: Bomben aus Lebensmitteln!
Noch gucken die Bürger nur erschüttert zu, wie aus Terror Krieg wird. Doch Politik von unten ist möglich. Eine Erinnerung an die Frauenaktion Scheherazade im Golfkrieg
Aus der Behandlung von Traumatisierten ist ein Phänomen bekannt, das man Refundamentalisierung nennen könnte. Erwachsene, denen ein entsetzliches Ereignis den Boden unter den Füßen weggezogen hat, geraten in einen Zustand tiefer Regression; sie klammern sich plötzlich an die Bilder, die das Urvertrauen in ihrem Kindesalter mitkonstituiert haben. Dazu gehören holzschnittartige Vorstellungen von Gut und Böse.
Nun sind ein ganzes Land und eine halbe Welt traumatisiert worden. Nicht allein durch die Ereignisse, sondern auch durch ihre sprichwörtliche Unbegreifbarkeit. Nicht eine einzige Forderung haben die Massenmörder hinterlassen, nur die Leere der Zerstörung. Auch das FBI scheint immer noch nicht sehr viel zu wissen. Eine paar Verhaftungen nach der größten Fahndungsaktion der Geschichte – was ist das schon. Nur über einige Attentäter wissen wir inzwischen ein bisschen. Dass sie glatt rasierte, scheinbar bestens integrierte Akademiker waren, die zumindest vor dem Anschlag die Wodkaflasche kreisen ließen, macht die Sache nur noch unheimlicher: Islamisten trinken keinen Alkohol. Gibt es terroristische Zellen, die von Ussama Bin Laden finanziert werden, aber faktisch autonom agieren? Diese Frage entscheidet, ob man die Hintermänner überhaupt militärisch ausschalten kann.
In den ersten Tagen nach dem Anschlag sind ein intellektuell überforderter Präsident und eine traumatisierte Bevölkerung offenbar in den Zustand der Regression und Refundamentalisierung geraten. Der Präsident rief, die christlichen Werte seiner Kindheit verzweifelt umklammernd, den Krieg „des Guten gegen das Böse“ aus, ja, er beschwor sogar einen „Kreuzzug“. Archaische Bilder stiegen auf: Rache, Vergeltung, Blutbäder, Armageddon. Kommentatoren gerieten in kindische Zustände und entdeckten das „Böse an sich“, und die Neuzeit wurde zum Mittelalter umgedichtet. Bush merkte nicht einmal, dass er damit gemeinsame Sache mit Ussama Bin Laden machte: Dieser sehnt doch nichts mehr herbei als einen Weltkrieg zwischen Islam einerseits und Juden- und Christentum andererseits.
In mancherlei Hinsicht erscheint dieses Szenario wie eine Wiederholung des Golfkrieges 1991. Zusammen mit anderen Frauen habe ich damals die „Internationale Frauenaktion Scheherazade“ gegründet und einen Aufruf „Welturabstimmung gegen den Krieg“ in der taz veröffentlicht, mit der Bitte, ihn in alle Welt zu faxen. Scheherazade hatte ihre vom Sultan bedrohten Schwestern durch Märchenerzählen gerettet, der Name war also eine Metapher für das Prinzip Dialog statt Krieg. Wahrscheinlich war es gerade der naiv-utopische Ton, die Forderung, „jeder einzelne Mensch in dieser Welt muss in diese Frage auf Leben und Tod angehört werden“, dass der Aufruf binnen drei Wochen – damals noch ohne Internet – rund um die Welt ging. Es meldeten sich prominente und nicht prominente Unterzeichnerinnen aus allen Kontinenten bis hin zu den Tonga-Inseln.
Scheherazade wurde zu einem diffus wuchernden, internationalen, aktionistischen Netzwerk. Um nur einige Ereignisse zu nennen: Für Frauen aus dem arabischen Raum war der Aufruf eine „Initialzündung“, selbst aktiv zu werden; in Marokko organisierte die Soziologin Fatima Mernissi zusammen mit maghrebinischen, deutschen und US-Feministinnen einen Workshop über einen zu gründenden „Weltsicherheitsrat der Frauen“; in Ecuador organisierte eine Menschenrechtsorganisation eine Volksabstimmung über den Krieg; in New York wurden dem UN-Generalsekretär in Gestalt seines Pressechefs schließlich rund 50.000 Unterschriften übergeben. Ich glaubte damals nicht unbedingt, besonders viel erreicht zu haben. Tatsächlich aber, so hörte ich später mehrfach, hat unser Auftreten in der UNO die „feministisch-pazifistische Fraktion“ dort gestärkt.
Auch jetzt gibt es wieder fieberhafte Überlegungen unter den damaligen Aktivistinnen, wie man das Netzwerk reaktivieren könnte. Die Sorgen, dass die Situation weltweit eskalieren könnte, sind riesig; im Internet und anderen Unterströmen der Gesellschaft brodelt es; schon gehen wieder SchülerInnen demonstrieren, immer die sensibelsten Indikatoren für die Stimmungslage der Nation. Und auch in den USA werden immer mehr Stimmen gegen einen Kriegszug laut (www.alternet.org). Aber wohin mit den Ängsten, was wäre zu tun? Druck auf die Regierungen ausüben in jeder Form. Um was zu fordern? Politische statt militärische Lösungen.
Noch haben die USA fast alle Staaten dieser Welt auf ihrer Seite; das ist ein unschätzbares Pfund, mit dem eine besonnene Regierung zu wuchern verstünde. Eine weltumspannende politische Koalition gegen den Terrorismus unter Einschluss der islamischen Staaten erscheint als die einzige realistische Chance. Nur sie würde ermöglichen, die Hintermänner Bin Ladens in 34 Ländern zu verfolgen, den Zugriff des Millionärs auf seine Konten und die Finanzierung weiterer Terroranschläge zu unterbinden sowie das Heranwachsen neuer Terrorführer zu verhindern. Parallel dazu wäre eine neue umfassende Nahost-Initiative nötig. Da die Regierung Scharon ohne amerikanische Gelder und Waffen nicht lebensfähig wäre, kann die US-Regierung hier massiven Druck ausüben – was sie im Moment auch zu nutzen scheint.
Die Bombardierung Afghanistans hingegen schafft nur neues Leid und die Legitimation für neue Gewalt, der Bürgerkrieg im atomar bewaffneten Pakistan ist schon greifbar. In einem Überraschungscoup sollten die USA lieber Lebensmittel abwerfen. Andernfalls würde ein Volk getroffen, das seit zwei Jahrzehnten durch das Martyrium von Krieg, Bürgerkrieg und religiösem Terror geht und akut vom Verhungern bedroht ist. Die Wahrscheinlichkeit, gezielt Ussama Bin Laden und seine Kämpfer treffen zu können, dürfte bei nahezu null liegen, ob diese nun lachend in ihren Verstecken sitzen oder unter einem Frauenschleier über die Grenze geflüchtet sind.
„Glauben die USA wirklich“, schreibt eine antifundamentalistische Exilorganisation afghanischer Frauen (http://rawa.fancymarketing.org), „dass durch militärische Attacken, denen Tausende von verelendeten und unschuldigen Menschen zum Opfer fallen würden, die Wurzeln des Terrorismus herausgerissen würden, oder wird der Terrorismus dadurch nicht erst recht verbreitet?“
Man kann nur begrüßen, dass jetzt auch die UNO dazu beitragen will, größtmögliche politische Koalitionen gegen den Terrorismus zustande zu bringen. Alle Koalitionen von oben, getragen von teilweise korrupten Regierungen, nützen längerfristig jedoch wenig, solange sie nicht von unten, von NGOs, von Fraueninitiativen unterstützt werden – und in diesem Sinne wünsche ich mir neue Scheherazade-Aktivitäten, die vielleicht nicht kurz-, aber mittelfristig wirken. Frauen, schon seit Jahren Opfer fundamentalistischen Terrors, sind die natürlichen Koalitionspartner einer weltweiten Antiterrorpolitik. UTE SCHEUB
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