piwik no script img

Pädagoge über Hass auf Juden„Antisemitismus ist ein Wissensdefizit“

Woher kommt der Judenhass arabischer Geflüchteter? Der Museumspädagoge Samuel Schidem versucht, sie zu kritischem Denken zu bringen.

Am Mittwoch ruft die Jüdische Gemeinde in Berlin zum Tragen einer Kippa auf Foto: ap
Andreas Hergeth
Interview von Andreas Hergeth

taz: Herr Schidem, Sie arbeiten mit arabischstämmigen Jugendlichen in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors. Warum?

Samuel Schidem: Der Berliner Senat hat im letzten Jahr Mittel zur Verfügung gestellt, um mit geflüchteten Jugendlichen zu arbeiten. Für diese sollte ich ein Bildungsangebot zu den Themen Demokratie und Antisemitismus entwickeln. Ich wollte ein Angebot nicht nur für, sondern mit Geflüchteten. Denn wir haben verstanden, was viele andere Einrichtungen nicht so gut verstanden haben, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, eine ganz andere Geschichte haben als das hier vorherrschende Geschichtsbild.

Zum Beispiel?

Mir fällt ein junger Mann ein, der aus dem Iran kommt. Dort war er Journalist und schrieb über die Holocaustleugnung. Er hat deshalb 13 Jahre im iranischen Staatsgefängnis verbracht. Wie kann ich diesem Menschen, der selbst in einer Diktatur gelebt hat, die hiesige Geschichte vermitteln, die für ihn völlig abstrakt ist? Wie kann ich Brücken schaffen? Bezüge herstellen? Ich vergleiche dabei Geschichte, ich mache sie aber nicht gleich. Ich setzte nicht die Nazidiktatur mit heutigen Diktaturen gleich. Diese Linie überschreite ich nicht.

Im Interview: Samuel Schidem

43, promovierter Philosoph, arbeitet bei der Stiftung Topographie des Terrors im Bereich Interkulturelle Bildung. Er wurde in Israel geboren und ist Druse.

Wie geht das: Geschichte vergleichen ohne gleichzusetzen?

Viele von den Leuten, die hier in Deutschland ihre Fluchtgeschichte aufarbeiten, haben einen Familienteil, der vielleicht gerade in der Türkei oder sonst wo sitzt – die Familie ist verstreut über den Erdball. Noch mal: Es ist keine Gleichstellung. Aber dass Familien zerrissen werden, Familienmitglieder umkommen oder ausgelöscht werden, das ist auch der Erfahrungshorizont der jüdischen Minderheit.

Diktatur und Krieg zerstören Familien.

Ja, hier setze ich an und wähle einen individuellen Zugang, auf die Biografie, die die Leute mitbringen, abgestimmt. Wir haben zum Beispiel in der Topographie des Terrors das historische Hausgefängnis. Die Biografien der damaligen Insassen löste bei den Teilnehmern sofort eine Faszination für deren Geschichten aus. Den gleichen Ansatz kann man wählen mit einer Gedenkstätte für Zwangsarbeit oder der Stasigedenkstätte in Hohenschönhausen oder die Berliner Mauer. Es gibt in Berlin so viel Geschichte …

Ist das der Schlüssel: Geschichte emotional erlebbar machen?

Nein, von diesem Begriff bin ich kein Fan. Das Emotionale haben sie schon durchgemacht auf ihrer Flucht. Ich bringe sie nur dazu, mit museumspädagogischen Mitteln, zu Zeitzeugen ihrer eigenen Biografie zu werden. Das ist ein Prozess. Das Thema Antisemitismus in all seinen geschichtlichen Facetten finde ich dabei unverzichtbar.

„Berlin trägt Kippa“

Der Auslöser Zwei Kippa-tragende Männer wurden am Dienstag vergangener Woche in Berlin von einem Arabisch sprechenden Mann angegriffen. Der mutmaßliche Angreifer, ein 19-jähriger Geflüchteter aus Syrien, sitzt in Untersuchungshaft. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat Einzelpersonen davor gewarnt, „sich offen mit einer Kippa“ in deutschen Großstädten zu zeigen.

