: Schrippen für die Ärmsten
Wohnungslos Das erste deutsche Obdachlosenasyl öffnete 1869 in Berlin. Und im Winter 1891/92 gab es erstmals Wärmehallen mit Plätzen für Tausende. Heute gibt es nur 130 Schlafplätze das Jahr über – für ganz Berlin. Kleine Geschichte der Wohnungslosenhilfe
Von Claudia Tothfalussy
Historisch betrachtet ist der Umgang einer Gesellschaft mit Obdachlosen eng mit dem Wandel der Einstellung zur Arbeit verknüpft. Galt in der Antike noch derjenige als arm, der arbeiten musste, wurde mit der Etablierung kapitalistischer Strukturen ab dem Hochmittelalter als arm bezeichnet, wer keine Arbeit hatte oder sie verlor. Gleichzeitig erfolgte eine Einteilung in wahrhaftig Bedürftige und selbst verschuldete Wohnungslose.
Eine der ersten Institutionen der Wohnungslosenfürsorge war vor 400 Jahren das Arbeitshaus, wo anfangs sogar Qualifikationen vermittelt wurden. Doch im späteren Verlauf dienten die Arbeitshäuser viel mehr als Besserungsanstalt für sozial schwierige Fälle. Erschwerend kam die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit hinzu, die das preußische Gesetz 1851 ermöglichte.
Im 19. Jahrhundert wurde mit der Errichtung von Obdachlosenasylen erstmals ein humanistischer Anspruch erkennbar, der Wohnungslose vor Arbeitszwang schützte und Anonymität garantierte.
Das erste deutsche Asyl öffnete 1869 in Berlin für Frauen und Mädchen in der Dorotheenstraße/Ecke Wilhelmstraße. Zu jener Zeit bildeten obdachlose Frauen die Mehrheit. Nicht nur ihre Armut bot eine Angriffsfläche – sie wurden zudem verdächtigt, der Prostitution nachzugehen. Noch im gleichen Jahr entstand in der vom Asyl-Verein gegründeten „Wiesenburg“ Platz für über 1.000 Männer und Frauen. Später wurde die „Palme“ im Prenzlauer Berg zum größten Asyl der Stadt, in dem bis zu 5.000 Personen, auch Frauen, Platz fanden.
Überfüllte Wärmehallen
In jenen Jahren entstand die erste Form der Kältehilfe. Durch die Einrichtung von Wärmehallen im Winter 1891/92 bekamen Wohnungslose die Möglichkeit, sich von Mitte November bis Mitte März tagsüber aufzuwärmen und eine kostenlose Mahlzeit zu sich zu nehmen – bis sie abends erneut ein Nachtasyl aufsuchen mussten. Oft durfte man nur zwei Stunden in einer Halle verweilen, in die sich teilweise bis zu 2.500 Personen zwängten.
Ein weiterer Ort, der Eigenschaften der heutigen Kältehilfe aufwies, war die sogenannte Schrippenkirche. Beim 1882 gegründeten Verein „Dienst an Arbeitslosen“ wurde zum Sonntagsgottesdienst den Teilnehmenden zwei Schrippen und ein Kaffee angeboten.
Durch sozialpolitische Maßnahmen während der Weimarer Republik nahm die Anzahl der Wohnungslosen stark ab. Doch nach 1945 konnte man in der Stadt wieder die traditionellen Wohlfahrtsangebote wie Obdachlosenasyl und Suppenküchen finden.
Stigmatisiert von jeher
Die dauerhafte Unterbringung Wohnungsloser war vor über 100 Jahren wesentlich besser gewährleistet als heutzutage, auch wenn die Zahl der Wohnungslosen damals ungleich höher war. Mit der Notübernachtung in der Franklinstraße und einigen kleineren Einrichtungen gibt es nur etwa 130 Schlafplätze, die das gesamte Jahr über zur Verfügung stehen – für ganz Berlin.
Die Berliner Kältehilfe in den Strukturen wie wir sie heute kennen – mit der Koordination über das Kältehilfetelefon –, besteht erst seit 1989. Verschiedene Träger betreiben zwischen dem 1. November und 31. März Notübernachtungen, Treffpunkte sowie Beratungsangebote.
Noch heute werden Wohnungslose stigmatisiert, vor allem diejenigen, die sich auf Jobsuche befinden und feststellen müssen, dass den meisten Arbeitgebern eine Postadresse, wie man sie etwa in der Beratungsstelle in der Levetzowstraße einrichten lassen kann, nicht ausreicht: Ohne Unterkunft keine Arbeit. Ein hartes Los, wenn einem ständig vermittelt wird: Ohne Arbeit bist du nichts!
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