu mehreren Ländern hingezogen zu fühlen (was für Despoten allerdings nicht gelten sollte).

Kann es nicht aber viel eher sein, dass die beiden schlicht nicht wussten, dass sie mit diesem Foto ein höchst politisches Zeichen setzen? „Klar, wenn man für Deutschland spielt, dann vertritt man das Land und die deutschen Werte“, meinte Bundestrainer Joachim Löw. Doch was kann der DFB von Männern erwarten, die er selbst wie unmündige Schulkinder behandelt? Die er permanent abschottet, wie auch jetzt im Trainingslager in Südtirol, denen er Statements vorformuliert, denen er nicht zutraut, eigene Gedanken zu artikulieren?

Was hätte der DFB von Mesut Özil und Ilkay Gündoğan erwarten können?

Eine Spurensuche

Mesut Özil kam am 15. Oktober 1988 in Gelsenkirchen zur Welt, wuchs mit seinen Eltern, einem älteren Bruder und zwei jüngeren Schwestern in dem Mehrfamilienhaus Bornstraße 30 im Stadtteil Bismarck auf. Die Großeltern waren von der türkischen Schwarzmeerküste ins Ruhrgebiet ausgewandet, als der Vater zwei Jahre alt war. Dieser betreibt später mehrere Gaststätten in Gelsenkirchen und meldet den 7-jährigen Sohn beim Sportverein DJK Westfalia Gelsenkirchen an, schon damals gegenüber dem Trainer überzeugt: „Aus Mesut wird mal ein Großer.“ Dieser Mesut spielt bei Teutonia Schalke, bei DJK Falke Gelsenkirchen, bei Rot-Weiss Essen, kommt dann mit 14 Jahren zu Schalke. Bis dahin bleibt er ein Straßenkicker aus dem Ruhrpott, ein gewöhnlicher Junge, der nimmermüde auf dem Bolzplatz in der Nachbarschaft pöhlt, wie das Fußballspielen im Ruhrgebiet heißt.

Gelsenkirchen-Bismarck im Jahr 2018: Natürlich sind die Özils längst weggezogen, schon vor vielen Jahren, als der jüngste Sohn so viel verdiente, dass die Familie sich etwas anderes leisten konnte als eine Wohnung in dem orangefarbenen Mehrfamilienhaus, in dem es muffig riecht und dicke Fliegen durch das Treppenhaus brummen.

Rund 16.000 Menschen leben in dem Arbeiterviertel, einem Ort, an dem eine DNA des Ruhrgebiets entnommen werden könnte. Die Zeche Graf Bismarck, benannt nach dem preußischen Reichskanzler, wird 1966 stillgelegt. Nach dem Zusammenschluss der Zeche Consol mit der Zeche Hugo 1993 wird das letzte verbliebene Bergwerk bis 1995 schrittweise aufgegeben. 4.000 Arbeitsplätze gehen verloren, der Zentralförderschacht 9 der Zeche Consol aber prägt auch heute noch das Stadtteilbild. Mehrfamilienhäuser reihen sich kompromisslos aneinander, dunkler Backstein, bewohnt von Menschen mit Nachnamen die oft polnisch klingen und noch öfter türkisch.

Parallel zur Bornstraße schiebt sich die Olgastraße durch das Viertel; an einer Ecke ein türkischer Getränkemarkt, Fußballtrikots hängen zum Trocknen auf den Balkonen, einige von Schalke, andere von Galatasaray Istanbul. Und mittendrin der Affenkäfig. Ein Bolzplatz, eingehegt von einem drei Meter hohen Gitterzaun und bräunlichem Gestrüpp. Wenn die Kinder von Gelsenkirchen-Bismarck Fußball spielen, tun sie es hier. Auch Mesut Özil hat das getan, und zwar immer.