Die Aktion Als Reaktion auf den Vorfall hat die Jüdische Gemeinde Berlin für Mittwoch zur Solidaritätsaktion „Berlin trägt Kippa“ vor dem Gemeindehaus in der Fasanenstraße aufgerufen. Auch in Potsdam, Köln, Erfurt, Magdeburg und anderen Städten haben Jüdische Gemeinden und ihre Partner ähnliche Aufrufe gestartet. „Zeig dein Gesicht und Kippa“ heißt es am 14. Mai in Frankfurt am Main. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) kündigte am Dienstag an, das Bundesprogramm gegen Antisemitismus „Demokratie leben“ zu verlängern. (heg)

Erklären Sie das genauer.

Antisemitismus ist nicht nur Hass, sondern auch ein Defizit, ein Wissensdefizit. Ein Wissen, das die geflüchteten Jugendlichen nicht haben. Wir haben kurdische Iraner, syrische Christen, sunnitische Syrer. Mein Ansatz ist nicht der, dass ich sie politisch umstimmen möchte. Mein Ziel ist, dass sie selbst kritisches Denken entwickeln. Wenn ich das erreiche, dann setzt sich ein Prozess fort. Und dass man anfängt, Fragen zu stellen zum eigenen Narrativ, zum Narrativ der Großeltern, zum nationalen und religiösen Narrativ – das ist toll. Wenn sie kritisches Denken lernen, muss ich deren politische Meinung nicht verändern wollen. Das entwickelt sich dann vielleicht von ganz allein.

Wie halten Sie den Spagat aus? Als in Israel aufgewachsener Druse kennen und verstehen Sie ja Araber wie Juden gleichermaßen.

Mein Ansatz ist, dass ich keine Sympathie oder Empathie für eine bestimmte Minderheit habe. Ich bin keiner ethnischen Gruppe und keinem Staat oder irgendeiner Nation verpflichtet, sondern der Verfassung und der Demokratie und der universellen Lehre. Ich finde es absurd, von Leuten, die zum Beispiel Palästinenser sind, zu erwarten, dass sie zum Thema Israel plötzlich ihre Meinung ändern. Von heute auf morgen. Weil sie zum Beispiel ein Konzentrationslager besucht haben. Das erwarte ich nicht. So eine Idee kann von Politikern kommen, nicht von Pädagogen.

Seit wann arbeiten Sie mit den Teilnehmern?

Seit März 2017 durchgängig, anfangs drei- bis viermal im Monat, jetzt, nach veränderter Finanzierung, nur noch zweimal im Monat.

Sehen Sie Erfolge?

Ich kann deutliche Veränderungen erkennen. Wenn die Teilnehmer selbst sagen: Wir müssen was tun! Okay, frage ich dann: Was denn? Der eine sagt, wir können doch auch teilnehmen an der Aktion „Berlin trägt Kippa“ und eine Kippa tragen – ich würde es tun. Das ist doch toll.

Aber es gibt sicher auch Rückschläge?

Ja, auch. Die stellen sich ein, weil Menschen Emotionen haben. Die jungen Leute sind viel in Social Media unterwegs und es ist schwer, sie dort zu erreichen. Ich bin aber froh, dass wir eine Atmosphäre des Vertrauens geschaffen haben. Alles ist erlaubt. Ich urteile nicht, weil sie etwas antisemitisch formuliert haben. Denn ich weiß: Das haben sie in ihrer Heimat unter den Bedingungen einer Diktatur, die Israel und die Juden hasst, gelernt.

Letztlich bilden Sie Multiplikatoren aus.

Richtig. Pädagogische Konzepte haben wir dafür genug. Aber wieso muss ein Druse aus Israel hier in Deutschland gerade in diesem Bereich tätig sein? Das ist absurd. Das ist vielleicht ein Kompliment für mich und meine Arbeit. Aber es ist ein Defizit und ein Armutszeugnis für die Bildung und die Art und Weise, wie man in Deutschland Menschen bildet. Diese Themen müssen befreit werden von Nationalismus, von nationalen Gefühlen, von Religion, von den christlich-jüdischen Zusammenhängen, von all dem. Die Bildung muss für alle zugänglich und universell werden. Wir brauchen mehr Brückenbauer.

Gehen Sie Mittwoch selbst zur Aktion „Berlin trägt Kippa“?

Ich halte nicht so viel von Aktionismus, ich glaube an Prozesse. Wissen Sie, was ich tragen würde, wenn ich hingehen würde? Einen Zylinder wie ihn die Juden in Deutschland in Zeiten der Aufklärung trugen. Ich bin den jüdischen Traditionen sehr verbunden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

15 Kommentare

 / 
  • Ganz im Ernst: Wir sollten uns alle mal wieder gemeinsam 'Die Abenteuer des Rabbi Jacob' anschauen.

