Die Grenzfrage, die die Regierung spaltet

Kurz bevor Seehofer seine Asylpläne vorstellen kann, eskaliert der Streit in der Regierung: Der Innenminister will Flüchtlinge an der Grenze abweisen, Merkel ist dagegen. Wäre diese Maßnahme überhaupt rechtens?

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze im Oktober 2015 – schon damals gab es die Forderung nach Zurückweisung Foto: Armin Weigel/dpa/picture alliance

Von Christian Rath

Sie sollte zentraler Bestandteil des sogenannten Masterplans Migration sein, den Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Dienstag in Berlin vorstellen wollte: die Möglichkeit, Flüchtlinge künftig direkt an der Grenze zurückzuweisen. Doch die Forderung, die massive Grenzkontrollen innerhalb Europas zur Folge hätte, ist nicht im Sinne der Bundeskanzlerin: „Ich möchte, dass EU-Recht Vorrang hat vor nationalem Recht“, sagte Merkel am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Anne Will“.

Am Montagnachmittag ist dieser Streit nun offenbar eskaliert: Wie das Innenministerium bestätigte, wurde die Vorstellung des Masterplans kurzfristig verschoben. „Einige Punkte müssen noch abgestimmt werden“, hieß es in der knappen Begründung, einen neuen Termin gebe es noch nicht.

Die Zurückweisung an der Grenze ist eine Forderung von CSU und AfD. Sie geht zurück aufs Jahr 2015, zur sogenannten „Grenzöffnung“, die eigentlich eine unterlassene Grenzschließung war. Denn bis September 2015 war die deutsche Grenze nach Österreich offen, wie in der EU üblich. Nach der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen führte die Bundesregierung Grenzkontrollen ein. Per mündlichem Befehl ordnete der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) aber an, dass weiterhin jeder Flüchtling eingelassen wird, der einen Asylantrag ankündigt. Diese Anordnung gilt bis heute.

Die Konservativen halten das für rechtswidrig. Horst Seehofer verstieg sich im Februar 2016 sogar zur Formel von der „Herrschaft des Unrechts“, die die AfD seither genüsslich wiederholt. Ihr Ansatzpunkt ist das deutsche Asylgesetz, das in Paragraf 18 tatsächlich eine Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze vorsieht. Zwei Fälle sind dort genannt: wenn Flüchtlinge aus einem sicheren Drittstaat einreisen (zum Beispiel aus Österreich) und wenn es Anhaltspunkte gibt, dass ein anderer EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist (etwa Italien). Die konsequente Anwendung dieser Vorschrift würde eine neue deutsche „Mauer“ an den Grenzen zu den EU-Nachbarn erfordern, dann aber dazu führen, dass es in Deutschland fast keine neuen Flüchtlinge mehr gäbe.

Die AfD hat jüngst sogar Verfassungsklage eingereicht, weil der Paragraf 18 des Asylgesetzes nicht einfach per Ministeranordnung jahrelang außer Kraft gesetzt werden könne. Hierfür wäre zumindest ein Gesetz erforderlich gewesen. Wann darüber entschieden wird, ist noch nicht absehbar.

Es ist das wichtigste Vorhaben seiner ersten Regierungsmonate: der sogenannte Masterplan Migration, den Innenminister Horst Seehofer (CSU) seit seinem Amtsantritt im März erarbeiten ließ. Dieser umfasse 63 Maßnahmen, verkündete er am Wochenende via Bild am Sonntag. Seehofer zufolge sollte die Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen Bestandteil des Maßnahmen­pakets sein. Auch sollten abgeschobene Asylbewerber, die wieder nach Deutschland einreisen wollen, an der Grenze abgewiesen werden.

Ob der Rest der Regierung und insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Vorschläge mittragen würden, blieb in den letzten Wochen unklar. Dass der Termin nun kurzfristig verschoben wurde (siehe Text), spricht das eine deutliche Sprache: Offenbar ist es Seehofer bislang nicht gelungen, die Kanzlerin von seinen Vorhaben zu überzeugen.

Überzeugungsarbeit ist nach wie vor auch bei einem weiteren wichtigen Punkt des Maß­nahmenpakets wichtig, den sogenannten Ankerzentren, in denen nach Seehofers Plänen Flüchtlinge künftig von der Ankunft bis zur Abschiebung kaserniert sein sollen. Der Masterplan sah Seehofers Ankündigung zufolge hier unter anderem vor, dass an die BewohnerInnen dieser Lager künftig keinerlei Geld-, sondern nur noch Sachleistungen ausgezahlt werden sollten.

