Nahles zur Parteichefin gewählt: Die letzte Chance für die SPD

Mit mauem Ergebnis ist Andrea Nahles zur SPD-Chefin gewählt worden. Die Aufgaben, die auf sie warten, sind riesig.

DIe Buchstaben SPD auf einem Tisch, davor ein Teddy und ein Zettel mit "Wählt die Frau! #girlpower"

Gesagt, getan: Zettel auf dem SPD-Parteitag Foto: dpa

WIESBADEN taz | Andrea Nahles schaut tapfer geradeaus in die Kameras. Sie stützt die Ellenbogen auf den Tisch, ihr Lächeln wirkt gequält. Lars Klingbeil, der SPD-Generalsekretär, schüttelt ihre Hand. Auch Bundesvize Ralf Stegner beugt sich rüber und gratuliert. Gerade hat die Leitung des SPD-Parteitags das Ergebnis bekannt gegeben: 66 Prozent der Stimmen.

Ein starkes Votum ist das nicht, Nahles hätte sich mehr Rückenwind gewünscht. Hinter vorgehaltener Hand hatten SPDler gesagt, 75 Prozent könnten es schon sein. Schließlich trat Nahles gegen eine unbekannte ­Kommunalpolitikerin an, die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange. Doch, auch das ist klar, schon bald wird niemand mehr über diese Zahl reden. Gewählt ist gewählt.

Andrea Nahles ist nun SPD-Vorsitzende. Zum ersten Mal seit 155 Jahren steht eine Frau an der Spitze der Sozialdemokratie, das ist ein historischer Moment.

Die Aufgaben, die auf sie warten, sind riesig. Nahles, so die Idee, soll ein Machtzentrum neben der Regierung bilden. Sie soll die viel beschworene Erneuerung vorantreiben, der SPD ein kantiges Profil verpassen und den gefährlichen Sinkflug stoppen. Viele glauben, dass die nächsten dreieinhalb Jahre die letzte Chance für die Partei sind. Beim Parteitag im neuen Wiesbadener Kongresszentrum, in dem sich gut 600 Delegierte trafen, deutete sich an, wie Nahles die SPD positio­nieren will.

Mittags tritt sie ans Rednerpult. Eine halbe Stunde hat sie Zeit für ihre Bewerbungsrede, darauf haben sich die Bewerberinnen geeinigt. „Mädchen, Land, Arbeiterkind“, sagt Andrea Nahles – und dann noch katholisch. „Es war nicht logisch, dass ich in der SPD Karriere mache“.

Die SPD-Fraktionschefin zieht gleich am Anfang alle Register. Nahles, mit deren burschikoser Art manche fremdeln, gibt sich nahbar. Überhaupt ist sie gut in Form. Sie ballt die Fäuste, reckt beide Zeigefinger in die Höhe und ruft, nein brüllt, dass es „die gläserne Decke für Frauen in der SPD“ mit ihrer Wahl zur Parteichefin nicht mehr gibt. Nahles, das Role Model.

Sie rudert mit den Armen. Die neue Vorsitzende präsentiert eine politische Tour d’Horizont – von der rechtspopulistische Gefahr bis zur Erwerbsminderungsrente, von Heimat als sozialdemokatischem Wert bis zur Russlandpolitik. Hier redet eine Generalistin, sehr laut, wie Nahles eben ist. Aber ohne zu überdrehen.

Simone Lange, Kandidatin

„Vater und Mutter Staat sind zu Rabeneltern geworden“

Sie gibt erst die pragmatische Regierungpolitikerin, wechselt den Ton, wettert gegen die „neoliberale, turbokapitalistische Welt“ und poltert gegen die FDP, was immer gut ankommt. Sie zappt in fliegendem Wechsel durch die Rollen, gibt auch die Basissozialdemokratin, die zehn Jahre Kreisvorsitzende war. Damit will sie der Kritik entgegentreten, dass sie, die Etablierte, unfähig ist mit der Erneuerung Ernst zu machen.