„Nichts Schlechtes über Özil schrei­ben“

Als die beiden Jungs im Affenkäfig, 12 und 13 Jahre alt, erfahren, worum es geht, sagen sie, auch sie hießen Mesut. Einer von ihnen hat obendrein viel Ähnlichkeit mit dem echten: braune Locken, große runde Augen, schmächtiger Körper. „Bester Spieler bei Deutschland“, sagt der andere, er ist kleiner, rundlicher und forscher. „Er hat es vom Affenkäfig nach Real Madrid geschafft, sagt mein Bruder.“ Dann schmettert er den Ball gegen den grünen Gitterzaun, das Mesut-Double rennt los, um ihn zurückzuholen. Als sein Freund außer Hörweite ist, sagt er: „Würde ich auch gerne. Aber ich bin nicht im Verein, wir spielen immer nur hier.“

Wenn es dann so weit sei, aber für Deutschland nicht reiche, würde er für die Türkei spielen. „Dann hätten wir auch Geld und könnten umziehen.“ Der Fußball als Mittel, um aus Gelsenkirchen herauszukommen, wie anderswo mit Basketball aus der Bronx . Wie steht die Familie zur Türkei und zu Erdoğan? „Okay.“

Im Dönerimbiss „umme Ecke“ sind sie sofort alarmiert: „Aber nichts Schlechtes über Özil schrei­ben“, sagt ein älterer Herr mit Onkel-Vernon-Schnauzer, der gerade sein Wechselgeld entgegennimmt. „Die Medien machen den eh schon fertig.“ Er finde Erdoğan ja selbst nicht mehr gut, aber wen solle man sonst wählen? 2017 habe er, wie rund 70 Prozent der Deutschtürken im Ruhrgebiet, noch mit mehr Begeisterung für ihn gestimmt. Heute wisse er, dass auch Erdoğan seine Versprechen nicht halte, aber immer noch besser sei als der Rest. „Aber dass alle gegen Erdoğan sind, das hilft ihm nur. Dann haben wir das Gefühl, wir müssen ihn verteidigen.“ Und Eltern seien doch bestimmt auch stolz, wenn der Sohn sich mit dem Präsidenten des Landes seiner Vorfahren treffen dürfe. „Das ist doch menschlich.“

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte der Teammanager der deutschen Elf, Oliver Bierhoff, ihm sei schnell klar gewesen, dass Özil und Gündoğan kein bewusstes politisches Zeichen setzen wollten. Fügte dann aber, nachdem er die Debatte gegenüber der ARD zunächst unwirsch für beendet erklärt hatte, hinzu: „Es ist ganz klar, dass die Diskussion über Integration nicht beendet sein kann. Denn im Jugendbereich haben wir immer mehr Spieler mit Migrationshintergrund.“ Weil es natürlich für Bierhoff und Co. einfacher ist, die Lösung bei den türkischen Nachnamen zu suchen als bei sich selbst.

Unpolitische Zöglinge

Dabei war es der migrationshintergrundlose Julian Draxler, der nach dem Confed Cup im vergangenen Jahr einen offenen Brief an die russischen Fans schrieb und dem Land bescheinigte, den Test „mit Bravour“ bestanden zu haben. Das Fußballmagazin 11Freunde attestierte ihm, Putin hätte diesen Brief nicht schöner formulieren können. Kritische Worte zur Menschenrechtslage in Russland hat man indes noch von keinem Nationalspieler vernommen. Oliver Bierhoff versteht das: „Man muss ja davon ausgehen, dass viele die Komplexität und Tiefe des Themas nicht kennen.“ Der größte und reichste Sportfachverband des Landes hat seine Zöglinge gerne unpolitisch.