    • @Adele Walter:

      Ich mag diesen Film auch. :-)

  • Wieso gerade ein Druse aus Israel den Job machen soll, den eigentlich die deutsche Gesellschaft erledigen müsste? Ganz einfach: Weil sich die aller meisten Deutschen ebenfalls ihrer Geschichte verpflichtet fühlen. Nur leider anders, als hilfreich wäre.

     

    Die meisten Deutschen würden auch Zylinder tragen, wenn man sie ließe. Das Problem dabei: In der deutschen Geschichte galt es Zylinderträgern immer als erstrebenswert, nicht selbst arbeiten zu müssen, sondern arbeiten lassen zu können. Zudem hat sich die Idee der Investition, die sich möglichst dreistellig "rechnen" soll, in fast allen Köpfen ganz tief festgebissen.

     

    Man will vom jedem Euro, den man investiert in einen Drusen aus Israel, vielfach profitieren. Und zwar dadurch, dass man sich faul zurück und die Füße hoch legen kann, nachdem man einen Euro eingeworfen hat. Der Druse soll sich bitteschön rentieren. Leider überfordert man die weitgereisten, traumatisierten israelischen Drusen leicht heillos, wenn man sie dergestalt ausbeutet, statt sie wie Gleichwertige zu behandeln, nachdem sie mühsam genug etwas dazugelernt haben. Und dann war alles für die Katz - das Geld, die Arbeit und auch das Vertrauen.

     

    Nein, die Kapitalisten-Mentalität hilft niemandem sich zu entwickeln. Sie kann höchstens eine materielle Basis schaffen für Entwicklungen. Aber nur, wenn sie nicht absolut verherrlicht wird als ultimative Lösung für jegliches Problem. Auch die Gier muss kontrolliert werden vom mündigen Erwachsenen. Genau wie seine Blase oder sein Schließmuskel. Gerade die Gier muss kontrolliert werden. Denn sie ist auch nur eine menschliche Eigenschaft. Eine mit einem Januskopf.

    • @mowgli:

      Ist es aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll, wenn jemand mit den jugendlichen Flüchtlingen arbeitet, der ihre Sprache spricht und ihr Denken möglicherweise besser versteht als ein Deutscher?

       

      Woher nehmen Sie die Erkenntnis, Herr Schidem sei traumatisiert oder weitgereist? Das Interview gibt das ja nun gar nicht her.

       

      Und überfordert wirkt der Mann auf mich erst recht nicht. Im Gegenteil. Und vielleicht hat er seine demokratische Überzeugung schon mitgebracht, musste also nicht "dazulernen".

  • Die Strategie von Herrn Schitem erscheint gut zu sein, auch weil er säkulär/moderne Wissenkonzepte anwendet, um quasi `postmodern´Verständnis für antiquierte religiöse Werthaltungen des Semitismus und des Islam bei den Jugendlichen zu inspirieren! Kompliziert ist es, m.E. , das Herr Schitem oftmals mit psychisch traumatisierten Jugendlichen konfrontiert ist. Zudem: das "Wissendefizit" , welches Herr Schitem bei den Jugendlichen, die aus deren islamischer Erziehung resultiert, sieht,

    das gilt m.E. gleichermassen für viele Jugendliche , die israelisch-semitische Erziehung genossen haben! Die verschiedenen Eschatologien des religiösen stehen verfeindet gegeneinander! Es gilt sich daran zu erinnern, das der historische Zionismus aktiv war, um die semitische Religionsgemeinschaft für modernes, säkuläres Denken zu öffnen! ( siehe Adorno, Einstein uva.!)

    Durch hässliche, antisemitische Pogrome in Europa, und besonders durch die NAZI Morde an Juden im 3.Reich, gerichtet gegen das Sendungsbewusstsein semitischer Eschatologie.. verwandelte sich der modern/säkulär orientierte Zionismus in eine art `notwendige´ militante Schutzfunktion des Semitismus!

    Den heutigen Hass zwischen den eschatologischen Wissen und Dogmata Verschiedenheiten zu überwinden, ist wohl nur möglich durch neues Bewusstsein und Wissen im Lichte moderner, kosmopolitischer Säkularität und Toleranz gegenüber dem historisch religiösen Denken.. "JA ZUM ZYLINDER" auf dem Haupt von Herrn Schitem !

  • Wenn man aus dem Iran, Syrien oder Lybien flüchtet, hat man eine ähnliche Geschichte wie die Juden Europas.

