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Zwischen Pandemie und EndemieDas Virus wird bleiben

Das Spahn-Ministerium sagt, dass wir uns im Übergang von einer Pandemie zu einer Endemie befinden – und bald die Normalität zurückkehrt. Doch stimmt das?

Die Maskenpflicht könnte bis Frühjahr 2022 bleiben Foto: Müller-Stauffenberg/imago

H erdenschutz, besser bekannt als Herdenimmunität: Laut Robert Koch-Institut „der Effekt, dass ein gewisser Anteil immuner Individuen innerhalb einer Population (entstanden durch Impfung oder auskurierte Infektionen) auch nichtimmunen Personen einen relativen Schutz bietet“.

Herdenimmunität klang für den britischen Premier Boris Johnson im vergangenen Jahr paradoxerweise gerade angesichts fehlender Impfmöglichkeiten wie die beste Lösung, um der Sars-Cov-19-Epidemie Herr zu werden: Wenn sich ein signifikanter Teil der Bevölkerung angesteckt und die Krankheit überlebt haben würde, wäre das Problem gelöst.

Als das britische Gesundheitssystem bald darauf vor dem Kollaps stand, merkte Johnson, dass das Ziel nur durch eine schnelle Impfkampagne erreicht werden kann. Überall galt die Erreichung von Herdenschutz als das Mittel, um der Pandemie Herr zu werden. Man müsse nur 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung impfen, und die Krise wäre gemeistert. Dachte man, bis eben.

Denn es kamen die neuen Virusvarianten – so ein Virus mutiert schneller, als ein Gesundheitsminister „Herdenimmunität“ sagen kann –, und immer mehr Hinweise darauf, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. Was das für das Ziel des Herdenschutzes bedeutet, dringt aber erst so langsam durch.

Am Mittwoch kursierten Passagen aus einem Papier des Gesundheitsministeriums, das ein Szenario für die kommenden Monate entwirft. Die wichtigsten Punkte: Eine vierte Welle sei bereits zu spüren, wieder müsse es darum gehen, die Kurve möglichst flach zu halten. Verstärkte Anstrengungen zur weiteren Steigerung der Impfquote seien das Gebot der Stunde. Einen „so einschneidenden Lockdown“ wie in der zweiten und dritten Welle werde es wohl nicht mehr geben. Maskenpflicht werde bis Frühjahr 2022 besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Einzelhandel aber auch für Geimpfte und Genesene notwendig bleiben.

2G statt 3G

Lauten Widerspruch erntete eine andere Überlegung aus dem Hause Spahn: „Insbesondere für ungeimpfte Personen können erneut weitergehende Einschränkungen notwendig werden.“ Dazu zähle der „Ausschluss von der Teilnahme nicht geimpfter Personen an Veranstaltungen und in der Gastronomie (‚2G statt 3G‘)“. Heißt: Genesene und Geimpfte dürfen rein, Getestete nicht. Außerdem sei eine dauerhafte Übernahme der Kosten für alle Tests durch den Bund „nicht angezeigt“.

Dietmar Woidke, SPD-Ministerpräsident in Brandenburg, widersprach: „Niemand soll vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.“ Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow bezeichnet den Vorschlag als „schlicht asozial“. Solange es eine Testpflicht gebe, müsse es auch kostenlose Tests geben. (Letzteres kann man fordern, aber als Linkenvorsitzende sollte man die politische Terminologie schon im Griff haben: Die Nazis steckten alleinerziehende Mütter, Obdachlose, Alkoholkranke und andere als „Asoziale“ in Konzentrationslager.)

Es ist richtig, dass über diese Fragen gestritten wird. Merkwürdig ist aber, dass diesem Satz im Spahn-Papier keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde: „Deutschland befindet sich aktuell in der Übergangsphase vom pandemischen in ein endemisches Geschehen. Die Brücke raus aus der Pandemie zurück in die Normalität ist zwar beschritten, aber noch nicht ganz überquert.“ Endemie ist normal? Mit „Endemie“ wird laut RKI ein „ständiges (zeitlich unbegrenztes) Vorkommen einer Krankheit oder eines Erregers in einem bestimmten Gebiet oder einer bestimmten Bevölkerung“ bezeichnet.

Herdenimmunität jetzt unwichtig?

Dass das Virus demnächst verschwinden wird, ist seit einer Woche laut eines Papiers des amerikanischen Center for Disease Control schon allein deswegen unwahrscheinlich geworden, weil sich Erkenntnisse darüber häuften, dass mit der Deltavariante infizierte Geimpfte das Virus genauso leicht weitergeben können wie Ungeimpfte. Gesundheitsbehörden müssten anerkennen: „The war has changed.“

Der Epidemiologe Jeffrey Shaman erklärte, was das bedeutet: Das Ziel der Herdenimmunität sei „irrelevant“ geworden, weil Herdenimmunität ja auch die Nichtgeimpften vor Ansteckung schützen soll. Das wiederum heißt, wer sich impfen lässt, tut der Allgemeinheit möglicherweise vor allem insofern einen Dienst, als er aller Wahrscheinlichkeit nach keine Intensivbehandlung in Anspruch nehmen muss.

Derweil wundern sich in Großbritannien Experten darüber, dass die Infektionszahlen sinken, obwohl Boris Johnson am 19. Juli fast alle Corona-Restriktionen zurücknahm. Das könnte an der hohen Impfquote, der Ferienzeit und Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Supermärkten liegen. Spätestens seit dieser Woche ist aber eines sicher: Die Endemie wird bis auf Weiteres unsere Normalität sein.

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Ulrich Gutmair
Kulturredakteur
Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).
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13 Kommentare

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  • „ Kann doch nicht so schwer zu verstehen sein?“

    Offenbar, doch! Ihre zweite Aussage zur Impfung (Ansteckung!) hat keineswegs dieselbe pauschale Gültigkeit wie die zum Airbag.



    In UK und den USA wurde nachgewiesen, dass sich die Virenlast bei Geimpften und Ungeimpften nicht unterscheidet, bei den derzeitigen Impfstoffen.

    • @Georg Schober:

      Das ist in den USA und UK so und Ähnliches konnte man auch in Israel beobachten.

      Die Frage wäre, ob das evtl. damit zusammenhängt, dass ohnehin der größte Teil der Bevölkerung in den genannten Ländern bereits Antikörper hat, auch die Ungeimpften.

      Zumindest für Großbritannien ist das ja bestätigt für 92% der Erwachsenen.

  • ‚ ...Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow bezeichnet den Vorschlag als „schlicht asozial“. Solange es eine Testpflicht gebe, müsse es auch kostenlose Tests geben. ...‘

    Mit ihrem Beharren auf solcherart doktrinärer Logik macht Die Linke deutlich, dass sie keinen Wert auf zusätzliche Wählerstimmen legt. Dabei warte ich schon solange auf eine smarte und sportliche sozialistische Partei.



    Woher kommt eigentlich das Petzerische und Humorlose im linken Spektrum? Wieso sollte man eine Partei wählen, die offenbar an allem nur leidet?

    • @Jossito:

      Für mich sehr nachvollziehbar, dass der Staat auch weiterhin die Kosten für verpflichtende Tests übernimmt, so lange er sich das meint, leisten zu müssen.

      Mit dem Eintritt in die endemische Phase schwindet ohnehin der Sinn dahinter. Wie man darauf kommt, die kostenpflichtigen Tests ab Oktober einführen zu wollen, erschließt sich mir gar nicht, da bis dahin die 4. Welle wohl wieder am Abflachen ist.

    • @Jossito:

      Gute Frage. Die Antwort sieht man ja in den Umfragewerten dieser Partei.

  • Das bedeutet ja, dass wir mehr Anlaufstellen für die vielen Long Covid Patienten brauchen werden. Anlaufstellen an die viele in meiner Umgebung, die an Long Covid leiden oder zumindest Beschwerden haben und sich mal einer gründlichen Untersuchung unterziehen möchten, schlicht weg seit über einem halben Jahr nicht bekommen weil Ärzte ihre Gatekeeper Funktion im Sinne einer Sparpolitik nutzen um für sie irrelevante (weil COVID nur ne Grippe sei) Behandlungen zu verhindern und die bestehenden Kliniken wie die in Hannover nur Menschen aus Hannover annimmt. Und wir bräuchten vielleicht mal bessere Daten um zu wissen wie viele Menschen wirklich an Long Covid leiden und wie viele keinerlei Behandlung kriegen weder als sie akut Corona hatten oder eben danach. Zumal das Gesundheitsamt anscheinend jetzt schon wieder nicht mit dem Infektionsgeschehen klar kommt. Eine Schande.

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    "Solange es eine Testpflicht gebe, müsse es auch kostenlose Tests geben."

    Warum? Ist die Klientel von Hennig-Wellsow unfähig einen Impftermin zu vereinbaren?



    Ab Ende September wird eine Impfung für alle möglich sein. Danach ist dann jeder selbst verantwortlich.



    Ich trage gerne weiter noch Maske, damit geimpfte Immunschwache nicht geschädigt werden. Linke Querdenker sind mir allerdings egal.

  • "Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow bezeichnet den Vorschlag als „schlicht asozial“. Solange es eine Testpflicht gebe, müsse es auch kostenlose Tests geben. (Letzteres kann man fordern, aber als Linkenvorsitzende sollte man die politische Terminologie schon im Griff haben: Die Nazis steckten alleinerziehende Mütter, Obdachlose, Alkoholkranke und andere als „Asoziale“ in Konzentrationslager.)"

    Wie meinen Sie das?

    Frau Hennig-Wellsow hat ihre Terminologie sehr wohl im Griff. Das Wort "asozial" hat sie vollkommen richtig verwendet. Erstens bezog es sich auf einen Vorschlag, also einen Inhalt, und nicht auf eine Person. Zweitens hält sie sich an den Wortsinn (a-sozial), anstatt es als Etikett zu verwenden für jemanden, der willkürlichen Normen nicht genügt, ohne dass das mit dem Wortsinn (a-sozial) irgendetwas zu tun hätte.

    • @Existencielle:

      Eben. "a" als lateinisches Präfix: Abwesenheit von etwas - hier also im Wortsinn von Abwesenheit von sozialem Vorgehen.



      Finde es auch nicht nachvollziehbar, dass "asozial" in diesem Kontext nicht mehr verwendet werden soll. "Antisocial" im Englischen darf man ja auch in diesem Sinne benutzen.

  • Ach Mensch… immer noch!?

    Auch mit Airbag „kann“ man beim Unfall sterben. Nur viel seltener.

    Auch mit Impfung „kann“ man andere anstecken. Nur viel seltener.

    Kann doch nicht so schwer zu verstehen sein?

    • @TurboPorter:

      Einfach mal genau lesen: die Deltavariante wird von Geimpften in gleichem Maß weitergegeben wie von Ungeimpften.

  • Was zum Teufel hat die Nazi-Keule hier zu suchen? Es ist wirklich traurig, wenn ein Kulturredakteur sich in der taz so unsinnig ausser kann und der Text einfach so veröffentlicht wird. Schauen Sie vielleicht mal in den Duden. Da finden Sie eine Definition von "asozial", die die Intention von Frau Hennig-Wellsow vermutlich weitestgehend trifft. www.duden.de/rechtschreibung/asozial



    Von Nazis hingegen steht dort nichts. Aber Neuinterpretation der deutschen Sprache scheint sich ja so langsam durchzusetzen und wird auch von der taz gefördert.



    Es hilft auch nichts, alles was einem nicht in den Kram passst als Nazi zu diffamieren. Allein der Versuch eine Vorsitzende der Linken in ein Rechtes Licht rücken zu wollen ist ziemlich erbärmlich.



    Es ist einfach nur noch traurig, was von der taz übrig geblieben ist. Nach etwa 20 Jahre taz-Abo und etwas weniger Zeit als taz Genosse stelle ich fest, dass wir uns immer weiter voneinander entfernen.



    Es kommt dann schon sehr bald die Zeit, in der sich unsere Wege dauerhaft trennen werden.

  • "Derweil wundern sich in Großbritannien Experten darüber, dass die Infektionszahlen sinken, obwohl Boris Johnson am 19. Juli fast alle Corona-Restriktionen zurücknahm."



    Das wundert mich ganz und gar nicht. Keine Restriktionen mehr, also auch keine Pflichttests mehr, also sinkende Infektionszahlen.



    Sowieso denke ich, dass sich bei einer hohen Impfquote die Infektionen zu einem Großteil der Beobachtung entziehen werden, und zwar so lange bis die Impfstoffe nicht mehr wirken.