Fabian Maraun, 29, Immobilienmakler in Gelsenkirchen-Buer, hat Feierabend. Doch über Mesut, einen seiner ersten Mitspieler, redet er auch dann, wenn zu Hause eigentlich schon der Rasenmäher wartet. Drei Jahre haben sie ab 1995 gemeinsam bei Westfalia Gelsenkirchen gespielt, Fabians Vater, Ralf Maraun, war der erste Trainer von Mesut Özil. „Beibringen konnte er ihm aber wahrscheinlich auch nicht viel“, sagt Sohn Fabian, ein „supermegagroßes Talent“, das sei Mesut bereits mit 6 gewesen. Marauns Großvater, einst Bergmann in der Zeche Consol, habe damals außerdem an der Olgastraße gewohnt, direkt beim Affen­käfig.

Wenn Fabian seinen Opa besuchte, traf er dort auch Mesut Özil. „Mesut war von morgens bis abends auf dem Platz, und jeder war froh, wenn er mal mit ihm spielen durfte.“ Wenn Maraun spricht, kann man sich gut vorstellen, wie er es schafft, einem ein Haus zu verkaufen, das man gerade noch schrecklich fand. Er kann nicht reden, ohne immer auch ein bisschen zu lachen.

Mesut Özil und andere Jugendliche

„Nie was anderes gemacht als Fußball spielen“: Mesut Özil (Zweiter von rechts) in der 10. Klasse Foto: Gesamtschule Berger Feld

Maraun sagt, er könne sich an kein Spiel erinnern, in dem Mesut nicht mindestens drei, vier, fünf Tore geschossen habe. Woran er sich indes auch nicht erinnern könne, sei ein Mesut, der noch irgendetwas anderes gemacht habe als Fußball spielen. „Ich habe ihn nie anderswo gesehen.“ Sehr höflich und schüchtern sei Mesut gewesen, nur auf dem Fußballplatz, da eben nicht. „Er hat mit dem Ball das ausgedrückt, was er mit der Sprache nicht vermochte“, sagt Maraun. Über Politik, Herkunft oder Religion wurde nie geredet. „Im Ruhrgebiet werden wir alle multikulti groß, es hat nie eine Rolle gespielt, woher die Eltern oder Großeltern kamen.“ Und das jetzt, was sagt es über ihn aus, dieses Treffen mit Erdoğan? „Nichts, absolut nichts. Mesut wird sich nichts dabei gedacht haben, davon bin ich überzeugt.“

Vorbilder auf Instagram

Auch früher waren Fußballer selten für ihre dezidiert politischen Analysen bekannt. Berühmt etwa die Aussage von Berti Vogts zur WM unter der Videla-Diktatur in Argentinien 1978, er habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen. Doch die Rundumbetreuung der Fußballspieler, die Erziehung zur Unselbstständigkeit, sie beginnt immer früher, nimmt immer extremere Formen an. Und hemmt die Entwicklung einer eigenen Haltung, vor allem einer politischen. Gleichzeitig hat sich der Einfluss der Fußballstars enorm verstärkt, jeder betreibt eigene Accounts auf In­stagram und in anderen sozialen Netzwerken.

Die Spieler haben eine Vorbildfunktion, die sie nur unzureichend erfüllen können. Solange sie die Nationalhymne singen oder Besuch von Angela Merkel bekommen, sollen sie politische Botschafter sein. Gerade die Nationalelf agiert stets in der Nähe zur großen Politik. Was aber „da draußen“ tatsächlich vor sich geht, was gesellschaftspolitisch relevant ist, das bekommen sie immer weniger mit. Und so realisieren sie auch nur unzureichend, wenn sie von politischen Schwergewichten instrumentalisiert werden. Profitieren von der aktuellen Debatte dürfte nämlich nur Erdoğan – seine Leute machten das Foto öffentlich.

