Utopie eines Israel-Palästina: Eine Vision in dunkler Zeit
Der Kulturzionist Martin Buber wird neu gelesen. Seine Utopie eines binationalen Israel-Palästina eröffnet Perspektiven, die es dringend braucht.

V or Kurzem erschien in den USA eine englischsprachige Neuausgabe der Schriften des Philosophen Martin Buber „Ein Land und zwei Völker“. Ist die Vorstellung eines binationalen Staats in Palästina, die der galizisch-österreichische Kulturzionist vertrat, heute auf neue Weise relevant? Der palästinensische Philosoph Raef Zreik hat dem Band ein nachdenkliches Vorwort gestiftet – das ist bereits ein Teil der Antwort. Und Jewish Currents, das älteste linksjüdische Periodikum in den Staaten, druckte Zreiks Text nach, womit ein kleiner Diskurs von jener Art entstanden ist, die in Deutschland weitgehend fehlt.
Bei aller Kritik an Bubers eurozentrischem Dünkel findet Raef Zreik bei dem jüdischen Humanisten einen entscheidenden Gedanken: dass nämlich Ungerechtigkeit, wenn sie nicht zu verhindern ist, auf das absolut Notwendige zu beschränken sei. Dies, folgert Zreik, schaffe den Raum, sich eine andere Realität in Israel-Palästina vorstellen zu können, zumal heute – anders als zu Bubers Zeit – zwischen Mittelmeer und Jordan eine faktische Binationalität existiert, unter Israels Herrschaft.
Wie in seinen anderen Texten wirbt Raef Zreik dafür, die nationale Selbstbestimmung von Juden und Jüdinnen in Palästina anzuerkennen („Sie bilden heute die dritte oder vierte Generation in diesem Land und kennen keine andere Heimat“), doch unter dem Vorzeichen eines Abschieds von siedlerkolonialen Bestrebungen.
Binationalismus – so lautet also sein Update von Martin Buber – kann heute nur als Projekt von Dekolonisierung gedacht werden. Für Details dazu ist hier nicht der Platz, doch scheint mir Zreiks Quintessenz wichtig: Jüdische Selbstbestimmung anzuerkennen sei nicht das Gleiche wie die Akzeptanz von Zionismus. „Wir sollten fähig sein, uns einen jüdischen Nationalismus in Palästina vorstellen zu können, der nicht kolonial ist.“
Es braucht die konstruktive Fantasie
Das ist natürlich verwegen utopisch. Doch sind gerade in dystopischer Dunkelheit Visionen nötig. Während der Protest gegen den Genozid in Gaza und die deutsche Mittäterschaft ethisch absolut geboten ist, muss zugleich der Slogan vom freien Palästina „from the river to the sea“ demokratisch und human gefüllt werden. Und das ist in einem Moment, da finale ethnische Säuberungen drohen, keineswegs politisches Topflappenhäkeln. Ohne konstruktive Fantasie droht die Gaza-Solidaritätsbewegung in ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung und Machtlosigkeit in einen Nihilismus auf der Stufe von „Death to the IDF“ abzugleiten.
Im Trommelfeuer heutiger Kriegsgewalt erinnert die Lektüre von Buber an eine verschollen scheinende Sensibilität. Das Vertreibungsmassaker von 1948 in Deir Yassin war für ihn nicht allein ein Verbrechen an den arabischen Opfern, sondern auch am jüdischen Geist. Ich halte hier kein Plädoyer für einen besseren Zionismus. Aber die Geschichte seiner binational denkenden Minderheiten zu kennen, ist hilfreich – gerade in der Opposition zu einer Staatsraison, die uns die Verpflichtung auf einen genozidal agierenden Turbozionismus als Lehre aus dem Holocaust verkaufen will.
Der israelische Historiker Shlomo Sand, erklärtermaßen ein Postzionist, lässt in „Ein Staat für zwei Völker?“, das gerade auf Deutsch erschienen ist, alle historischen Protagonisten Revue passieren, die keine jüdische staatliche Souveränität anstrebten oder zumindest keine jüdische Hegemonie. Die wenigsten waren so konsequent wie Bubers Gefährte Hans Kohn, der mit den Worten „Zionismus ist nicht Judaismus“ seine leitende Stellung bei der Jewish Agency in Jerusalem hinwarf und in die USA emigrierte. Auch noch nach dem Holocaust forderten Weitsichtige wie Hannah Arendt einen föderalen Rahmen des Zusammenlebens – andernfalls drohe, so Arendt, „die Versteinerung“ des Konflikts.
Schnee von gestern oder Zukunftsmusik?
Der jüdische Staat, wie ihn der UN-Teilungsplan von 1947 vorsah, war übrigens mit einer arabischen 45-Prozent-Minderheit in demografischer Hinsicht faktisch binational. Erst die Vertreibungen durch Nakba und Krieg brachten Israel jene überwältigende jüdische Mehrheit, welche die zionistische Führung stets im Auge hatte. Zuvor hatte ein Minderheitsvotum bei den UN, vertreten durch Indien, Iran und Jugoslawien, eine jüdisch-palästinensische Föderation gefordert – Schnee von gestern oder Zukunftsmusik?
In Deutschland ist das Wissen über Zionismus wie über nichtzionistische Sichtweisen jüdischer Geschichte verblüffend gering. An klugen Büchern mangelt es nicht, doch im politischen Raum ist eine selbstverschuldete Unmündigkeit entstanden, aufgrund derer israelische Regierungspropaganda bei Journalisten und Abgeordneten leichtes Spiel hat. Das war nicht immer so. Aber in den letzten 20 Jahren hat intellektuelle Verflachung – im Takt mit der Rechtsdrift in Israel – einen autoritären deutschen Dünnbrett-Zionismus entstehen lassen: Demnach ist nur ein einziges Verständnis von jüdischer Sicherheit erlaubt, nämlich jene ethnoreligiöse Suprematie, die kein Ende der Besatzung erlaubt.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.
Eine Position wie etwa die des US-amerikanischen Journalisten Peter Beinart, der judaistisch-religiös gegen jüdische Vorherrschaft argumentiert, wirkt wie von einem anderen Stern. Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm durfte wegen seiner binationalen Überzeugungen die vereinbarte Rede in der Gedenkstätte Buchenwald nicht halten – niemand aus der deutschen Politik nahm ihn gegen die Diffamierungen der israelischen Botschaft in Schutz.
Vor einiger Zeit sagte Boehm, auf die israelischen Streitkräfte wie auf die Hamas gemünzt: „Wir müssen lernen, die aktuellen Verbrechen als Verbrechen zu sehen, die gegen unsere eigenen zukünftigen Bürger gerichtet sind. Eines Tages werden sie so gesehen werden. Es ist die einzige Hoffnung, die wir haben.“
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