     

    Wo sind denn die Eisenbahngleise, die Millionen der eigenen Bürger in den Tod gefahren haben in Syrien oder dem Iran? Das ist eben verdammt noch mal kein Vergleich!

     

    Und beim Rest hat der Mann auch Recht. Das ist kein Karneval wo man sich verkleidet und einen Tag auf weltoffen macht.

    • @Sven Günther:

      Maßstäbe

       

      Zitat von @SVEN GÜNTHER: “Wo sind denn die Eisenbahngleise, die Millionen der eigenen Bürger in den Tod gefahren haben in Syrien oder dem Iran?“

       

      Es ist die präzedenzlos Erfahrung der Judenverfolgung durch die deutschen Hakenkreuzler und ihrer willigen Helfer in den besetzten Ländern, die die Genfer Flüchtlingskonvention zum Maßstab machte, ohne die es sie nicht gäbe, vor allem aber die ruchlose Haltung so mancher westlich-demokratischer Regierung bei der restriktiven Immigrationspolitik (Konferenz von Evian, St- Luis-Affäre, massenhafte Zurückweisung jüdischer Flüchtlinge an der Schweizer Grenze, Internernierung deutsch-jüdischer Flüchtlinge in Frankreich und Großbritannien nach dem 1. Sept. 1939 usw.) Im übrigen sei daran erinnert, daß die Shoah als industriell mit deutsch-preußischer Gründlichkeit betriebener Massenmord erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion einsetzte. Davor gab es auch in Deutschland noch keine „Eisenbahngleise, die Millionen der eigenen Bürger in den Tod gefahren haben“, die als Bedingung für den Status rassenpolitisch Verfolgter hätte gelten müssen: Auch schon vor Auschwitz waren die Juden Flüchtlinge im heutigen Sinne der Genfer Konvention. Nach dem 1. September war eine Flucht aus Deutschland ohnehin nicht mehr möglich.

  • Ergänzung:

    Hebräer und Araber haben mehr gemeinsam als ich und mein Cousin. ;)

     

    Semitische Kultur, sogar ide sprache ist sehr ähnlich anstatt Suleiman, sagt manSalomon, Ibrahim, Abraham, Salam, Shalom, usw, usw usw...

    wie auch immer... das Problem liegt total wo anders!

  • „Islamophobie ist ein Wissensdefizit"

    • @Tino Trivino:

      Oder Lebenserfahrung?

  • Der Zentralrat der Muslime in Deutschland bestätigte, dass Antisemitismus, Rassismus und Hass zu den größten Sünden nach Islam zählen.

     

    Somit wären auch viele Beschuldigungen aus der rechten Szene, die Islam mit dem Hass, Verbrechen und Gewalt gleich setzen, bloße Lügen, Angstmacherei und Verbreitung von Rassismus.

     

    Es gibt natürlich auch vereinzelt Moslems, die das nicht verstehen oder nicht akzeptieren wollen. Dann sind diese einzelnen Menschen keine richtigen Moslems laut Islam.

    • @Stefan Mustermann:

      ntisemitismus, Rassismus und Hass gehören zu den größten Sünden nach Islam? ... da hat der Islam ja allen Religionen was voraus.

  • Mir fehlt die echte Erfolgsmessung für solche Projekte. Klingt alles sehr vage.

  • Ein sehr selektiver Ansatz wie ich meine. Spezifisch auf Antisemitismus; reicht das?

    Es geht doch darum, dass der Hass unter den Menschen; also zwischen verschiedenen Ethnien, Religionen, individuellen Orientierungen .... ein allgemeines Problem darstellen.

    Wer würde denn ein Projekt aufsetzen , dass wir ein Trainig aufsetzen für Schiiten mt dem Ziel Toleranz gegenüber Wahhabiten zu üben....!

    Ich bin sehr für derlei Projekte, die sollten aber breiter aufgesetzt werden, multilateraler.

    Auch hier lese ich, Sparmaßnahmen, nur zweimal im Monat....Feigenblattpolitik?

    • @Tom Farmer:

      Der Ansatz ist aber schon gut: Nach Gemeinsamkeiten und verbindenden Erfahrungen suchen anstatt nach Unterschieden und Trennendem. Das schafft dann bessere Voraussetzungen für Empathie, oder zumindest den Keim dafür.

       

      Das ist in der Regel auch erstaunlich einfach, wenn man es mal versucht, denn wir haben alle viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.