Alexander Richter ist Leiter der Nachwuchsabteilung des VfL Bochum. İlkay Gündoğan kannte er mal sehr gut, früher legte er oft Extratrainingseinheiten ein, um ihn zusätzlich zu fördern. Zehn Jahre später sitzt Richter in seinem Büro beim Zweitligisten, durch das Fenster weht die warme Luft eines Junitags und unten, vier Stockwerke tiefer, röhrt ein Rasenmäher. Richter, herzliches Gesicht, Bart und große Ohren, schließt das Fenster. Gündoğan, das sei „ein überragender Typ“ gewesen, ein „richtig guter Charakter“, jemand, mit dem man gute Gespräche über den Fußball und über die Schule führen konnte, „immer ehrlich, immer geradeheraus“.

via iTunes, Spotify oder Deezer abonnieren

Wie passt das zu einem jungen Mann, der Erdoğan die Worte „für meinen Präsidenten, hochachtungsvoll“ aufs Trikot schreibt? „Ich würde ihn schon so einschätzen, dass er weiß, was er tut“, sagt Richter. „Aber ich glaube, dass er unterschätzt hat, was das für Wellen schlagen würde.“ Bruder Ilker, Dozent an der Uni Bochum, der sich in einem Blogbeitrag zu Wort meldete, bezeichnete İlkay als „unpolitisch, aber keineswegs dumm“. Das würde dafür sprechen, dass Gündoğan zwar wusste, mit wem er sich da trifft, ihm aber etwa die Nähe zur Wahl in der Türkei nicht bewusst war. Richter überlegt kurz. Über politische Bildung innerhalb der Vereine könne und sollte vielleicht sogar verstärkt nachgedacht werden. „Aber dafür fehlt schlicht die Zeit. Da hat sich in den vergangenen paar Jahren unheimlich viel geändert. Die Trainingsintensität ist extrem hoch geworden, die Schulzeit hat sich gleichzeitig auf G8 verkürzt, das fällt alles auf die Spieler zurück.“

Auch beim VfL Bochum wird längst nicht mehr allein auf die fußballerische Leistung geachtet. Wer in der Schule abfällt, wird aus dem Training genommen, für die Hauptfächer gibt es Nachhilfeangebote. Um ein Talent herum sind etliche Fachbereiche aufgebaut, der Scoutingapparat, die Videoanalyse, die Leistungsdiagnostik, eine pädagogische Leiterin, eine Sozialpädagogin, ein Sportpsychologe. 110 Mitarbeitende sorgen für die sportliche und mentale Gesundheit der Spieler – und für das Image: Social-Media-Training mit einer Werbeagentur soll den Spielern vermitteln, was sie auf Instagram und Snapchat posten dürfen und was nicht.

Talentsichtung im Ruhrgebiet

Bereits im jüngsten Jahrgang, der U9, fangen die Scouts an, in der näheren Umgebung Talente zu sichten, in Hattingen, Witten, Dortmund. Je älter die Spieler werden, desto größer werden die Kader, und desto weiter wird der Radius, aus dem Spieler nach Bochum geholt werden. „Teilweise ist es schon bei den 8-Jährigen ein Hauen und Stechen, wer jetzt diesen einen Jungen bekommt.“ Sechs leben im Internat des Vereins, sie kommen aus München, Frankfurt, Leipzig. 25 Fahrer bringen die Spieler jeden Tag zum Trainingsgelände und wieder zurück, alle sieben Wochen werden sie getestet. „Wir sind für ein Rundumpaket verantwortlich“, sagt Richter.

Bei anderen Vereinen sind es bis zu 50 Spieler, die im vereinseigenen Internat leben. Spieler unter 14 Jahren haben die ersten Verträge mit Nike, Adidas und Puma und werden dann für enorme Summen vom nächsten Verein verpflichtet. Manche würden aus dem Ausland geholt, verdienten schon in der A-Jugend bis zu 15.000 Euro im Monat und dann, irgendwann, komme die Formkrise.