Doch auch gegen die Anker­zentren gibt es heftigen Gegenwind. Zuletzt war Seehofer letzte Woche damit gescheitert, auf der Innenministerkonferenz eine einheitliche Linie etwa zur Größe der Zentren durchzusetzen – die Länder lehnten dies vehement ab, nun soll es für jedes Bundesland eigene Vorgaben geben. Eigentlich hatte See­hofer angekündigt, bis Herbst mindestens fünf Ankerzentren zu eröffnen. Neben Bayern hat bislang aber nur Sachsen signalisiert, sich an der kon­kreten Umsetzung dieses Vor­habens zu beteiligen. (mgu)

Die herrschende Auffassung in der Rechtswissenschaft, etwa der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym, hält aber schon den Ansatz der AfD für falsch. Die Vorschrift des Asylgesetzes sei durch die Dublin-III-Verordnung der EU „überlagert“. Danach müssen alle, die an der Grenze Asyl beantragen, provisorisch aufgenommen werden, damit der EU-Staat identifiziert werden kann, der für das Asylverfahren zuständig ist. Typischerweise sind es Länder an den EU-Außengrenzen wie Italien. Nach Absprache mit diesem Land werde dann der Flüchtling dorthin überstellt – außer Deutschland verpasst Fristen oder übernimmt freiwillig das Verfahren zur Entlastung dieser Staaten. Faktisch führt derzeit fast immer Deutschland das Asylverfahren durch.

Im Auftrag von Seehofer (damals noch bayerischer Ministerpräsident) erstellte Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio Anfang 2016 ein Gutachten, indem er zum Schutz der deutschen und bayerischen Staatlichkeit für eine Nicht-Anwendung der EU-Regeln plädierte. Er räumte aber ein, dass die Politik hier Gestaltungsspielraum habe. Seehofer verzichtete daraufhin auf die angekündigte bayerische Verfassungsklage gegen die Bundesregierung.

Kurze Zeit später zeigte eine Gruppe von Rechtsprofessoren um Christian Hillgruber, wie man die Dublin-III-Verordnung so auslegen kann, dass Zurückweisungen an der Grenze möglich bleiben. Dann müsste Österreich die Zuständigkeit prüfen – oder selbst die Grenzen schließen. So argumentiert in ihrer Klage nun auch die AfD. Und so wird wohl auch Seehofer argumentieren, wenn er Zurückweisungen anordnet. Letztlich müsste dann der Europäische Gerichtshof klären, wie das EU-Recht auszulegen ist, aber das könnte dauern.

Die Bundesregierung hat das Einlassen aller Asylantragsteller bisher sehr vage begründet. Nur vereinzelt sprach de Mai­zière, Seehofers Vorgänger als Innenminister, von einer „Überlagerung“ des Asylgesetzes durch Europarecht. Meist hieß es, man habe sich politisch geeinigt, „derzeit“ keine Zurückweisungen vorzunehmen. Offensichtlich wollte man sich bisher alle Handlungsoptionen offenhalten, auch mit Rücksicht auf den Regierungspartner CSU.

Nun aber sitzt die CSU im Innenministerium selbst am Hebel. Seehofer könnte von heute auf morgen anordnen, dass die Bundespolizei bei den Grenzkontrollen Zurückweisungen vornimmt. Er könnte die Bundespolizei zudem zu massiven Kontrollen in der 30-Kilometer-Zone hinter der Grenze verpflichten. Doch wie würde Österreich reagieren? Würde es die Zurückgewiesenen aufnehmen, versorgen und nun selbst die Dublin-Zuständigkeits-Klärung vornehmen? Oder würde es sich weigern, so dass an den deutschen Außengrenzen wilde Flüchtlingslager wie im griechischen Idomeni entstehen?

Seehofer könnte sofort anordnen, dass die Bundespolizei Flüchtlinge zurückweist

Interessanterweise hat CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der vor wenigen Tagen ebenfalls die Forderung nach Zurückweisung erhob und damit den ersten Testballon startete, die Einreise aus sicheren Drittstaaten nicht genannt. Er sprach nur von Flüchtlingen, die „in einem anderen EU-Staat bereits registriert wurden“. In mehreren Medienberichten wurde deren Zahl mit 64.267 angegeben. Diese Zahl ist aber irreführend. Es handelt sich nur um die Dublin-Übernahmeersuchen, die aber oft gar nicht gestellt werden, etwa wegen Fristablaufs oder wegen der Zustände im mutmaßlich zuständigen EU-Staat.

Im Jahr 2017 stellten 198.317 Personen in Deutschland einen Asylantrag. 125.282 Antragsteller waren mindestens 14 Jahre alt, das Mindestalter für die Erfassung von Fingerabdrücken bei der Registrierung. Etwa bei der Hälfte von ihnen wurden in der europäischen Asyl-Datenbank Fingerabdruck-Treffer festgestellt. Hinzuzurechnen sind Kinder, die mit ihnen eingereist sind. In rund 12.000 Fällen ist zudem eine Zurechnung zu anderen EU-Staaten über das Visa-Informations-System möglich. Wer einem Asylantragsteller ein Visum ausgestellt hatte, ist auch für dessen Asylverfahren zuständig.

Seehofer hat bis zuletzt an seinem Masterplan gefeilt und wohl auch mit den anderen Ressorts verhandelt. Eine Option für ihn war auch, Zurückweisungen an der Grenze erst dann vorzunehmen, wenn der im Koalitionsvertrag vorgesehene Korridor von 180.000 bis 220.000 Netto-Zuwanderern überschritten ist. Dann bekäme Seehofers „Obergrenze“ doch noch eine rechtliche Bedeutung.