Sie sagt nichts Neues. Dass man große Internetfirmen bändigen muss und gute Schulen braucht, hat man alles schon gehört. Aber sie tut es sehr schwungvoll. Klar ist, dass die Agendapolitik mit Nahles als SPD Chefin bleibt. Zwar räumt sie ein, dass die Hilfen des Sozialstaates von vielen Bürgern eher als Hindernisparcours wahrgenommen würden. Aber sie sagt auch: „Wenn wir Hartz IV abwickeln, haben wir noch keine Frage beantwortet.“

Recht blass blieb bei der 47-Jährigen, wie die SPD denn aus ihrer Krise kommen soll. Auch die Wahlanalyse ist schattenhaft. Man habe die Wahl verloren, weil die SPD nicht sagen konnte, wie sie mehr Gerechtigkeit erreichen werde, ruft sie. Das kann man glauben oder nicht: Schließlich hat die SPD unter dem überforderten Martin Schulz im Wahlkampf im Wochentakt Konzeptpapiere vor­gestellt.

Wie sie, die als Fraktionschefin Kompromisse mit der Union schmieden wird, sich als Parteichefin die SPD profilieren will, bleibt auch vage. Nahles versichert auf eine Delegiertenfrage zwar, beide Rollen ausfüllen zu können – sagt aber nicht, wie. Dabei ist dies ein schwer auflösbarer Widerspruch: Sie muss die Mehrheiten im Parlament für die Regierung organisieren, sich aber gleichzeitig taktisch davon absetzen.

Nahles kämpferisch, Lange besonnen

Vor Nahles stellte sich die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange den Delegierten vor. „Ich möchte mich bei den Menschen für Hartz IV entschuldigen.“ Die Diskussion über die Agenda 2010 sei „keine Vergangenheitsdebatte“. Der Kern ihrer Rede lautet: Die SPD muss wieder mehr Staat wagen. „Für viele sind Vater und Mutter Staat zu Rabeneltern geworden.“

Die SPD müsse klar für soziale Gerechtigkeit stehen. Für den Satz, „Kein Kind soll in Deutschland in Armut groß werden müssen“, bekommt sie viel Applaus. Langes harte Kritik an Hartz IV kommt bei SPD-Linken gut an. So hatte sie sich bei ihrer Werbetour durch die Landesverbände präsentiert. Als linke Frau der Basis, als Kandidatin gegen das Parteiestablishment. Sie sagt: Heute gehe es um die Ausrichtung der SPD.

Interessant ist der Ton der Reden. Nahles agitiert kämpferisch, dringlich, auch aufdringlich. Lange klingt besonnen, fast betulich, eher als stünde sie auf einer Kanzel. Die Rollen scheinen vertauscht. Die etablierte Nahles tritt als dampfende Volkstribunin auf. Die linke Rebellin Lange wirkt zurückgenommen, fast etwas schüchtern.

Dass Nahles SPD-Chefin würde, war von Beginn an klar. Nicht nur Juso-Chef Kevin Kühnert, auch SPD-Linke wie Niels Annen und Ralf Stegner hatten vor dem Parteitag zur Wahl von Nahles aufgerufen. Der Parteivorstand, moderate Linke, der rechte Seeheimer Kreis– alle votierten für die Fraktionschefin.

Dass Ergebnis von 66 Prozent zeigt, dass die Partei nach dem Zickzackkurs in Sachen Groko reserviert auf ihre neue Chefin schaut. Auch dass sie nach Schulz’ Rücktritt sofort als kommissarische Chefin antreten wollte, kam bei vielen nicht gut an. Und Simone Lange, die krasse Außenseiterin, schafft mit knapp 28 Prozent einen Achtungserfolg.

Die SPD hat, ohne viel Leidenschaft, das Bewährte gewählt.

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