„Ich habe die dann nachher hier sitzen, die Jungs aus Australien, die völlig fertig sind und fragen, ob sie jetzt zum VfL kommen können.“ „Nee“, sagt Richter. „Nee, das würde ich auch nicht unterstützen, wenn wir als VfL das Geld dazu hätten. Das sind Jugendliche, Kinder, da sollten wir alle unserer Verantwortung gerecht werden und uns genau überlegen, ob wir die aus ihrem so­zialen Umfeld reißen.“

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Und der DFB? Macht mit bei alldem. Veranstaltet jedes Jahr im Sommer ein bundesweites Sichtungsturnier, auch schon für die U15-Nationalmannschaft. Betreibt 366 Stützpunkte, verpflichtet die Erst- und Zweitligavereine gemeinsam mit der DFL dazu, Nachwuchsleistungszen­tren zu führen; 54 gibt es davon mittlerweile. Alles soll stimmen, die Fitness, die Ernährung, die psychische Gesundheit. Und die politische Müdigkeit? Vor WM-Endrunden werden schon mal Themenabende zu dem Austragungsland anberaumt. Das ist schmusig, gefühlig, das kann man machen. Beim Thema Türkei agierte der DFB dagegen passiv, um Verständnis winselnd. Er hätte etwa einen türkischen Exilanten wie den Journalisten Can Dündar ins Trainingslager nach Eppan einladen können, schottete sich aber lieber ab. Und sendete damit auch die Botschaft an Spieler und Öffentlichkeit: Wir sitzen das aus, wir übernehmen für euch, sind bei alldem aber bloß nicht politisch.

Schulen kooperien

Alexander Richter sagt: „Wir wollen schon, dass unsere Jungs ihren Kopf benutzen, sich nicht nur auf den Fußball fokussieren, Werte erlernen. Bei uns auf dem Platz und in der Kabine wird zum Beispiel so gesprochen, dass es alle verstehen – also Deutsch. Wer einmal etwas Rassistisches sagt, würde hier eine Stunde später nicht mehr spielen. Aber ich kann auch nicht zu allen nach Hause fahren und fragen, wie die politische Einstellung ist – will ich auch nicht.“ Der Rasenmäher ist aus. „Für ein bisschen was ist ja auch die Schule verantwortlich.“

Bis zur mittleren Reife hat Mesut Özil die Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen besucht, 1.400 Schüler, 120 Lehrer, Migrationsanteil bei 40 Prozent – gedeckelt. Auf dem Parkplatz vor der Schule stehen Autos mit Kennzeichen aus dem gesamten Ruhrgebiet, an den Innenspiegeln hängen Wimpel von Schalke 04 und Beşiktaş Istanbul, von der Decke der Eingangshalle Fahnen von Ghana, Tschechien, der Türkei. 2007 wurde die Schule vom DFB als vierte in Deutschland als Eliteschule des Fußballs ausgezeichnet. An einer Wand im linken Seitenflügel, da hängen sie alle, die die Schule besucht haben und Profis wurden: Manuel Neuer, Benedikt Höwedes, Julian Draxler, Joel Matip, viele mehr – die Schule kooperiert mit Schalke 04, hat das Trainingsgelände des Vizemeisters nebenan.

Jochen Herrmann ist stellvertretender Schulleiter, er trägt schicke Schuhe zu Jeans, ein Poloshirt der Marke Ralph Lauren – in Schalke-Optik. Die da hängen, hat er alle persönlich gekannt, zum Teil unterrichtet, zum Teil trainiert, auch Mesut Özil. „Mesut, der war ganz zurückhaltend, ganz schüchtern, ein einfacher, schlichter Junge“, sagt Herrmann. „Bei alledem herzensgut. Wenn wir Hilfe brauchen, ist er immer zur Stelle, spendet, bringt sich ein.“ Nie wolle er, dass die Schule das dann an die Medien weitergebe, damit er nicht belagert wird. Wie jetzt, da er sich nicht zu dem Foto mit Erdoğan äußern will. Aus Arroganz, Uneinsichtigkeit, Überzeugung? „Nein. Mesut ist das alles nur zu viel. Er hat sich bei dem Termin nichts gedacht, und dafür soll er sich rechtfertigen. Das überfordert ihn. Der Junge will einfach nur Fußball spielen.“

Mit großen Schritten und selbstbewusst geleitet Herrmann durch seine Schule, er führt in das Büro von Thomas Kaiser. Sozialarbeiter, Sportmentor – der, zu dem alle kommen können, wenn was ist, der mit dem gezwirbelten Bart und dem Gesicht voller Lachfalten. Als die Özils und Höwedesse an der Schule mehr wurden, wurde umstrukturiert, der junge Mensch sollte stärker in den Vordergrund rücken, der Schulabschluss, aber eben auch das persönliche Befinden.

