Zweckentfremdung von Wohnraum: Befremdliche Praxis
Während eine soziale Einrichtung für obdachlose Frauen wegen Zweckentfremdung zahlen soll, darf eine Firma Wohnungen leer stehen lassen.
Beispiele dafür gibt es im Bezirk Mitte: Dort soll einerseits ein soziales Projekt wegen Zweckentfremdung 4.000 Euro Strafe im Monat zahlen, auf der anderen Seite beklagt eine Mieterinitiative in der Torstraße, dass der Bezirk nichts gegen spekulativen Leerstand unternehme.
Das Zweckentfremdungsverbot wurde 2013 mit dem Ziel verabschiedet, gegen spekulativen Leerstand, unerlaubte gewerbliche Nutzung und Vermietung von Wohnungen als Ferienwohnung vorzugehen. Seit einer Gesetzesänderung 2018 dürfen Wohnungen nicht mehr sechs, sondern nur noch drei Monate ungenehmigt leer stehen. Zweckentfremdung muss nach wie vor beantragt werden. Laut Senat soll Leerstand nur genehmigt werden, „wenn vorrangige öffentliche Interessen oder schutzwürdige private Interessen das öffentliche Interesse an der Erhaltung des betroffenen Wohnraums überwiegen“.
Gerade vor dem Hintergrund dieser Ausnahmeregelung wirkt der Fall in der Tieckstraße 17 absurd: Die Diakonie soll eine Zweckentfremdungsabgabe von monatlich 4.000 Euro zahlen – weil sie dort eine soziale Einrichtung für obdachlose Frauen betreibt. Derzeit laufe noch ein Widerspruchsverfahren, sagte Monika Lüke, Geschäftsführerin der Diakonie Berlin-Mitte.
Das Verbot nur ein „zahnloser Tiger“?
Das Bezirksamt Mitte teilte mit, dass hier eine Zweckentfremdung zwar genehmigt wurde, die Notunterkunft aber rechtlich als Gewerbe gelte und deshalb Ausgleichszahlungen leisten müsse. Der Streitpunkt sei derzeit die Höhe des Betrags. Man wolle „keineswegs auf einer hohen Summe beharren“, so ein Sprecher.
Die Mieterinitiative „Wohnen in der Torstraße 225/227“ fragt sich hingegen, ob das Gesetz über Zweckentfremdungsverbot nur ein „zahnlosen Tiger“ ist. In ihrem Häuserkomplex mit 84 Wohnungen protestieren die Mieter nach eigenen Angaben seit Monaten vergeblich gegen Leerstand. Der Eigentümer Accentro 6 Wohneigentum GmbH vermiete leer stehende Wohnungen seit Monaten nicht mehr weiter.
Die Mieter recherchierten und legten eine Liste von leer stehenden Wohnungen an. Diese meldeten sie beim Bezirksamt – jeweils im Juni und September 2018 sowie im Januar 2019. Danach hörten sie nichts mehr vom Bezirk. Doris Koch, Mieterin in der Torstraße, ärgert, dass sie nicht informiert werde, was mit den Leerstandsmeldungen passiert. Der einzige Weg zur Informationsbeschaffung war für die Initiative die Anfrage eines Bezirksverordneten.
Aus der Antwort im Januar 2019, die der taz vorliegt, geht hervor, dass das Bezirksamt – anstatt bestehenden Leerstand zu ermitteln und zu sanktionieren – den Eigentümer nur gebeten hat, Leerstandsanträge mit entsprechenden Nachweisen einzureichen.
Den Leerstand für Modernisierungsarbeiten genehmigte das Amt dann im November 2018. Für Koch und ihre Mitstreiter nicht nachvollziehbar, weil das Haus zuletzt 2006 modernisiert worden sei. In einer Mitteilung warf die Initiative dem Bezirksamt auch vor, offensichtlich keinerlei eigene Recherchen zum angezeigten Leerstand unternommen zu haben.
Ramona Reiser, zuständige linke Bezirksstadträtin in Mitte, antwortete auf taz-Anfrage, dass Leerstand für circa 35 Wohnungen genehmigt worden sei oder noch genehmigt werde – verbunden mit der Auflage, dass Modernisierungen bis Anfang 2020 beendet sein sollen.
Die Maßnahmen seien „nachvollziehbar“, so Reiser. Gleichzeitig stehe ihr Bezirk Modernisierungsmaßnahmen „grundsätzlich skeptisch gegenüber, da sie stets zu Verdrängung führen“. Laut Reiser geht es um Kachelöfen, die abgebrochen oder Kastendoppelfenster, die erneuert werden müssen. Auf die Frage, weshalb die Mieter nicht informiert wurden, verwies ein Mitarbeiter von Reiser auf den Vertrauensschutz der Hauseigentümer.
Senatorin Lompscher ist zufrieden mit der Umsetzung
Derweil setzt der Eigentümer Accentro die widerständigen Mieter unter Druck: Nachdem die Initiative Ende Februar von 25 leer stehenden Wohnungen im Juni 2018 und 40 Prozent Leerstand geschrieben hatte, klagte das Unternehmen auf Unterlassung. Auf Antrag von Accentro veranlasste das Landgericht Berlin eine Verfügung gegen die Mieterinitiative. Sie darf oben genannte Zahlen nicht mehr verbreiten. Die Berichtigung durch Accentro: Am 1. Juni 2018 standen 17 Wohnungen leer. Inzwischen sind es laut Accentro nur 27 Prozent.
Diese Berichtigung ändert nichts daran, dass bereits Anfang Juni leer stehende Wohnungen erst im November genehmigt wurden. Sie standen also mindestens fünf Monate leer ohne Erlaubnis – obwohl seit der Gesetzesnovelle maximal drei Monate erlaubt sind.
Während Mieterinitiative und soziale Einrichtung über die Praxis klagen, ist Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) zufrieden: „Das Gesetz hat dazu geführt, dass Wohnraum in erheblichem Maß nicht mehr zweckentfremdet wird.“ Über 9.300 Wohnungen habe man dem Wohnungsmarkt zurückgeführt.
Laut einer der taz vorliegenden Liste der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wurden seit der Novelle bis Ende 2018 dem Wohnungsmarkt genau 9.341 zweckentfremdete Wohnungen zurückgeführt, darunter 4.441 Ferienwohnungen; beim Rest handelt es sich um andere Zweckentfremdungen wie etwa spekulativen Leerstand.
Wohnraum für 18.000 Berliner
Mit 1.921 wieder dem Wohnungsmarkt zur Verfügung stehenden Wohnungen führt Friedrichshain-Kreuzberg die Bezirksauflistung an, Schlusslicht ist mit 309 zurückgeführten Wohnungen Marzahn-Hellersdorf. In Mitte sind es 1.047 Wohnungen, davon 714 Ferienwohnungen. Die Summe verhängter Bußgelder beträgt berlinweit 4.156.598 Euro. Laut Senat ist Wohnraum für 18.000 Berliner geschaffen worden.
Der Senat verfolge die Rechtsprechung, Erfahrungen der Bezirke und anderer Städte und überprüfe laufend, „wie das Zweckentfremundungsverbot optimiert werden kann“, so eine Sprecherin der Senatsverwaltung. Mit dem neuen Gesetz habe die Verwaltung berlinweit 60 zusätzliche Stellen „für Kontrolle und Ahndung von Verstößen“ geschaffen. Das sind gerade mal fünf Mitarbeiter pro Bezirk, die Zweckentfremdungen recherchieren und sanktionieren sollen. Was die konkrete Umsetzung des Gesetzes angeht, verweist eine Sprecherin auf die zuständigen Bezirksämter.
Vielleicht ist auch dieses personelle Missverhältnis der Grund dafür, weshalb sie die Erwartungen an das Gesetz zugleich relativierte: „Damit löst man nicht das Wohnungsproblem, aber es ist ein Baustein dazu, der wichtig ist.“
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