talk of the town: Hilfe auf Augenhöhe
Obdachlose Menschen in Deutschland erfrieren, während Tausende Hotelbetten leer bleiben. Um ihnen zu helfen, muss man sie bei Lösungsvorschlägen miteinbeziehen
Von Jonas Wahmkow
Die Coronakrise verschärft bestehende Ungleichheiten weiter und macht sie dadurch auch sichtbarer. Das ist nach fast einem Jahr Pandemie traurige Gewissheit. Obdachlosigkeit bildet da keine Ausnahme.
Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind in diesem Winter schon 17 Menschen auf Deutschlands Straßen erfroren, die Dunkelziffer wird deutlich höher sein. Gleichzeitig stehen Tausende Hotelbetten leer. Das verdeutlicht schmerzhaft den grundlegend problematischen Umgang mit obdachlosen Menschen in diesem Land.
Menschen, die auf der Straße leben, gehören zu den von der Coronakrise am stärksten betroffenen Gruppen. Die niedrigen Temperaturen dieser Tage machen aus der misslichen Lage eine lebensbedrohliche.
Einige Städte bieten obdachlosen Menschen mittlerweile an, über den Winter in Hotels unterzukommen. Am Wochenende öffnete in Berlin ein Hostel mit 200 Plätzen, Düsseldorf mietete schon im November in sechs Hotels Betten an. Frankfurt am Main plant Ähnliches, findet aber nicht ausreichend Hoteliers, die bereit sind, für die geringe Pauschale Obdachlose zu beherbergen. In München gibt es immerhin 160 Plätze, um Covid-19-Infizierte zu isolieren. Die Frage ist, warum erst jetzt und warum so zögerlich? Es wäre ein Leichtes, Hoteliers zu verpflichten, Obdachlose aufzunehmen, solange sie einen Großteil ihrer finanziellen Ausfälle vom Staat erstattet kriegen.
Für eine Antwort lohnt ein Blick nach Hamburg. Dort lehnte der rot-grüne Senat erst vor wenigen Tagen eine Unterbringung in Hotels ab. Die Begründung: Es seien genügend Plätze in den Notunterkünften vorhanden, außerdem gebe es dort ein umfangreiches Beratungsprogramm.
Doch die Notunterkünfte werden von vielen Obdachlosen gemieden. Schon vor der Pandemie galten sie als Infektionsquelle aller möglichen Krankheiten. Zwar wurden die Bettenzahlen verringert und die Hygienemaßnahmen verbessert, dennoch fürchten sich viele vor einer Ansteckung. Auch Sozialverbände sehen Notunterkünfte als ungeeignete Unterbringungsmöglichkeit für obdachlose Menschen an.
Die Begründung des Hamburger Senats offenbart eine paternalistische Logik, mit der Menschen ohne Obdach tagtäglich konfrontiert sind. Bedürftige haben keine Ansprüche zu stellen. Sei es das gut gemeinte Brötchen in der U-Bahn oder die Unterkunft, in der man aufgrund der Schreie des psychisch kranken Bettnachbarn nur wenige Stunden Schlaf findet: Obdachlose sollen froh sein, wenn sie überleben.
Die Konsequenz dieser Sichtweise ist, dass Menschen ohne Obdach selten in die Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen werden. Hätte man die Menschen in Hamburg gefragt, wie man ihnen am besten helfen könnte, dann wüsste der Senat vielleicht, dass für viele von ihnen Notunterkünfte nicht infrage kommen, weil dort keine Haustiere erlaubt sind, oder weil sie dort nicht mit ihren Bezugsgruppen zusammen hingehen können, Alkohol verboten ist oder sie sich in der Regel tagsüber dort nicht aufhalten können.
Nicht wenige empfinden diese Behandlung als entwürdigend und ziehen es vor, trotz widrigster Umstände auf der Straße, in Parks oder provisorischen Behausungen zu schlafen. Diese Menschen lassen sich nur schwer mit den staatlichen Hilfsangeboten erreichen. Ein Anfang wäre es, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und nach ihren Bedürfnissen zu fragen: Möchtest du den Winter in einem Hotel verbringen? Wenn nicht, wie können wir deine Lage verbessern?
Stattdessen werden Menschen lieber mit ordnungspolitischen Maßnahmen hin- und hergeschoben. So wurde in Berlin am vergangenen Wochenende ein Camp mit über hundert Bewohner*innen mitten in der Nacht und ohne Vorwarnung unter dem Vorwand des Kälteschutzes geräumt. Ihnen wurde angeboten, bis Ende April in ein Hostel zu ziehen. Nur die Hälfte der Bewohner*innen nahm das Angebot an, der Rest schläft wieder ohne Habe auf der Straße.
Die traurige Realität ist, Obdachlosigkeit gehört im Kapitalismus zum Normalzustand. Verknappter Wohnraum, steigende Mietpreise und ein eher auf Disziplinierung statt auf Hilfe ausgelegtes Sozialsystem führen dazu, dass auch zunehmend der Mittelstand Gefahr läuft, in die Obdachlosigkeit zu rutschen. Die Pandemie wird die Situation noch mal verschärfen. Wir sollten also damit anfangen, Menschen ohne Obdach ernst zu nehmen, gleichberechtigt zu behandeln und ihnen ein würdevolles Leben auch auf der Straße zu ermöglichen.
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