Politische Unmündigkeit

Kaiser, wie ihn alle nur nennen, kümmert sich vor allem um die Leistungssportler, jene, die neun Stunden am Tag zur Schule gehen, nachmittags trainieren und am Wochenende in einer der Nachwuchsmannschaften von Schalke spielen. Morgens ab 5.30 Uhr werden sie von einem Fahrdienst abgeholt und zur Schule gebracht. Bis 15.30 Uhr ist Unterricht, dann anderthalb Stunden Pause, ab 17 Uhr Training. Der Letzte, der abends vom Fahrdienst zurückgebracht wird, ist gegen 21.30 Uhr zu Hause. „Dann sind die feddich“, sagt Kaiser. Was dann alles auf der Strecke bleibt: andere Hobbys, Beziehungen, die Jugend. Und politische Bildung?

„Aus’nem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“, sagt Kaiser, „und ein politischer schon mal gar nicht.“ Er lacht ein Lachen, das wie ein Bellen klingt, doch er wird auch schnell wieder ernst. „Emre Can, der Erdoğans Einladung ausgeschlagen hat, hat zwar gezeigt, dass es anders geht“, doch in der Regel würden die Jungs die wenige Freizeit, die sie haben, nun mal nicht gerade hinter einer Zeitung verbringen. „Die bekommen doch von draußen nichts mit.“ Deshalb empfinde er auch den moralischen Zeigefinger, den der DFB nun über zwei seiner Spieler erhebe, wohlfeil und „ganz schön heftig“. „Der DFB sagt doch selbst, man wolle unpolitisch sein, auch innerhalb der Nachwuchsleistungszentren.“

Was die Schüler über ihre Schulbildung hinaus erfahren, ist abhängig von Menschen wie Kaiser, die wissen, dass der Geschichtsunterricht nicht genügt. Schon gar nicht, wenn der Kopf schon beim nächsten Spiel oder der Frage ist, ob man vom Verein übernommen wird. Wenn nichts wichtiger ist als der Traum, Profi zu werden. „Ich versuche, mit den Jungs auch mal über Parteien und die Funktion von Gewerkschaften zu sprechen. Wenn dann die Reaktion kommt, das regele später doch eh alles der Berater, dann sach ich ihnen natürlich, dat is Kappes.“ Doch weil der Einfluss der Berater irgendwann so groß sei, müssten auch von anderer Seite Impulse kommen. Kaiser sagt, er schreite auch ein, wenn er zum Beispiel Pro-Erdoğan-Rufe auf dem Schulhof höre. Aber eben nur, weil er Kaiser ist, und nicht, weil er den Auftrag hat, das zu tun. Eine Anfrage der taz ließ der DFB unbeantwortet.

Erdem Canpolat ist 17, Torhüter in der Nachwuchsabteilung des FC Schalke 04. Allein mit der Presse telefonieren darf er nicht, „das wird nicht so gern gesehen“, sagt die Medienbeauftragte. Möglich wäre nur, Fragen per E-Mail zu schicken, damit der Spieler diese in Absprache mit Trainern und Pressesprechern beantworten kann. Zur Debatte über Özil und Gündoğan schreibt er: „Ich denke, dass Fußball im politischen Kontext keine Rolle spielen sollte. Wenn man sich das negative Medienecho vor Augen führt, sieht man, dass diese Aktion nicht so clever war.“ Politisches sei ihm indes „fast ausschließlich im Politikunterricht“ begegnet – und das solle auch so bleiben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.