piwik no script img

talkshowZuversicht kommt nicht von alleine

Frieden und weniger Not in Syrien erreicht man nicht mit Wahlkampfparolen über Abschiebungen.Unser Autor ist seit vielen Jahren für die Region aktiv und plädiert für pragmatisches Anpacken

Aleppo, drei Tage nach dem Sturz des Assad-Regimes Foto: Ivor Prickett/NYT/Redux/laif

Von Christian Springer

Jeden Tag um 7.15 Uhr morgens klingelt mein Handy. Es ist der Sicherheits­bericht aus Nordsyrien, damit wir in Deutschland wissen, wie die aktuelle Lage rund um unsere Hilfsprojekte ist, in Idlib, bei Aleppo und in Jerablus. Über tausend kleine Mitteilungen haben sich inzwischen angesammelt. Es ist die Chronik der Instabilität.

Ohne fundiertes Wissen um die Abkürzungen bleiben die Nachrichten allerdings ein Rätsel: GOS, SDF, GOR, OAG, HTS und etliche andere. Es sind die sogenannten Player in der Region, Gruppen, die mit Waffengewalt um die Vormacht ringen. Neulinge in unserer Organisation stolpern schon mal über NWS, dabei handelt es sich nur um die harmlose Ortsangabe: Nord-West-Syrien. Seit letztem Wochenende fehlt die größte Fraktion: GOS (Government of Syria) Forces, Assads Kampftruppe gegen Zivilisten, die für den Diktator allesamt „Terroristen“ waren. Sogar wenige Stunden nach dem Jahrhundertbeben im Februar 2023 mit über 60.000 Toten bombardierten Assads Flieger die Menschen im Epizentrum des Bebens – noch bevor ein einziger Hilfs-Lkw dort eintraf.

Das spiegelt die Gesamtsituation der humanitären Hilfe in Syrien wider. Der Krieg, das Erdbeben, der Zusammenbruch der Wirtschaft stürzten Millionen Menschen ins Elend. Humanitäre Hilfe wurde kaum zugelassen, und wenn, dann nur mit massiven Diebstählen durch die Regierung in Damaskus selbst. Die für die kostenlose Verteilung gelieferten Decken mit der Aufschrift „UN“ mussten die Syrer teuer am Markt kaufen. Aber erst, nachdem sich in den Lagerhäusern die Limousinen mit den verdunkelten Scheiben den Kofferraum gefüllt hatten.

Diese Limousinen mit ihren regierungsnahen Besitzern sind seit wenigen Tagen nicht mehr unterwegs. Ist jetzt endlich der Moment gekommen, in dem man in Syrien Menschen aus Dreck, Hunger und Armut retten kann? Die neuen Machthaber genießen auf dem Gebiet der humanitären Hilfe kein Vertrauen. Noch nicht. Immer wieder wurde in der Vergangenheit berichtet, dass das HTS die Verteilung von Hilfsgütern „reguliert“, das heißt konfisziert und an ihre Begünstigten verteilt. Sogenannte „Steuern“ wurde auf die Hilfsgüter erhoben. Im Blockieren von Spendengut waren sich Assad und seine Feinde einig.

Als wir unsere Lkws aus dem Libanon in das syrische Erdbebengebiet schickten, wurden sie von den Grenzposten Assads nicht einfach durchgelassen. Einmal wurde eine „Steuer“ von 5.000 US-Dollar verlangt, ein paar Tage später kam man nur durch, wenn der Besitzer (!) des Lkws persönlich anwesend war. Die Fantasie der Assad-Mafia kannte keine Grenzen. Alles diente vorgeblich der Sicherheit. Wenn wir sieben Lkws nach Syrien schickten, habe ich sie auf sieben verschiedenen Routen in das Zielgebiet fahren lassen. Wenn einer gestoppt und ausgeraubt wird, fällt nicht der ganze Konvoi in kriminelle Hände. Es waren viel Ortskenntnis, Geschick und unglaubliches Glück nötig, damit unsere Hilfsgüter ohne Verlust ihre Ziele erreichten.

Jeder weiß, dass in Syrien humanitäre Hilfe in großem Ausmaß jetzt ­SOFORT geleistet werden muss. Demokratie, Wahlen, Rechtssicherheit sind dringend nötig, aber brauchen ihre Zeit. Wasser und Brot müssen heute geliefert werden. Ohne „Steuern“ und kriminellen Schnickschnack. Jeder Lkw darf und muss durchsucht werden, damit Hilfsleistungen nicht für Waffentransporte missbraucht werden. Aber dann bitte schnell Türen zu und mit Vollgas zu den Bedürftigen.

Es gibt Anzeichen dafür, dass die neuen Machthaber die Zeichen verstanden haben: Unsere Projekte in Syrien laufen weiter, ohne Belästigung, ohne Erpressungsversuche. Das ist ein kleines Bildungsprojekt südlich von Damaskus, das ist Berufsausbildung in Nordsyrien, das ist Essensverteilung in Aleppo. Alles läuft und soll noch weiter ausgebaut werden. Traumabehandlungen stehen weit oben auf der Liste, Waisenhäuser, neue Schulbücher, sauberes Wasser und technische Hilfe für die Landwirtschaft, da die Kampfstoffe die Erde kontaminiert haben. Und das ist nur ein kleiner Teil der endlosen Liste, um die Syrer aus der Not zu holen.

Es ist noch lange keine Ruhe eingekehrt. Aber eine halb­faschistische Diktatur ist Geschichte geworden

Die Kämpfe in Syrien haben die größte humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Das muss endlich Vergangenheit werden. Da helfen aber keine Wahlkampfparolen à la „alle Syrer zurück“. Sondern Sachverstand und Schutz von all denen, die Hilfe leisten. Es ist die Stunde null Syriens. Türkei, Kurden, HTS stehen sich an vielen Stellen waffenstarrend gegenüber.

Es ist noch lange keine Ruhe eingekehrt. Aber eine halbfaschistische Diktatur ist Geschichte geworden. Das ist Grund für Optimismus und um anzupacken. Die gebrauchten Feuerwehrfahrzeuge, die unsere Organisation nach Aleppo geschickt hat, waren jahrelang im Kriegseinsatz. Sie retteten Menschen aus den Trümmern, die Assads illegale Fassbomben hinterließen. Manche Fahrzeuge wurden von russischen Piloten gezielt bombardiert, die Helfer getötet. Kriegsverbrechen.

Doch dann erreichte mich am Handy ein Foto aus Aleppo. Zwei Feuerwehrleute knien neben dem Feuerwehrauto aus einer kleinen bayerischen Gemeinde am Mittelstreifen einer reparierten Straße. Mit dem Schlauch gießen sie kleine Pflänzchen, die einmal zu hübschen Büschen werden sollen. Dafür braucht es aber so etwas wie Frieden und Zuversicht. Das kommt nicht von alleine. Für uns stehen Telefonate an mit dem HTS. Unsere Forderung lautet: Lasst uns helfen. Ja, ich bin optimistisch.

Der Autor arbeitet als Journalist und Kabarettist in München und ist Vorsitzender von Orienthelfer e. V.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen