Zwei Frauen mit Boxhandschuhen stehen sich in kampfbereiter Position gegenüber

Foto: Sascha Rheker

Zwei Jahre nach Terroranschlag in Hanau:Was bleibt

In Hanau kämpfen Bekannte und Angehörige der Opfer gegen das Vergessen und die eigene Angst. Der Schmerz sitzt tief.

Aus hanau, 18.2.2022, 13:34  Uhr

Dieser Ort in Kesselstadt war einmal nur ein Parkplatz. Bis er zu einem Parkplatz wurde, an dem Menschen erschossen wurden. Heute hält er die Toten und Lebenden zusammen. Betritt man den Kurt-Schuhmacher-Platz und geht circa fünf große Schritte nach links, öffnen sich die automatischen Schiebetüren vom Lidl, piepende Kassenscanner und dunkel tönendes Surren der Kühlabteilung setzen an. Wenn man kehrtmacht, steht drei Schritte weiter ein marmornes Gedenkkreuz, mit Gravur auf der Sichtseite. Dieses Kreuz wurde errichtet im Namen von Jesus Christus für den Helden VILI-VIOREL PĂUN.

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Zwischen Blumen und Kerzen wurde ein kleines Weihrauchfass niedergelegt, ein aromatischer Geruch hängt in der Luft. An­woh­ne­r:in­nen laufen quer über den Parkplatz zu den allseitig umliegenden Hochhäusern. Ein Mann zieht an der Leine seines Hundes. Hinter ihm ein ­Kiosk, auf dem in blauer Schrift steht: ARENA BAR & CAFE. In diesem Kiosk und dem nebenan liegenden Raum und auf dem Parkplatz draußen erschoss ein rechtsextremer Schütze am 19. Februar 2020 sechs Menschen mit Migrationshintergrund.

Kurz zuvor tötete er wenige Kilometer entfernt drei weitere. Insgesamt neun Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Zwei Jahre sind seitdem vergangen, die Schüsse längst verhallt, die Spuren gesichert. Wenn der Name der Stadt Hanau fällt, folgen ihm seit zwei Jahren neun weitere.

Gökhan Gültekin. Ferhat Unvar. Sedat Gürbüz. Said Nesar Hashemi. Mercedes Kierpacz. Hamza Kurtović. Vili Viorel Păun. Fatih Saraçoğlu. Kaloyan Velkov.

Das Leben hier geht augenscheinlich weiter. Plattenbauten umstehen den Stadtteil Kesselstadt, grenzen von umliegenden Einfamilienhäusern ab. Wenig Grünfläche, keine Geschäfte weit und breit, höchstens Supermärkte, ein paar Kioske, einer davon ist der am Kurt-Schuhmacher-Platz und hat seit zwei Jahren geschlossen. „Ja, schau, da hinten direkt. Siehst du schon, wenn du rübergehst.“

Alle kennen die Ermordeten

„Juz“ sagen alle in Kesselstadt und meinen das Jugendzentrum in der Nachbarschaft. In diesem haben sich drei der Opfer, Ferhat, Hamza und Said, bis zu ihrem Tod regelmäßig, teilweise täglich aufgehalten. Aus dem Innenhof des Jugendzentrums kommen gedämpfte Stimmen, das Tor steht halb offen, das Gelächter wird lauter. Zwischen den bunten Restbasteleien und Informationspapieren am Fenster hängt ein Foto, das heraussticht. Darauf sind alle neun Opfer abgebildet, die durch den rassistischen Mord im Februar 2020 in Hanau ums Leben kamen.

Vor den Eingangstüren stehen vier junge Männer und unterhalten sich, feixen herum. Sie stehen in weiten Abständen voneinander entfernt, bewegen sich hin und her, sind ruhelos und wechseln dauernd ihren Steh- und Sitzort, als würden sie jeden Moment aufbrechen wollen. Dabei rufen sie sich über den Platz hinweg Neckereien zu, die mit lauten Lachern quittiert werden. Zwei von ihnen sind an eine Wand gelehnt und alle vier tragen dicke Jacken, Sneaker und eine jugendliche Unbeschwertheit, die sich in verschmitzt grinsenden Gesichtern ausdrückt.

Neben einem Parkplatz ein Kreuz und Gedenkort mit rumänischer Flagge

Gedenkort am Parkplatz für den ermordeten Vili Viorel Păun Foto: Sascha Rheker

Sie alle sind seit Kindheitstagen mit den Ermordeten Ferhat und Hamza befreundet gewesen. Auch Said Nesar war oft da, hier, wo die Opfer sich von leblosen Fotos lösen und Gestalt annehmen, Menschen mit einer Geschichte, vielen Eigenarten und unterschiedlichen Charakterzügen, keine fremden Toten. Spricht man auch in anderen Stadtteilen Hanaus irgendwen mit Migrationshintergrund an, dann sind die Ermordeten alte Schulfreund:innen, verbliebene Namen aus der Kindheit, langjährige Nachbar:innen. Ihr Schicksal und alles, was dahintersteht, überschneidet sich zwangsläufig mit ihren Leben. So auch bei Eray, Isa, Hüseyin und Sinan.

Wie alle Jugendzentren verströmt auch das Juz, in dem die vier Freunde sehr oft sind, ein Gefühl von Schulschluss und Heimeligkeit. Ab dem frühen Nachmittag laufen junge Leute ein und aus, oft steht ein:e So­zi­al­ar­bei­te­r:in vor der Tür, raucht eine, unterhält sich dabei mit den Jugendlichen draußen über Schulnoten und Corona. Dann gehen die Teenager zusammen rein, erzählen sich Dinge sehr schnell und laut.

Aber im Juz sind auch Tod und Verlust präsent, daran erinnert ein Graffiti – FIGHT RACISM – und eine Plane an der roten Klinkerfassade des Gebäudes. Auf der steht: #SayTheirNames. Darunter die neun Gesichter der Ermordeten, auf Kunststoff gedruckt und in die Mittagssonne gespannt.

„Die haben den ja als verrückt betitelt“

„Wir zeigen hier Präsenz. Wir gehen hier nicht weg“, sagt Eray, löst seine Arme aus der verschränkten Haltung, seine Hände steckt er in die Jackentaschen. „Wir lassen uns nicht verscheuchen von hier.“ Er hat viel zu sagen, seine Freunde geben ihm den Vorrang, hören nur zu, ergänzen und bekräftigen ab und zu, „ja Mann“. Sobald er von der Tat und seinen Folgen spricht, wird er ernst, die weichen Gesichtszüge verhärten sich. Das löst sich, wenn Ferhats und Hamzas Namen fallen. Dann runzelt er wieder die Stirn, weil er von den trauernden Familien spricht. Wenn er wiederholt, dass sie keine Angst haben, bleibt es still, keine Bejahungen der anderen.

Na ja, setzt Isa plötzlich in die kurze Stille hinein an. Angst sei ja trotzdem da, sagt er. Er hat sich zwischenzeitlich auf eine Erhebung am Boden gehockt, auf seinem Gesicht ließ sich die ganze Zeit ein sich anbahnendes Lächeln erkennen, das weicht jetzt zum ersten Mal ganz. Er gestikuliert vor sich hin, während er nach dem passenden Wort sucht, nennt es dann „Komplexe“, also der zweite Blick auf ein anfahrendes Auto. Immer im Blick haben, wer da aussteigt.

Wie erinnert man hier? Man will auch vergessen, antwortet Eray. „Natürlich wollen wir nicht, dass die Namen vergessen werden.“ Sie würden ja kämpfen, damit das eben nicht passiert. Und trotzdem: „Irgendwie will man’s auch vergessen, die Tat selbst jedenfalls, um mit dem Leben weitermachen zu können.“

Von ihren Freunden sprechen sie, als wären sie weg, aber nicht tot. Wenn Eray sagt, „das waren sehr gute Jungs“, dann klingt er wie jemand, der gerade Bilder im Kopf hat. Er lächelt, die anderen nicken. In der Clique, so wie sie hier steht und lacht und sich erinnert, ist das Trauern noch da, aber auch die Ausgelassenheit des alltäglichen Lebens hat sie eingeholt.

Es wirkt wie ein Zwischenzustand, den sie sich nur gegenseitig begreiflich machen können. Abschließen geht nicht, sagen sie, „wir haben noch viele offene Fragen“. Wie es sein kann, dass die Polizei angerufen wird und nicht rechtzeitig da ist, wollen sie wissen. Eray sagt: „Die haben den ja als verrückt betitelt“ und deutet auf die Hochhäuser hinter ihm, dort hat der Täter gewohnt und bis heute sein Vater. Dann, nach der Fragerei, sagt einer von ihnen: „Der deutsche Staat hat uns im Stich gelassen.“

Mehrere Jugendliche laufen derweil ins Juz rein. Im großen Innenraum, dem „offenen Treff“, läuft HipHop, einige stehen in der Mitte am Billardtisch, andere kickern nebenan, rufen sich den Punktestand zu und kurbeln hörbar kräftig. Auch viele Schülerinnen sind da, einige von ihnen sind zum Boxtraining für Mädchen gekommen. Aber bis dahin sind es noch zwei Stunden.

Ein Pfarrer steht lächelnd vor einem Tor, dahinter sind große, dicke Bäume.

„Viel Paperlapapp“ gab es bei den deutschen Behörden, findet Pfarrer Radael Petrache Foto: Sascha Rheker

Knapp vier Kilometer vom Juz entfernt, im angrenzenden Stadtteil Steinheim. Dort fahren die ersten Autos in einer zugeparkten Straße vor der rumänisch-orthodoxen Kirchengemeinde „Hl. Johannes der Täufer“ raus. Gerade endete die Liturgie, an denen vor allem die Ha­naue­r:in­nen in der Umgebung teilnehmen. Im großen Gemeinderaum drinnen stehen einzelne Personen am Rand, essen aus Pappbechern: Colivă, ein rumänisches Gericht aus Roggen, dass zum Gedenken für Verstorbene zubereitet und in der Gemeinde verteilt wird, erklärt eine Frau. Klar sei das auch für Vili, sagt sie, sein Schicksal habe alle hier getroffen.

Ektenie für die Entschlafenen. Bis dahin blättert ein Mann, der auf einer der Sitzbänke vor dem Gemeinderaum Platz genommen hat. Sein Zeigefinger streicht über ein paar Zeilen, die sich in seinem Gebetsheft befinden. Wir bitten Dich auch für die Seelenruhe der entschlafenen Knechte und Mägde Gottes [N] – „hier fiel auch oft Vilis Name“, sagt er. Für die Seelenruhe der entschlafenen Knechte und Mägde Gottes Vili Viorel Păun.

Auf der Einschlagklappe des Heftchens klebt ein Foto von Iulia und Niculescu Păun, die Eltern von Vili Viorel. Beide stehen mit einem Lächeln in der Mitte des Raumes Pose, in dem soeben der heutige Gottesdienst stattfand. Die Mutter hält mit beiden Armen einen großen Strauß Blumen umklammert, der Vater trägt einen hellblauen Anzug, zwischen ihnen Pfarrer Rafael. Nach dem Tod ihres Sohnes ließ sich das bislang nur standesamtlich verheiratete Paar in dieser Gemeinde kirchlich trauen.

Sonnenstrahlen durchfluten den Raum, Schattenspiele über Bilder von Heiligen der orthodoxen Kirche. Nach dem Gottesdienst hat Pfarrer Rafael Zeit. „Auch nach zwei Jahren haben die Leute aus meiner Gemeinde nicht vergessen. Nur langsam kehrt Normalität ein.“ Normalität, das heißt, dass man keine Angst mehr hat, bei Dunkelheit das Haus zu verlassen. Wie das im Jahr des Anschlags ausgesehen habe? Der Pfarrer schnaubt zur Antwort auf, seine Augen geweitet. Aber mittlerweile hätten die Leute keine Angst mehr.

Die deutsche Behörden, sagt er, müssten auch die religiösen Gemeinden schützen. Viele seiner Gemeindemitglieder seien aus Rumänien, aber eben auch Hanauer:innen. „Ihre Sicherheit ist die Aufgabe der deutschen Behörden.“ Auf seinem Smartphone zeigt er mir ein Foto von Claus Kaminsky, dem Oberbürgermeister aus Hanau, wie er neben Rafael hier in der Gemeinde steht. Das war sechs Wochen nach dem Anschlag. „Viel Papperlapapp“ sei das gewesen.

Auf roten, bestickten Sofakissen sitzen vier Männer im Halbkreis

Für den Verein AYDD ist das Thema – der Anschlag – nicht abgeschlossen Foto: Sascha Rheker

Sechs Minuten Autofahrt, einen Stadtteil weiter: Lamboy. Ein Mann mit einem runden Serviertablett voller bis zum Rand gefüllter Teegläser steigt die Treppen hoch, öffnet die Bürotür von Servet Uçar, dem Vorsitzenden des Vereins AYDD e. V, übersetzt Verein der Solidarität und Gemeinschaft Agirî. In Hanau leben viele Menschen aus Agirî, einer Stadt in der kurdischen Region der Türkei. So wie Gökhan Gültekin, der beim Anschlag vor zwei Jahren ermordet wurde. Nur einen Monat später erlag Behçet Gültekin seiner Krebserkrankung, ihn kennen hier alle. Sieben Tage über saß der trauernde Vater in den Vereinsräumen, nahm Beileidsbekundungen entgegen, erzählt Servet Uçar.

„Onkel Behçet war langjähriges Vereinsmitglied. Aber vor allem ein sehr geschätzter Freund.“ Viele Po­li­ti­ke­r:in­nen seien hier zu Besuch gewesen, sagt er. Nebenher organisierte der Verein Demonstrationen und Kundgebungen mit. Diese Tat gelte nun zwar als vergangen und der Fall vor Gericht als abgeschlossen, aber ihr Verein mit rund 600 Mit­glie­dern würde sich auf dem Laufenden halten, Neuigkeiten zum Themenkomplex #Hanau sind in ihren Whatsapp-Gruppen abrufbereit. „Für uns ist das Thema nicht abgeschlossen. Für unseren Verein erst recht nicht.“

Zekeriya, Friseur aus Hanau

„Jemand könnte jetzt hier reinkommen, uns alle abknallen“

Es werde noch immer viel über den rechten Terroranschlag gesprochen, Versammlungen zum Umgang damit finden in regelmäßigen Abständen hier statt. „Wir sind in ständigem Kontakt mit den Angehörigen der Opfer. Und auch mit Politikern.“ Erst wenige Tage zuvor ist Heike Hofmann hier gewesen. Die SPD-Abgeordnete des hessischen Landtags besuche den Verein oft. „Das machen wir alles nur, um nicht zu vergessen“, sagt Uçar und sinkt in den Bürostuhl zurück: „Ja, die Zeit nach dem Anschlag ist immer noch eine schwere Zeit.“

In einem Nebenzimmer des Vereins sitzt eine Frau mit ihrer Tochter. Die Frau stellt sich als Nazik vor, sie kommt aus Kesselstadt. Nach dem Anschlag ist sie umgezogen. Zu groß war die Angst, zu präsent die Erinnerungen an die Tatnacht. „Ich war sehr gut mit der Mutter von Mercedes Kierpacz befreundet. Wir sahen uns ständig, waren Nachbarinnen.“ Eine sehr zuvorkommende Frohnatur, genauso wie ihre heute tote Tochter. Wie es ihr nach dem Anschlag ergeht? Eine lebende Tote, antwortet Nazik lapidar. Sie weint leise und sagt: „Die Schreie der Mutter. Es war schlimm.“

Ein Mann mit Mundnasenschutz steht auf einen Stuhl gelehnt da, in seinem Blick tiefe Sorge. Hinter ihm wird einem jungen Mann von einem anderen Frisör das Haar geschnitten

Friseur Zekeriya erinnert sich noch an den ermordeten Gökhan Gültekin Foto: Sascha Rheker

Und nach der Tat? „Meine Kinder konnten wochenlang nicht in die Schule. Sie sagten: Nein, da kommt wieder jemand mit einer Waffe.“ Sie haben Gökhan Gültekin gekannt, erzählt Nazik. Gökhan ist im Kiosk unter ihrer Wohnung ermordet worden, auch er war ein Nachbar. Nazik erzählt lächelnd, wie sehr ihre Kinder ihn geliebt haben: „Sie sind immer zu ihm ins Kiosk gegangen, haben sich Süßigkeiten gekauft, Kaugummis. Natürlich sind sie traumatisiert, sie denken ja bis heute daran.“

Sobald etwas zu Hanau im Radio oder Fernsehen läuft, schaltet Nazik aus. Ausschalten, vergessen, das gehe aber nie wieder. „Diese Nacht verschwindet nicht vor meinem inneren Auge. Ich hatte monatelang Angst, aus meinem Balkon nach unten zu schauen. Dort, wo ich Mercedes Mutter auf dem Boden knien sah.“ Auch Mercedes ist im Kiosk am Kurt-Schuhmacher-Platz erschossen worden. Als ihre Mutter von ihrem Tod erfuhr, fiel sie auf die Knie und schrie, vor dem abgesperrten Kiosk, in dem sich die Leiche ihrer Tochter noch befand, sagt Nazik.

In der Klasse ihrer Kinder sei das damals wie heute kein Thema gewesen. Das macht sie wütend. Es sei unfassbar, dass die Lehrkräfte das Thema gar nicht besprochen haben. „Als wäre das normal, was passiert ist. Es ist passiert. Und das war’s jetzt. Oder wie?“ Ihr Blick wird starr vor Entsetzen, als hätte sie all das zum ersten Mal gedacht und gesagt. Sie schnalzt mit der Zunge, mehrmals, dabei deutet sie auf das Tuch, das sie über ihrem Hinterkopf zu einen festen Knoten gedreht hat: „Deswegen, oder was?“ Sie sagt: Die Menschen waren tot, die Polizisten hatten alles abgesperrt, unterhielten sich und sie lachten. Dann wiederholt sie: „Wir waren auch unten und weinten. Und die Polizisten unterhielten sich und lachten.“ Ihre Augen sind nass. „Sie lachten.“

Im Friseurgeschäft gleich um die Ecke herrscht reger Betrieb. Einige hier kennen sich aus dem Verein der Solidarität und Gemeinschaft Agirî. Alle Stühle sind besetzt, die Kunden warten. Der Inhaber Zekeriya bietet mir einen Platz neben sich an. Zu hören ist türkische Popmusik und das geschäftig tönende Vibrieren der Rasierapparate, die über den Köpfen der Kunden schweben. „Ich bin seit 1991 in Hanau. Mein Geschäft habe ich 2004 eröffnet.“ Oberbürgermeister Claus Kaminsky sei oft vorbeigekommen, auch ihn habe er frisiert und rasiert. „Kaminsky ist ein guter Mann. Aber die Feindlichkeit uns Ausländern gegenüber spüren wir ja trotzdem. Daran ändert sich nichts.“ Er sehnt sich nach einem Staat, der Sicherheit gibt. Seit Februar 2020 wird Zekeriya besonders unruhig, wenn die erwachsenen Kinder sich nicht melden, während sie abends noch unterwegs sind. „Wir schreiben ihnen dann: Wo bleibt ihr? Und wir denken an das Schlimmste.“

Auch einige der Opfer seien seine Kunden gewesen, etwa Gökhan Gültekin. „Ein sehr anständiger, junger Mann“, er wendet den Blick ab. „Er ist weg. Die Unschuldigen gehen eben“, sein Blick wandert zur gläsernen Eingangstür, er schweigt und sagt dann: „Jemand könnte jetzt hier ­reinkommen, uns alle abknallen. Dabei sitzen wir hier nur, arbeiten, gehen unserem Tagesgeschäft nach.“ Während er das sagt, fahren ein paar Autos Richtung Innenstadt vorbei. Eine Stille setzt ein, nur die Musik und die Rasur füllen den Raum.

Die Angst vergessen. Laut So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen des Juz macht auch das die wöchentlichen Trainingstage für die Jugendlichen so wichtig. Unten im sogenannten BoxGym quietschen schnelle Schritte auf dem Linoleumboden, in der Mitte ein Boxring. „Komm, komm, komm!“, die Sozialarbeiterin feuert die Mädchen an, eine von ihnen hält ihre Schutzmaske fest, schnappt nach Luft, „Kann ich kurz – 5 Sekunden?“

Zwei Frauen mit Boxhandschuhen stehen sich in kampfbereiter Position gegenüber

Nouha und Esmanur im Juz: Hier waren sie dem ermordeten Ferhat Unvar oft begegnet Foto: Sascha Rheker

Nach dem zweistündigen Boxtraining essen sich die Mädchen im oberen Stockwerk des Juz an einer Pizza satt. In den Geruch von gerade verzehrtem Essen mischt sich das Muffige alter ­Polstermöbel, die künstliche Umgebungshelligkeit wirkt beruhigend. Draußen ist es schon dunkel, das Ambiente hier drinnen vor allem ge­mütlich.

An der Theke im Raum sitzen drei der Sozialarbeiter:innen, laute HipHop-Musik übertönt das Lachen der Jugendlichen, die in einem anliegenden großen Raum auf abgenutzten Sesseln sitzen, auf den speckig glänzenden Fliesentischen stehen ein paar Trinkflaschen. Im Juz erinnert viel an die Ermordeten, ihre Namen auf Plakaten an der Wand, ihre eingerahmten Gesichter blicken den eintretenden Jugendlichen entgegen. Aber es ist besonders die hier gemeinsam verbrachte Zeit mit Ferhat oder Hamza, die den Anschlag nicht vergessen lässt.

„Am Tag der Tat saß Ferhat in der Küche drüben und hat seinen Milchshake getrunken“, erzählt Esmanur Sarıkaya. Die Unmittelbarkeit, die reale Gefahr machen ihm und den anderen Angst. „Wir könnten jetzt hier rausgehen und es könnte auch uns treffen“, sagt Nouha Eljazouli. Für die beiden 15-jährigen Freundinnen ist das Juz wie ein zweites Zuhause. Hier fühlen sie sich wohl. Trotzdem scheint sie das Trauma auch bis in diese Räume zu begleiten. „Anfangs hatte ich Angst, das Haus zu verlassen. Ich hatte sogar Angst, auf den Balkon zu gehen. Das ging fast einen Monat so. Aber danach habe ich mich noch getraut, hierher zu kommen.“

Esmanur erzählt, dass die Gesichter auf der Plane draußen vor dem Juz ihr abends besonders Angst einjagen. „Es ist dunkel, ich sehe die Gesichter an der Wand, die ja eigentlich hier lebten. Das fühlt sich dann so an, als würden sie vor mir stehen.“ Sie lacht beschämt: „Das macht mir Angst. Und ich habe Angst, dass mir das auch passieren wird.“ Was denkt sie in solchen Momenten? „Dass jemand kommt und mich erschießt, genauso wie die anderen vor zwei Jahren.“

Nouha hielt im selben Jahr des Attentats ein Referat in ihrer Klasse über den 19. Februar. Viele ihrer Klas­sen­ka­me­ra­d:in­nen haben keinen Migrationshintergrund, sagt sie. Und, dass sie sich nicht wirklich damit beschäftigten, während es für sie anfangs ihren Alltag bestimmte. Die Leh­re­r:in­nen konnten sich die Namen der Opfer nicht merken, sagt Nouha, „sie merken sich doch auch die Namen von so vielen Schüler:innen“. Nach ihrem Referat kam das Feedback: „Die Lehrer sagten, es ist schön, dass du dich damit befasst“, sie wird etwas lauter, streckt ungläubig ihre Hände aus, „Ich befasse mich nicht damit, ich bin betroffen!“

Denn: An jedem 19. eines Monats komme alles wieder hoch. „Die Einstellung ist zwar, das Leben geht weiter, aber auf meinem Schulweg muss ich am Heumarkt vorbei, am ersten Tatort. Wenn ich jeden Tag ins Juz komme, zum Lidl gehe, laufe ich an der Arena Bar vorbei, am zweiten Tatort.“ Das Attentat vor zwei Jahren ist hier allgegenwärtig, manchmal ganz unweigerlich. Für viele geht das Leben halt weiter. Für andere wie Nouha und Esmanur geht es trotzdem weiter.

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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